Angelus Silesius (1624–1677) trat mit 29 Jahren vom Protestantismus zur katholischen Kirche über. Sein Übertritt erregte großes öffentliches Aufsehen. Als einen der Gründe für seine Konversion nannte der Lyriker, Theologe und Arzt "die freventliche Verwerfung der Mystik (theologia mystica), die des Christen höchste Weisheit sei." Im Protestantismus seiner Zeit sah er eine "Abgötterei der Vernunft". Sein Werk "Cherubinischer Wandersmann" ist ein beeindruckendes poetisches Zeugnis mystischer Einsicht und Erfahrung, das den breiten Strom christlicher Mystik in sich aufnimmt und nachfolgenden Generationen zu denken gibt.

Wer war dieser Angelus Silesius? Der renommierte Literaturwissenschaftler und Mystik-Forscher Alois M. Haas hält ihn für den "wohl bedeutendsten mystischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts." Hans Urs von Balthasar erinnert allerdings daran, dass "vielleicht […] über keinen der großen Dichter mehr Stroh gedroschen worden [ist] als über Angelus; vielleicht trifft auf keinen das Wort Pauli besser zu: ‚Der geistige Mensch beurteilt alles, wird aber von niemandem beurteilt‘. Ausgehend von einem völligen Missverstehen, zumal der ersten beiden Bücher, die man als pantheistisch, schwärmerisch, freireligiös zu bezeichnen pflegt, zerbricht man sich den Kopf darüber, wie der Dichter ein-zwei Jahre darauf zur katholischen Kirche übertreten konnte, und beschuldigt ihn, zwei völlig im Streit liegende, unvereinbare Seelen in seiner Brust zu bergen. Man betrauert den Abfall eines hohen Geistes von seinen erhabenen Intuitionen und seinen Sturz in eine geistlose Orthodoxie, schlimmer als die lutherische, der er durch seinen Übertritt entfliehen wollte." 

Johannes Scheffler – Stationen seines Lebens

Johannes Scheffler, so sein ursprünglicher Name, wurde am 25. Dezember 1624 in Breslau (Schlesien) geboren und getauft. Sein Vater war ein polnischer Adliger, der von Krakau wegen seines evangelischen Glaubens nach Breslau übersiedeln musste. Im Jahre 1643 nahm Johannes das Studium der Medizin und des Staatsrechts in Straßburg auf; von 1644 bis 1647 studierte er in Leiden, ab 1647 an der Universität Padua, wo er 1648 im Alter von 24 Jahren in Philosophie und Medizin promoviert wurde. Sein dreijähriger Studienaufenthalt in Leiden in den Niederlanden war für seine geistige Entwicklung von allergrößter Bedeutung, denn hier kam er in Kontakt mit dem Mystiker und Theosophen Abraham von Franckenberg (1593–1652).

Dieser wiederum machte ihn bekannt mit den mystischen Schriften Jakob Böhmes (1575–1624). Der Protestant und Autodidakt Jakob Böhme, Sohn eines Bauern und von Beruf Schuster, hat mit seiner mystisch-theosophischen Weltsicht weit über den deutschen Sprachraum hinaus eine enorme Wirkungsgeschichte entfaltet, die bis in unserer Gegenwart hinein reicht. Schelling und Hegel würdigen den philosophischen Gehalt seiner mystischen Schau. Jakob Böhme geriet allerdings mit der lutherischen Orthodoxie in Konflikt. Der streng orthodox gesinnte Görlitzer Oberpfarrer Gregorius Richter hatte im Jahre 1613 Böhme öffentlich angegriffen und ihm das Gelöbnis abgenötigt, nichts mehr zu schreiben.

Seine Konversion zur katholischen Kirche erregte in der Öffentlichkeit großes Aufsehen und brachte ihm von protestantischer Seite harsche Kritik ein.

