Die antiken aramäischen Übersetzungen des Alten Testaments (Targum Neofiti und Jeruschalmi I) schreiben zur Paschanacht Ex 12,42 ("Eine Nacht des Wachens war es für den Herrn"): "Vier Nächte des Wachens gab es". Sie verbinden dann vier biblische Nächte und ihre Mysterien mit der Paschanacht: 1. die Erschaffung der Welt, 2. das Opfer Abrahams, 3. die Herausführung Israels aus Ägypten, 4. die Erlösung Israels und der Welt durch den Messias. Diese vier Mysterien prägen daher auch die christliche Osternacht. Genesis 1 (Erschaffung der Welt), Genesis 22 (Opfer Abrahams), Exodus 14 (Herausführung Israels aus Ägypten) und das Auferstehungsevangelium sind der theologisch notwendige Mindestbestand der Lesungen der Osternacht. Aber was ist an Abrahams Opfer so österlich, dass Juden und Christen dies seit dem Altertum für einen Ostertext halten?
Um die Erzählung von Gen 22 richtig zu verstehen, ist es wichtig, den ersten Satz zur Kenntnis zu nehmen: "Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe." (Gen 22,1). Uns, den Lesern und Hörern der Geschichte, wird gleich mit den Eingangsworten klar gemacht: Das war eine Erprobung! Für Abraham in der Geschichte ist alles blutiger Ernst, aber uns, den Lesern und Hörern, wird von Anfang an gesagt: Gott will nicht im Ernst, dass Abraham Isaak umbringt. Die Bibel stellt das von Anfang an klar, um auszuschließen, dass wir auch nur eine Sekunde daran zweifeln.
Eine lange Vorgeschichte
Was für eine Probe war das? Eine Gehorsamsprobe? Das wäre sehr unmenschlich gewesen. Auch das will Gott nicht. Es war keine Gehorsamsprobe. Es war eine Glaubensprobe! Denn die Geschichte hat eine lange Vorgeschichte:
In Gen 12,2 verspricht Gott dem Abraham, ihn zu einem großen Volk zu machen. Abraham ist 75 Jahre alt, und seine Frau Sara war immer schon unfruchtbar. Sie konnte keine Kinder bekommen (Gen 11,30). Gott versprach also nicht weniger als ein Wunder. Nun hätte man annehmen können, Gott beeilt sich ein wenig mit der Sache, denn die beiden wurden ja immer noch älter. Aber zehn Jahre lang geschah erst einmal gar nichts.
Nach zehn Jahren – Abraham war jetzt 85 Jahre alt – ergriff Sara die Initiative. Damals hatte eine Frau, die keine Kinder bekommen konnte, die Möglichkeit, ihrem Mann eine Magd als "Leihmutter" zuzuführen. Das Kind würde dann rechtlich der Herrin gehören. Sara gab ihrem Mann also die Magd Hagar, um durch sie zu einem Kind zu kommen (Gen 16,2). So wurde Ismael geboren. Aber Gott sagte zu Abraham: Nein, durch Sara werde ich dir einen Sohn schenken (Gen 18,10). 25 Jahre nach der ursprünglichen Verheißung wurde Isaak geboren (Gen 21). Abraham war 100 Jahre alt, Sara 90. Das Wunder war perfekt.
Was hat Abraham gedacht?
Nun hätte die Heilsgeschichte gemächlich ihren Gang gehen und aus Abraham ein großes Volk erstehen lassen können. Da sagte Gott unvermittelt zu Abraham: Opfere mir Isaak! (Gen 22,2). Gott selbst scheint seine Verheißung zu gefährden. Abraham stand in dieser dunklen Stunde vor der Frage, ob er immer noch auf einen Gott bauen sollte, der ihm jetzt so unerträglich widersprüchlich vorkam. Er sagte schweigend: Ja!
Was hat Abraham gedacht, als Gott das sagte? Das Alte Testament sagt dazu nichts, erst das Neue Testament führt das aus. Abraham dachte: Du hast zu mir gesagt, ich will dich durch Isaak zu einem großen Volk machen. Und ich habe dir geglaubt. Jetzt sagst du: Opfere mir Isaak! Kannst du mir sagen, wie du deine erste Verheißung erfüllen willst, wenn ich jetzt deinem zweiten Wort, dem Befehl, folge? Ich werde das jetzt tun. Aber dann kannst du deine Verheißung nur erfüllen, wenn du bereit bist, Isaak von den Toten zu erwecken. Darum heißt es im Hebräerbrief:
Aufgrund des Glaubens hat Abraham den Isaak hingegeben, als er auf die Probe gestellt wurde; er gab den einzigen Sohn dahin, er, der die Verheißungen empfangen hatte und zu dem gesagt worden war: Durch Isaak wirst du Nachkommen haben. Er war überzeugt, dass Gott sogar die Macht hat, von den Toten zu erwecken (Heb 11,17-19).
Das war die bei den Pharisäern verbreitete Deutung des stillen Vorgangs in Gen 22. Dort wird nicht gesagt, was in Abraham vorging. Dort wird nur vorausgesetzt, dass Abraham Gottes Verheißung und den Befehl vereinbaren konnte. Die pharisäische Auslegung sah darin den deutlichen Hinweis, dass Gen 22 Abraham darstellt als einen, der an Gottes Auferweckungsmacht glaubt. So sieht es auch das Neue Testament.
