Die Aufmerksamkeit für Dürren, Waldbrände, Überschwemmungen und dergleichen ist in den letzten Jahrzehnten sehr gestiegen. Einer der Gründe für deren Häufigkeit ist der Klimawandel. Neben gesellschaftsethischen Fragen wirft der Klimawandel auch Fragen des individuellen Lebensstils auf. Ein Weniger könnte oft ein Mehr an Lebensqualität bedeuten.

"Weniger ist mehr" ist ein geflügeltes Wort, das im Englischen als less is more gebräuchlich ist. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Widerspruch zu handeln: Wo weniger ist, kann nicht in derselben Hinsicht mehr gegeben sein. Zu klären ist demnach, worauf sich Weniger und Mehr beziehen. Mit Blick auf unseren Lebensstil lässt sich argumentieren, dass ein weniger an Reisen, Konsum usw. zu einem Mehr an "gutem Leben" führen kann. Es braucht Verzicht. Nicht selten fällt das schwer. Allerdings muss Reduktion nicht lust- oder lebensfeindlich sein. Im Gegenteil, zu den Erfahrungen der meisten Menschen gehört auch die Übersättigung. Oft gibt es ein Zuviel, das dem Leben schadet. Der Blick auf den ökologischen Fußabdruck ist deshalb nicht der einzige Grund, weshalb wir reduzieren sollten. Es lohnt zu fragen, wann eine Reduktion zu einem "Mehr" an Leben führen könnte.

Beim Lebensstil häng sehr vieles von der individuellen Vorstellung vom "guten Leben" ab. Die antiken Philosophen waren sich hier weitestgehend einig: Das gute Leben besteht in einem exzellenten, in einem tugendhaften Leben. Die Gründe, die Autoren wie Seneca oder Aristoteles nennen, sind eigentlich verständlich: Irdische Güter, Reichtum, Ehre und Sinnenlust sind allesamt vergänglich. Ein Leben der Tugenden (wie z.B. in Klugheit, Gerechtigkeit und Maß) ist von äußeren Einflüssen weitestgehend unabhängig. Darüber hinaus bringt es weder Reue noch Überdruss mit sich: Es gibt ein Zuviel an süßen Speisen, ein Zuviel an echter, recht verstandener Klugheit gibt es nicht. Deshalb hielten Philosophen wie die Stoiker das tugendhafte Leben für das höchste Gut des Menschen. "In der Tugend liegt die wahre Glückseligkeit," so Seneca. In der Tugend finden wir innere Seelenruhe, einen Frieden, den nichts und niemand stören kann. Das stoische Ideal eines von äußeren Einflüssen unabhängigen inneren Friedens hat die Geistesgeschichte des Abendlandes sehr beeinflusst. Auch heute scheint es vielen attraktiv.

Auf der Suche nach dem guten Leben

Die Stoa hilft uns, die Bedeutung der äußeren Güter zu relativieren. In einer Zeit, in der die äußeren Güter das Höchste zu sein scheinen, ist das äußerst wertvoll. Wenn es um eine vernünftige Vorstellung vom guten Leben geht, sollten wir meines Erachtens allerdings realistischer vorangehen. Für das Leben in unseren modernen westlichen Gesellschaften brauchen wir eine halbwegs realistische Vision des guten Lebens. In stoischer Radikalität könnte das Weniger-ist-Mehr sonst durchaus zynisch werden. Das persiflieren äußerst amüsant die Macher des letzten Asterix-Bandes: Dort reisen die gallischen Gefährten auf einem Wagen nach Lutetia. Eine Truppe römischer Soldaten will den Wagen beschlagnahmen. Ein Soldat kommentiert salopp: "Macht euch nichts draus: 'Alles, was Du besitzt, besitzt irgendwann Dich.'" Die Enteignung wird den Galliern mit stoischem Gedankengut als glückliche Fügung attraktiv gemacht. Hier wird deutlich: Im Mund der Mächtigen könnte das Weniger-ist-Mehr sehr zynisch werden. Weniger Geld, weniger Nahrungsmittel, weniger Gesundheitsversorgung, das würde für die Bedürftigen kaum zu einem Mehr an gutem Leben führen.

Im Sinne des christlichen Evangeliums wäre die höchste Tugend dann erreicht, wenn unser Tun von den inneren Haltungen von Glaube, Hoffnung und Liebe getragen wird und sich dadurch Sinnfülle und Dankbarkeit einstellen.