Im Jahr 1652 wollte Johannes Scheffler eine Anthologie mit Texten älterer, aus vorreformatorischer Zeit stammender Mystiker herausgeben. Doch der Oelsener Hofprediger Christoph Freytag verweigerte ihm die Druckerlaubnis. Das dürfte der Auslöser für seine Konversion zur katholischen Kirche gewesen sei. Am 12. Juni 1653 bekannte er sich in der Kirche St. Matthias zu Breslau öffentlich zur römisch-katholischen Kirche und nahm den Namen Angelus an, eine Hommage an den spanischen Mystiker Juan de los Ángeles (1536–1609), ein Zeitgenosse der Teresa von Ávila (1515–1582) und des Johannes vom Kreuz (1542–1591). Später fügte er seinem neuen Namen noch seine Herkunft "Silesius", das heißt: der Schlesier hinzu. So ist er uns heute unter dem Namen Angelus Silesius, das heißt: der schlesische Bote (Engel), bekannt.

Seine Konversion zur katholischen Kirche erregte in der Öffentlichkeit großes Aufsehen und brachte ihm von protestantischer Seite harsche Kritik ein. In einer Rechtfertigungsschrift verteidigte er seine Entscheidung und nannte als Grund für seinen Übertritt zur katholischen Kirche die im dogmatischen Protestantismus herrschende "Abgötterei der Vernunft" sowie "die freventliche Verwerfung der Mystik (theologiae mysticae), die der Christen höchste Weisheit sei." Damit ist das entscheidende Motiv seines Lebens und Schaffens benannt. Im Jahre 1661 wurde er für die Diözese Breslau zum Priester geweiht. Nach einer kurzen Zeit als Hofmarschall des Breslauer Fürstbischofs Sebastian von Rostock lebte er die letzten Jahre seines Lebens zurückgezogen als Arzt für Arme und Kranke im Matthiasstift in Breslau. Nach und nach verschenkte er sein gesamtes Vermögen, sorgte für die Ausbildung von Waisenkindern und behandelte als Arzt unentgeltlich mittellose Patienten. Er starb im Alter von 53 Jahren am 9. Juli im Jahre 1677 und wurde in der Matthiaskirche zu Breslau beigesetzt.

Cherubinischer Wandersmann

Bis in unsere Zeit bekannt und viel zitiert sind seine berühmten Epigramme, die er im Jahre 1657 zunächst unter dem einfachen Titel Geistreiche Sinn- und Schlussreime veröffentlichte; im Jahre 1675 erschien eine zweite, erweiterte Auflage unter dem Titel Cherubinischer Wandersmann oder Geistreiche Sinn- und Schlussreime. Formal gesehen handelt es sich im Wesentlichen um eine Sammlung von 1600 zweizeiligen Epigrammen im Alexandriner-Versmaß, die oft in antithetischer Darstellung eine scheinbar paradoxe Behauptung aufstellen.

Von Bedeutung für das Verständnis der Sammlung ist der Vorspruch, den der Autor seinem Werk vorangestellt hat. Er stammt aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an die Korinther: "Wir alle, die wir mit aufgedecktem Angesichte die Herrlichkeit des Herren anschauen, werden verwandelt in dasselbige Bild von Klarheit in Klarheit als vom Geiste des Herren" (2 Kor 3,18). Hier klingt das zentrale Thema christlicher Mystik an: die Lehre von der deificatio, der in Christus möglichen Gottwerdung des Menschen. Eines seiner Epigramme lautet:

Gott wohnt in einem Licht, zu dem die Bahn gebricht.
Wer es nicht selber wird, der sieht ihn ewig nicht.

Wie die Sinnsprüche zu verstehen sind, hat der Autor in der Vorrede dargelegt. Angelus Silesius versteht seine Sammlung als ein geistliches Übungsbuch, das den "gottbegierigen Leser" zur geistigen Anschauung Gottes führen soll. Die Sammlung möge für den Leser ein Gefährte sein, "um durch denselben nochmals die Augen deiner Seele zur göttlichen Beschaulichkeit zu leiten und zu erheben. Glückselig magst du dich schätzen, wenn du dich durch beide lässest einnehmen und noch bei Leibes Leben bald wie ein Seraphin von himmlischer Liebe brennest, bald wie ein Cherubin mit unverwandten Augen Gott anschauest: denn damit wirst du dein ewiges Leben schon in dieser Sterblichkeit, so viel es sein kann, anfangen und deinen Beruf oder Auserwählung zu demselben gewiß machen." Als geistliches Übungsbuch will der Cherubinische Wandersmann den Leser zur geistigen Anschauung Gottes führen, und zwar, soweit möglich, bereits in seinem irdischen Leben ("noch bei Leibes Leben").

