Der Finger Gottes und die FeuerflammenPfingsten im Alten und im Neuen Testament

Wie wir Christen an Ostern mit Israel die Befreiung aus der Sklaverei feiern und dazu die Erlösung der Welt durch die Auferstehung Christi, so feiern wir mit den Juden an Pfingsten die Gabe der Tora an Israel am Sinai und die Gabe des Offenbarungsgeistes ins Herz aller Gläubigen.

Feuer
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In dem amerikanischen Filmepos "Die zehn Gebote" von 1956, stellt der Regisseur Cecil B. DeMille die Offenbarung der Zehn Gebote am Berg Sinai so dar, dass Gott aus der Feuersäule die Gebote jeweils zunächst mündlich kundtut und sie dann sofort anschließend mit Feuerflammen, die wie eine Hand aus der Feuersäule herauskommen, in die Steintafeln fräst.  Der Film nimmt damit eine jüdische Interpretation der Sinaiereignisse auf.

Am 14. Nisan, also in der Mitte des ersten Monats hatte Israel das Pascha gefeiert (Ex 12) und war danach aus Ägypten ausgezogen (Ex 14). Zu Beginn des dritten Monats kamen sie am Berg Sinai an (Ex 19,1). Darum gedenkt Israel fünfzig Tage nach dem Paschafest am "Wochenfest" (nach sieben Wochen: Lev 23,15) der Sinai-Ereignisse. Fünfzig Tage nach der Befreiung schenkte Gott seinem Volk die Tora, die Offenbarung seines Willens und konstituiert das eben erworbene Volk als sein Volk. Der Sklaverei Pharaos entkommen, treten sie ein in die Freiheit der Kinder Gottes unter seinem freimachenden Gebot. Pfingsten ist damit der Geburtstag des Volkes Gottes. In der griechischen Bibel heißt das Wochenfest pentēkostē (= der fünfzigste Tag; Tob 2,1; 2 Makk 12,32; Apg 2,1), wovon sich das deutsche "Pfingsten" herleitet. Die Gabe der Tora am Berg Sinai erfolgte unter spektakulären Umständen. Nach Ex 19,16.18 kam Gott unter Blitzen und Donnern im Feuer auf den Berg Sinai herab:

"Am dritten Tag, im Morgengrauen, begann es zu donnern und zu blitzen. Schwere Wolken lagen über dem Berg, und gewaltiger Hörnerschall erklang. Das ganze Volk im Lager begann zu zittern. … Der ganze Sinai war in Rauch gehüllt, denn der Herr war im Feuer auf ihn herabgestiegen."

Die Offenbarung der Zehn Gebote beschreibt Mose später in Dtn 4,36 wie folgt:

"Vom Himmel herab ließ er dich seine donnernde Stimme hören, um dich zu erziehen. Auf der Erde ließ er dich sein großes Feuer sehen, und mitten aus dem Feuer hast du seine Worte gehört."

In Dtn 5,4 wiederholt Mose:

"Von Angesicht zu Angesicht hat der Herr auf dem Berg mitten aus dem Feuer mit euch geredet."

Die Niederschrift der Zehn Worte auf die steinernen Tafeln besorgte nach Ex 31,18 Gott selbst:

"Nachdem der Herr aufgehört hatte, zu Mose auf dem Berg Sinai zu sprechen, übergab er ihm die zwei Tafeln des Bundeszeugnisses, steinerne Tafeln, beschrieben vom Finger Gottes."

Die jüdische Tradition fügt nun den schreibenden "Finger Gottes" und die flammende Gottesgegenwart im Feuer zu einer Gesamtschau zusammen. Eine aramäische kommentierende Übersetzung des Buches Deuteronomium (Targum Neofiti, aus Palästina, 1.-4. Jh. n. Chr.) beschreibt den Vorgang in Dtn 5,6 wie folgt:

"Als das erste Wort hervorging aus dem Munde des Heiligen, gepriesen sei sein Name, war es wie Pfeile und Blitze und Fackeln von Feuer aus seiner Rechten und eine Feuerfackel aus seiner Linken. Sie flog und schwebte durch die Himmelsluft und kehrte zurück und umkreiste Israels Lager und kehrte zurück und gravierte sich ein in die Tafeln des Bundes" (Tg Neofiti Dtn 5,6).

Diese Beschreibung der Beschriftung der Tafeln hat Cecil B. DeMille filmisch umgesetzt: Aus dem "Finger Gottes" gingen Feuerflammen hervor, die die Zehn Gebote in die Steintafeln einfrästen. Gott teilte Israel am Sinai seine Tora durch Feuerflammen mit.

Der Evangelist Lukas kannte natürlich diese Tradition über die Offenbarung der Tora am Pfingstfest. Darum beschreibt er in Apg 2,1-3 die Pfingstereignisse in Jerusalem mit diesen Worten:

"Als der Tag des Pfingstfestes gekommen war, waren alle zusammen am selben Ort. Da kam plötzlich vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein heftiger Sturm daher fährt, und erfüllte das ganze Haus, in dem sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer, die sich verteilten; auf jeden von ihnen ließ sich eine nieder."