Aristoteles ist bodenständiger als die Stoiker. Ihm zufolge kann das tugendhaft vernünftige Leben sowohl im politischen oder gesellschaftlichen Engagement als auch in der Philosophie oder der Kontemplation verwirklicht werden. Gemeinschaftliches Leben und intellektuelle Betätigung bieten die Möglichkeit, die menschlichen Potenziale zu entfalten und so eine Arete, eine Bestheit bzw. die Tugend zu erreichen. Auch wenn das deutsche Wort "Tugend" heute negative Konnotationen hat, geht es bei Aristoteles und vielen, die ihm folgen, immer um einen Gewinn an gutem Leben. Ihnen geht es um das beste Seinkönnen, um die Entfaltung eines Menschen. Zur Tugend gehört, dass man beim Tun des Guten (z.B. des Gerechten oder Maßvollen) Leichtigkeit und Lust empfindet. Aristoteles scheinen äußere und innere Güter nicht bedeutungslos. Allerdings liegt der Sinn der äußeren Besitztümer nicht darin, dass wir durch sie glücklich würden. Besitz und Einkommen sind bis zu einem gewissen Grad nur eine der Voraussetzungen für das gute Leben (vgl. Nikom. Ethik I, 8).

Wann ist weniger "mehr" im Leben? Mit Aristoteles wäre ein Weniger dann "mehr", wenn durch den Verzicht ein Mehr an vernünftig-gutem Leben und eine dementsprechende Selbstverwirklichung ermöglicht wird. Wo ein Übermaß an Besitz oder Ambitionen dazu führt, dass wir die innere Freiheit und die Kraft zum Guten verlieren; dort, wo die Leichtigkeit eines vernünftigen und engagierten Lebens schwindet, dort sollten wir Verzicht üben. Das Weniger ist angezeigt, wenn so die Tugend des Maßes verwirklicht werden kann und wir das ungesunde Übermaß überwinden. Ein christlicher Aristotelismus würde die natürlichen Tugenden, zu denen Besonnenheit und Maß gehören, um die göttlichen Tugenden von Glaube, Hoffnung und Liebe ergänzen. Aus christlicher Sicht ist Aristoteles durchaus zuzustimmen: Das Glück liegt nicht im Besitz, sondern in einer besonderen Form von Tätigkeit. Im Sinne des christlichen Evangeliums wäre die höchste Tugend dann erreicht, wenn unser Tun von den inneren Haltungen von Glaube, Hoffnung und Liebe getragen wird und sich dadurch Sinnfülle und Dankbarkeit einstellen.

Für moralisch richtiges Leben zu gutem Leben?

Der Eudaimonismus des Aristoteles blieb nicht ohne Widerspruch. Seit Kant betonen viele, dass Glückswürdigkeit und Glück allzu oft auseinanderfallen. Der nüchterne Blick in unsre Welt kann das sehr schnell bestätigen: In manchen Kontexten führt das moralisch richtige Leben keineswegs zum guten Leben. Mit Otfried Höffe könnte man deshalb einschränken: In der Regel, meistens macht die Tugend glücklich. Auch wer moralisch richtig lebt, kann von einer Krankheit oder einem Krieg überrascht oder als Geisel entführt werden. Deshalb scheint auch das Glück im Sinne des glücklichen oder unglücklichen Zufalls eine gewisse Rolle zu spielen. Das Auseinanderfallen von Moral und Glück ist irritierend und nicht selten ein Skandal. Gerade in ökologischen Kontexten ist das augenfällig: Die Folgen des Klimawandels treffen nicht selten jene besonders stark, die zu dieser Krise wenig bis gar nichts beigetragen haben. Was haben die Bewohnerinnen und Bewohner der Fidschi-Inseln zum weltweiten CO₂-Ausstoß beigesteuert?

Für ein Leben, das nur glückliche Momente sammelt, mag es genügen, viel zu reisen und zu konsumieren. Für die Güte eines Lebens, für die Entfaltung der charakterlichen Potentiale, die uns wirklich gut leben lassen, reicht dies nicht. Hier müsste es um das Sein des Menschen gehen

Die Herausforderung durch den Klimawandel liegt darin, dass wir stärker reduzieren müssen, als es für die individuelle Maßhaltung vonnöten wäre. Wir müssen nicht nur dort reduzieren, wo uns ein Zuviel an Konsum oder Arbeit überfordert. Auch angesichts der planetaren Grenzen der Erde ist Reduktion bitter nötig. Die Ressourcen der Erde sind begrenzt. Wir sollten deshalb die hedonistische Vorstellungen vom Glück hinterfragen, die unsere Gesellschaften seit langem prägen. Aristoteles hat das Gute nicht rein subjektiv verstanden. Für die aristotelisch inspirierte Tradition der Ethik gilt: Was wirklich gut ist, ist für alle gut. Für ein Leben, das nur glückliche Momente sammelt, mag es genügen, viel zu reisen und zu konsumieren. Für die Güte eines Lebens, für die Entfaltung der charakterlichen Potentiale, die uns wirklich gut leben lassen, reicht dies nicht. Hier müsste es um das Sein des Menschen gehen.