Unser Autor ist sich durchaus bewusst, dass es sich dabei um ein heikles Unterfangen handelt. Deshalb warnt er den Leser vor naheliegenden Missverständnissen:

"Weil aber folgende Reime viel seltsame Paradoxa oder widersinnische Reden, wie auch sehr hohe und nicht jedermann bekannte Schlüsse von der geheimen Gottheit, item von Vereinigung mit Gott oder göttlichem Wesen, wie auch von göttlicher Gleichheit und Vergottung oder Gottwerdung und was dergleichen in sich halten, welchen man wegen der kurzen Verfassung leicht einen verdammlichen Sinn oder böse Meinung könnte andichten, also ist vonnöten, dich deshalb zuvor zu erinnern."

Und dann bringt unser Autor einige Klarstellungen, in welchem Sinn seine Sinnsprüche zu verstehen sind. Als erstes geht er auf das Motiv der Vergöttlichung ein.

"Und ist hiermit einmal für allemal zu wissen, dass des Urhebers Meinung nirgends sei, dass die menschliche Seele ihre Geschaffenheit solle oder könne verlieren und durch die Vergottung in Gott oder sein ungeschaffenes Wesen verwandelt werden, welches in alle Ewigkeit nicht sein kann. […] Sondern dieses ist sein Sinn, dass die gewürdigte und heilige Seele zu solcher naher Vereinigung mit Gott und seinem göttlichen Wesen gelange, dass sie mit demselben ganz und gar durchdrungen, überformt, vereinigt und eines sei."

Kurzum: Was Gott von Natur aus ist, kann der Mensch aus Gnade werden, wenn er sich dem Wirken Gottes vom Grunde seiner Seele aus öffnet. Die Vorrede, so schreibt Luise Gnädinger "stellt die Sinnsprüche – thematisch, nicht formal – in die bis auf die Kirchenväter zurückreichende Tradition der mystischen Theologie." Die Gewährsleute sind Augustinus, Dionysius Areopagita, Bernhard von Clairvaux, Meister Eckhart (soweit damals zugänglich), Johannes Tauler, Jan van Ruusbroec, Mechthild von Hackeborn, Gertrud die Große, die anonyme Theologie deutsch, Bonaventura, Johannes vom Kreuz, Jakob Böhme, Abraham von Frankenberg. Ein fast unerschöpfliches Schlüsselwerk zur mystisch-theologischen Literatur fand Scheffler in den im Jahre 1627 bzw. 1640 erschienenen Werken Theologia mystica und Pro theologia mystica clavis des Jesuiten Maximilianus Sandaeus.

"Wird Christus tausendmal zu Bethlehem geborn …"

Zu den bekanntesten Sinnsprüchen des Dichters gehört das Wort von der Gottesgeburt im Menschen (Nr. 61):

"Wird Christus tausendmal zu Betlehem geborn
Und nicht in dir: du bleibst noch ewiglich verlorn."

Der Gedanke einer Geburt oder Zeugung aus Gott, der in den griechisch–römischen und altorientalischen Mythologien verbreitet ist, findet sich in der Bibel nur an wenigen, jedoch prominenten Stellen. Im Prolog des Johannesevangeliums, der gleichsam in nuce das gesamte Evangelium in sich enthält, legt der Evangelist dar, dass das Ziel der Menschwerdung des göttlichen Wortes darin besteht, "aus Gott geboren und auf diese Weise Kinder Gottes zu werden". Das Licht, das in die Welt gekommen ist, stellt jeden Menschen vor die Alternative der Annahme oder der Ablehnung:

"Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf. Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er die Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Willen des Fleisches, nicht aus dem Willen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind" (Joh 1,12f).