Der Auferstehungsglaube als Zentrum
Die Sadduzäer leugneten die Totenauferstehung (Mt 22,23-34). Für die Pharisäer dagegen ist sie das zentrale Dogma des jüdischen Glaubens. Und ein fanatischer Pharisäer war Paulus:
Da Paulus aber wusste, dass der eine Teil zu den Sadduzäern, der andere zu den Pharisäern gehörte, rief er vor dem Hohen Rat aus: Brüder, ich bin Pharisäer und ein Sohn von Pharisäern; wegen der Hoffnung und wegen der Auferstehung der Toten stehe ich vor Gericht.
Als er das sagte, brach ein Streit zwischen den Pharisäern und den Sadduzäern aus, und die Versammlung spaltete sich. Die Sadduzäer behaupten nämlich, es gebe weder eine Auferstehung noch Engel noch Geister, die Pharisäer dagegen bekennen sich zu all dem (Apg 23,6-8).
Für Paulus ist der Auferstehungsglaube das Zentrum des Christentums:
Wenn es keine Auferstehung der Toten gibt, ist auch Christus nicht auferweckt worden.
Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube. Wir werden dann auch als falsche Zeugen Gottes entlarvt, weil wir im Widerspruch zu Gott das Zeugnis abgelegt haben: Er hat Christus auferweckt. Er hat ihn eben nicht auferweckt, wenn Tote nicht auferweckt werden. Denn wenn Tote nicht auferweckt werden, ist auch Christus nicht auferweckt worden. Wenn aber Christus nicht auferweckt worden ist, dann ist euer Glaube nutzlos, und ihr seid immer noch in euren Sünden (1 Kor 15,13-17).
Osterglaube ist für den Pharisäer Paulus der zentrale Inhalt des jüdischen und damit auch des christlichen Glaubens. Die ganze Theologie des Apostels Paulus beruht darauf, dass Abraham glaubt, Gott könne Leben aus den Toten erwecken. In Röm 4 wendet er es nicht auf die Erprobung aus Gen 22 an, weil er den Glauben Abrahams vor seiner Beschneidung in Gen 17 beweisen will. Dafür wäre Gen 22 zu spät. Also wendet er es auf Abrahams Glauben an, Gott könne ihm, dem Hundertjährigen und seiner Frau, der Neunzigjährigen, den fast schon Scheintoten, noch Nachkommen schenken:
Gegen alle Hoffnung hat er voll Hoffnung geglaubt, dass er der Vater vieler Völker werde, nach dem Wort: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Ohne im Glauben schwach zu werden, bedachte er, der fast Hundertjährige, dass sein Leib und auch Saras Mutterschoß schon erstorben waren. Er zweifelte aber nicht im Unglauben an der Verheißung Gottes, sondern wurde stark im Glauben, indem er Gott die Ehre erwies, fest davon überzeugt, dass Gott die Macht besitzt auch zu tun, was er verheißen hat. Darum wurde es ihm auch als Gerechtigkeit angerechnet (Röm 4,18-22).
Bekehrung als Weg zum Christentum
Abraham war für Paulus der erste ehemalige Götzendiener (Jos 24,2-3; Jdt 5,6-8), den Gott zu einem "Gerechten" machte, einem Verehrer des wahren Gottes. Und Paulus fragt nun: Müssen heute die heidnischen Griechen und Römer, die ich auf meinen Missionsreisen bekehre, zuerst beschnitten werden, Juden werden, um in die Kirche eintreten zu können? Manche Judenchristen meinten das:
Es kamen einige Leute von Judäa herab und lehrten die Brüder: Wenn ihr euch nicht nach dem Brauch des Mose beschneiden lasst, könnt ihr nicht gerettet werden. (Apg 15,1)
Petrus und Paulus widersprechen (Apg 15). Und Paulus beweist im Römerbrief, dass Abraham als Unbeschnittener ins Gottesvolk berufen wurde (als Mitglied Nr. 1). Auf welcher Basis? Nicht auf der Grundlage der Beschneidung (Gen 17), sondern, weil er glaubte, Gott könne Tote erwecken (Gen 15,6). Und so lautet das Argument des Paulus: Diejenigen, die sich in meiner Mission zum Christentum bekehren, müssen nicht zuerst zu Juden werden, müssen sich nicht beschneiden lassen, sondern dürfen als Christen aus den Heidenvölkern in die Kirche eintreten – genauso wie damals Abraham, der als Unbeschnittener der erste Gerechte, der erste Gläubige wurde, weil er glaubte, Gott könne Tote erwecken. Und so beendet Paulus seine Beweisführung mit den Worten:
Doch nicht allein um seinetwillen [Abrahams] steht geschrieben: Es wurde ihm angerechnet, sondern auch um unseretwillen; denen es angerechnet werden soll, die wir an den glauben, der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat. Wegen unserer Verfehlungen wurde er hingegeben, wegen unserer Gerechtmachung wurde er auferweckt (Röm 4,23-25).
Weil schon Abraham wegen seines Auferstehungsglaubens von Gott ins Gottesvolk berufen wurde (als erstes Mitglied) können auch später alle, die Christen werden wollen, in die Kirche eintreten auf der Basis von Osterglauben, ohne Beschneidung. Darum werden Menschen an Ostern in die Kirche hineingetauft. Und darum gehört die Erzählung vom Auferweckungsglauben Abrahams (Gen 22) bei Juden und Christen zu den Mysterien der Osternacht und muss auf jeden Fall gelesen – und erklärt werden.