Der Heilige Geist schreibt auf die Herzen

Was am Gottesberg Sinai geschehen war, wiederholte sich in Jerusalem auf dem Zion, dem "Berg des Herrn" (Jes 2,3). Petrus deutet in seiner Pfingstpredigt die Ereignisse als Geistausgießung nach Joel 3,1-5, die alle Anwesenden zu mosegleichen Propheten macht. Wiederum kam Gott im Sturm und in Feuerflammen herab. Wiederum schrieb er mit dem Heiligen Geist, der der Finger Gottes ist (Lk 11,20 = Mt 12,28) sein Wort durch eine Flammenschrift auf die Tafeln, dieses Mal aber nicht auf Tafeln von Stein, sondern auf die "Tafel des Herzens" (Spr 3,3), wie Jeremia (31,31-33) angekündigt hatte:

"Siehe, Tage kommen – Spruch des HERRN –, da schließe ich mit dem Haus Israel und dem Haus Juda einen neuen Bund. Er ist nicht wie der Bund, den ich mit ihren Vätern geschlossen habe an dem Tag, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus dem Land Ägypten herauszuführen. Diesen meinen Bund haben sie gebrochen, obwohl ich ihr Gebieter war – Spruch des HERRN. Sondern so wird der Bund sein, den ich nach diesen Tagen mit dem Haus Israel schließe – Spruch des HERRN: Ich lege meine Weisung in ihr Inneres und schreibe sie auf ihr Herz." 

Die in Jerusalem um die Apostel versammelten Juden aus dem Land Israel und der Diaspora (Apg 2,5: "Juden aus allen Völkern") werden jetzt vom Heiligen Geist als dem Finger Gottes beschrieben mit dem Wort Gottes. Der Heilige Geist schreibt es nicht auf "Tafeln aus Stein, sondern  wie auf Tafeln  in Herzen von Fleisch" (2 Kor 3,3). So erfüllte sich auch, was der Prophet Ezechiel (36,26-27) gesagt hatte:

"Ich gebe euch ein neues Herz und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Ich beseitige das Herz von Stein aus eurem Fleisch und gebe euch ein Herz von Fleisch. Ich gebe meinen Geist in euer Inneres und bewirke, dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Rechtsentscheide achtet und sie erfüllt."

So erneuerte Gott an Pfingsten in Jerusalem den Sinaibund mit Israel als "Neuen Bund" (Jer 31,31-33). An jenem Pfingstfest damals in Jerusalem waren nur Juden gegenwärtig, die dreimal jährlich zu den drei Hauptfesten Pascha, Pfingsten, Laubhüttenfest nach Jerusalem hinaufziehen mussten (Ex 23,14ff.). Allerdings kamen diese Juden aus allen Ländern, aus der ganzen jüdischen Diaspora, und versinnbildlichten damit schon, dass dieser Neue Bund mit Israel für alle Völker und Sprachen geöffnet werden sollte (Offb 5,9; 7,9; 14,6). Die Apostel und all die anderen Zeugen dieses Pfingstfestes zogen bald als Missionare durch die damals bekannte Welt. So wurde Pfingsten, Geburtstag des Gottesvolkes am Sinai, auch zum Anfang der Kirche aus den Völkern. Ab Apg 10 treten Angehörige der nichtisraelitischen Völker zu diesem Israel des Neuen, das heißt erneuerten Alten Bundes hinzu. So entsteht die Kirche aus Juden und Heiden.

Nicht nur die Juden feiern an Pfingsten die Gabe der Tora an Israel. Auch die Christen tun dies. So wie Weihnachten eine Mitternachtsmesse und ein Hochamt hat, wie Ostern eine Vigil und ein Hochamt, so hat das Pfingstfest in der katholischen Liturgie eine Pfingstvigil und ein Hochamt (auch wenn die Pfingstvigil selten gefeiert wird). Wie die Osternacht hat auch die Pfingstvigil eine ganze Serie von Lesungen, insgesamt sechs Stück – jeweils mit Psalm und Oration (neues Lektionar Band III, S. 221-230). Die erste Lesung ist Gen 11,1-9 (Stadt- und Turmbau zu Babel mit der Sprachenverwirrung, die Pfingsten aufheben wird; dazu Ps 33,10-15). Die zweite Lesung ist Ex 19,3-8.16-20b (Gottes Ankunft in Feuerflammen für die Gabe der Tora; dazu Dan 3,52-56). Als dritte Lesung folgt Ez 37,1-14 (die Wiederbelebung Israels, dazu Ps 107,2-9), als vierte Joel 3,1-5 (die Ausgießung des Gottesgeistes über alles Fleisch; dazu Ps 104,1-2.24-30). Die fünfte Lesung ist Röm 8,22-27, das Evangelium Joh 7,37-39.

Wie wir Christen an Ostern mit Israel die Befreiung aus der Sklaverei feiern und dazu die Erlösung der Welt durch die Auferstehung Christi, so feiern wir mit den Juden an Pfingsten die Gabe der Tora an Israel am Sinai und die Gabe des Offenbarungsgeistes ins Herz aller Gläubigen, wie die Oration der Pfingstvigil nach der Exodus-Lesung es aussagt:

"Gott, du hast am Berg Sinai in Blitz und Feuer Mose das alte Gesetz gegeben und an eben diesem Tag den Neuen Bund im Feuer des Geistes offenbar gemacht; gib uns stets die Glut jenes Geistes, den du deinen Aposteln in unaussprechlicher Weise eingegossen hast, und lass das erneuerte Israel, aus allen Völkern versammelt, das ewige Gebot deiner Liebe freudig annehmen."

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