Eine Geburt ist ein dramatischer Vorgang. Es geht um Leben und Tod. Wenn das Kind nicht zur rechten Zeit aus dem Schoß der Mutter herauskommt, "verdirbt die Frucht" (Meister Eckhart). Genauso ist es mit dem Eintritt in das Reich Gottes. "Wenn jemand nicht von oben (von neuem) geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht schauen" (Joh 3,3). In einem langen Gespräch bei Nacht erläutert Jesus dem jüdischen Lehrer Nikodemus diesen Grundsatz des Evangeliums. Jedem Menschen steht offensichtlich eine zweite Geburt bevor. Einmal geboren zu werden reicht nicht: "Ihr müsst von oben geboren werden", sagt Jesus. Nikodemus versteht das nicht: "Wie kann ein Mensch, der schon alt ist, geboren werden? Kann er etwa in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und noch einmal geboren werden?" – hält er Jesus entgegen.

In mehreren Anläufen versucht Jesus, dem jüdischen Gelehrten, der noch ganz im Irdischen befangen ist, zu erklären, was es mit der zweiten Geburt auf sich hat. Es geht um eine neue Existenzweise: Alle Menschen sind Geschöpfe Gottes. Jesus ist kein Geschöpf Gottes, sondern Sohn Gottes, "gezeugt, nicht geschaffen". Mit seinem Kommen sind nun alle Menschen eingeladen, von der Gottes-Geschöpflichkeit in die Gotteskindschaft einzutreten; mit Paulus gesprochen: die Sohnschaft zu empfangen, aus der heraus wir Gott als "Abba, Vater" anrufen können (Röm 8,12–17). "Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau, […] damit wir die Sohnschaft erlangen", schreibt Paulus (Gal 4,5). Was Christus von Natur aus ist: Sohn Gottes, das können und sollen alle Menschen werden "aus Gnaden", wie Angelus Silesius sagt. Bei der Sendung seines Sohnes habe Gott die Absicht verfolgt, so lesen wir im Kommentar zum Prolog des Johannesevangeliums bei Meister Eckhart, dass "der Mensch durch die Gnade der Kindschaft das sei, was jener [Christus] von Natur ist."

Die drei Geburten Christi

Die Gottesgeburt in der Seele wurde zu einem Programmwort der rheinischen Mystik. In einer Weihnachtspredigt, die von Meister Eckhart oder von Johannes Tauler stammt, werden die drei Messen zu Weihnachten mit den drei Geburten Christi verglichen: der Geburt des Sohnes aus dem Vater "vor aller Zeit", der Geburt Christi zu Betlehem in der Zeit und der dritten Geburt, die darin "besteht, dass Gott alle Tage und zu jeglicher Stunde in wahrer und geistiger Weise durch Gnade und aus Liebe in einer guten Seele geboren wird." Erst mit der dritten Geburt Christi, der Gottesgeburt in einem jeden Menschen, gelangt die Menschwerdung Gottes an ihr Ziel.

Und wie soll das gehen? Dadurch, dass wir Gott in der eigenen Seele eine Stätte bereiten. Er will kommen, doch er kann es nicht, da wir keinen Platz für ihn haben. So muss der Mensch "aller Dinge ledig werden".

"Soll Gott sprechen, so musst du schweigen, soll Gott eingehen, so müssen alle Dinge ihm den Platz räumen. […] Denn das Vielerlei der Bilder hindert diese Geburt in dir. […] Du sollst dieses tiefe Schweigen oft und oft in dir haben und es dir zu einer Gewohnheit werden lassen, so dass es durch Gewohnheit ein fester Besitz in dir werde; was nämlich einem geübten Menschen wie nichts erscheint, dünkt einen ungeübten ganz unmöglich: denn Gewohnheit erzeugt Geschicklichkeit."

Die Weihnachtspredigt schließt mit den Worten: "Dass wir nun alle dieser edlen Geburt eine Stätte in uns bereiten, so dass wir wahre geistliche Mütter werden, dazu helfe uns Gott."

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