Die These, dass das im Sinne der Tugend "gute Leben" zum Schutz des Klimas beiträgt, kann sehr schnell Widerspruch erregen. Zu nahe liegt das materialistische Missverständnis des "guten Lebens" heute. Ein Beispiel kann helfen, dies zu verdeutlichen. Nach einem Vortrag über die Tugenden meldet sich ein kritischer Zuhörer: Das Klima liege ihm am Herzen. Deshalb fahre er seit einigen Jahren mit dem Rad zur Arbeit. Auch seine Kinder sollen eine intakte Umwelt erleben können. Die Distanz betrage 10 km. Bei Wind und Wetter sei das kein Vergnügen. Der Bus sei bequemer. Allerdings brauche der Bus eine halbe Stunde länger als die Fahrt mit Auto. Die Konklusion des Kritikers ist in gewisser Hinsicht nur verständlich: Wer im moralischen Sinne "gut" agieren und das Klima schonen möchte, scheint im Sinne der Lebensqualität weniger gut dran zu sein als manch träger Nachbar.

Kein gutes Leben ohne Askese

Ist die skizzierte These zum guten Leben damit widerlegt? Sollten Philosophie und Christentum klein beigeben und den Begriff des guten Lebens dem Angenehmen (inkl. der bequemen Fahrt im vorgeheizten Auto) angleichen? Besser und der antiken Philosophie und dem Christentum treuer wäre es, die Gleichsetzung von gutem Leben und Bequemlichkeit zu hinterfragen. Nicht jeder Verzicht trägt zum guten Leben bei. Allerdings ist das wirklich gute Leben ohne Askese nicht zu haben. Etwas poetisch könnte man christlicherseits betonen: "Alles Glück dieser Erde liegt auf dem Rücken der Pferde" (Friedrich von Bodenstedt). Wer primär Annehmlichkeiten suchen und jeden Verzicht vermeiden wollte, dürfte auf Dauer nicht zum guten Leben finden. Das Glück, das im Ganzen gute Leben kommt "auf dem Rücken" eines anderen Ziel-Strebens. Christlich gedeutet: auf dem Rücken der Hingabe für andere. Wer zugunsten der Zukunft seiner Kinder öfter mit dem Rad zur Arbeit fährt, könnte genau diese Hingabe gewählt haben. Er lebt unter Umständen nicht nur gesünder, sondern auch besser als andere. Zur Tugend gehört es freilich, dass das äußerlich Gute zum Ausdruck innerer Güte geworden ist. Selbst auferlegte Zwänge sind noch keine Tugend.

Es gibt auch ein Zuviel an Radikalität, das letztlich schadet. Wir sollten das Mehr an Lebensqualität suchen, das sich nicht selten durch Verzicht einstellt. 

Wann ist weniger wirklich "mehr"? Wann ist ein Verzicht mehr als Selbstüberwindung? Wann führt ein Verzicht zu einem Wachstum an innerer Güte und Tugenden? Es ist klar, dass es Unterscheidung braucht. Nicht jeder Verzicht lässt maßvoll leben. Eine große Hilfe für die Unterscheidung bietet die christliche Spiritualität. Gemäß der von Ignatius von Loyola geprägten ignatianischen Spiritualität wäre es hilfreich, neben der Achtsamkeit für die Bedürfnisse der anderen (und der Umwelt) auch eine Achtsamkeit für das eigene Gefühlsleben und die eigenen Bedürfnisse zu kultivieren. Es lohnt menschlich wie geistlich, das Leben nicht einfach nur nach Regeln zu gestalten (Radfahren statt Autonutzen), sondern nach der "Frucht" des gewählten Tuns zu fragen und aus der Erfahrung von innerer Stärkung (oder Trost) und Frustration (und Trostlosigkeit) zu lernen.

Nach christlicher Tradition dürfte ein einfacher Lebensstil und die einfachen Mittel oft den Vorzug verdienen. Jesus predigte nicht ohne Grund: "Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich." (Mt 5,3). Allerdings dürfte ein radikaler Absolutismus (gar kein Auto, nur mehr vegan und regional?) nicht zum Ziel führen, sondern eher kippen. Es gibt auch ein Zuviel an Radikalität, das letztlich schadet. Wir sollten das Mehr an Lebensqualität suchen, das sich nicht selten durch Verzicht einstellt. Ignatius von Loyola würde dann von einem "magis" (lat.: mehr) sprechen. Die dringend nötige Diskussion über unseren ökologischen Fußabdruck und Reduktion könnte von den Einsichten der philosophischen Tradition und von einer praktischen Einübung in die Spiritualität sehr stark profitieren. Gelebte Spiritualität könnte helfen zu erkennen, wann und wie ein möglicher Verzicht zu einem Mehr an Glaube und Liebe führt.

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