Der Pfarrer und Autor Heinz Zahrnt erinnert sich in seiner Autobiografie an einen Gottesdienst, den er am Himmelfahrtstag 1945 – wenige Tage nach dem Tod Hitlers und der Kapitulation Deutschlands – gefeiert hat. Lesungstext war Jesaja 14, das Triumphlied über den Sturz des Königs von Babel:
"Wie wurdest Du zu Boden geschlagen, der Du alle Völker niederschlugst! Du aber dachtest in deinem Herzen: Ich will in den Himmel steigen und meinen Thron über die Sterne Gottes erhöhen (…) Ich will auffahren über die hohen Wolken und gleich sein dem Allerhöchsten. Ja, hinunter zu den Toten fuhrst Du, zur tiefsten Grube! Ist das der Mann, der die Welt zittern und die Königreiche beben machte, der den Erdkreis zur Wüste machte und seine Städte zerstörte und seine Gefangenen nicht nach Hause entließ? (…) Du hast dein Land verderbt und dein Volk erschlagen (…)."
"Der Eindruck dieses Liedes", notiert Zahrnt, war auf die Zuhörer "so stark, dass ich den Gottesdienst gleich (…) hätte beschließen können (…). Viele hatten gar nicht begriffen, dass sie einen zweieinhalb Jahrtausende alten Text gehört hatten, der von einem altorientalischen Großkönig handelt; sie meinten, es sei ein zeitgenössisches Spottgedicht auf Adolf Hitler gewesen".
Kein luftleerer Raum in der Heiligen Schrift
Es gibt Texte in der Bibel, die ohne alles historische oder exegetische Vorwissen unmittelbar verständlich sind. Das hat damit zu tun, dass Gottes Geist ihre Entstehung vorangetrieben hat, jener Geist, der jedes Verstehen ermöglicht und allem Beten zuvorkommt (vgl. Röm 8,26). Zwar ist die Bibel gleichsam das Licht des Glaubens, das in der Welt leuchtet, aber die Gegenwart liefert den Sauerstoff, der das Licht zum Brennen bringt. Darum gibt es kein Bibellesen im luftleeren Raum, kein steriles Bibelteilen. Allein durch die aufmerksame, lebensnahe und lebensbejahende fortwährende Erschließung der biblischen Überlieferung im Wechsel der Zeiten kann in der jeweiligen Gegenwart der Geist aus dem Buchstaben wieder hervorgehen, der in der Vergangenheit in ihn eingegangen ist.
Die Begegnung mit der Bibel bedeutet die Begegnung von Leben mit Leben. Der Link funktioniert, wo ein Mensch, angerührt durch die in den biblischen Zeugnissen gespeicherte Gottes- und Lebenserfahrung, eigene, neue Erfahrungen mit seiner Welt und seinem Leben macht.
Es geht darum beim Hören auf Gottes Wort nicht um die immer selbe Wiederholung des ewig Gestrigen, es geht um eine neue Vergegenwärtigung und auch um Aktualisierung. Für einen guten Umgang mit der Heiligen Schrift findet sich in ihr selbst ein eingängiges Bild, dass nur auf den ersten Blick skurril erscheint: Der Prophet Ezechiel muss die ihm von Gott übergebenen Schriftrolle verschlingen, um ihren Inhalt verstehen und danach weitersagen zu können (vgl. Ex 3,1ff.). Gottes Wort will vom Kopf ins Herz und dann gewissermaßen in die Füße sacken.
Die Begegnung mit der Bibel bedeutet die Begegnung von Leben mit Leben. Der Link funktioniert, wo ein Mensch, angerührt durch die in den biblischen Zeugnissen gespeicherte Gottes- und Lebenserfahrung, eigene, neue Erfahrungen mit seiner Welt und seinem Leben macht. Die Sprache der Bibel lädt ein zum Nach-, Neu- und Weitererzählen. Ihre Bildsprache ist der Poesie oft näher als der Nüchternheit von Packungsbeilagen oder Gebrauchsanweisung. Umso mehr müsste es darum gehen, wieder einzuüben, sich in die Welt der Bibel hineinzulesen und hineinzuhören, sich dem Klang und Rhythmus ihrer Worte und Gedanken zu überlassen, ohne gleich klären zu wollen, was davon in einem engen historischen, letztlich immanenten Sinn eruierbar ist.
Die Vielfalt in der Bibel entdecken
Wer zur Bibel greift und darin liest, dem begegnet eine reiche Fülle an Formen, aber mehr noch an Inhalten und Themen. Auch an Fragen, die Menschen stellen, und an Antworten, die Menschen gegeben werden. Das mag auf den ersten Blick irritieren. Tatsächlich ist es ein Schatz, den es zu heben gilt. Die Entdeckung der Vielfalt in der Bibel ist eine Errungenschaft der historisch-kritischen Exegese. Sie führt die Weite und Breite der biblischen Schriften vor Augen. Es gibt Stimmen, die der Bibelwissenschaft Zerstörungswut vorwerfen. Sie verliere sich in Detailfragen und riskiere, das Heilige zu zerstören. Die Exegese ist sicher gut beraten, solche Anfragen selbstkritisch zu prüfen und Korrekturen vorzunehmen, wo es gilt, Vereinseitigungen und Engführungen zu überwinden. Umgekehrt darf sie sich auf ihre Stärken berufen. Gerade dann, wenn man die Bibel ohne Scheuklappen betrachtet und sie also selbst zu Wort kommen lässt in all ihrer Vielschichtigkeit und Weite, kann einem auch ihre Tiefe aufgehen.
Die Bibel transportiert nicht einfach nur irgendeine Idee oder irgendwelche Botschaften. Sie ist, wie es der Sprachgebrauch der Liturgie in ungetrübter Klarheit festhält, "Wort des lebendigen Gottes". Sie ist Gottes Wort, Offenbarungsgeschehen, freilich vermittelt durch das Wort von Menschen. Anders kann es nicht sein. Neuzeitlichem Denken erscheint vieles von dem, was es in der Bibel zu lesen gibt, sperrig und unvorstellbar. Johannes Chrysostomos (349-407 n. Chr.) warnt darum alle Glaubenden vor der Rauheit des Herzens und legt einen Finger in die Wunde des Zeitgeistes. Er schreibt mit Blick auf die Erzählungen der Bibel:
"Darum, ja, darum sind wir so lau geworden: Man liest die Schriften nicht mehr vollständig, sondern behauptet, gewisse Teile seien einleuchtender und nützlicher, und man verliert kein Wort mehr über die anderen. So haben sich Irrlehren eingeschlichen. Man wollte nicht mehr das Ganze lesen, sondern erklärte gewisse Stellen für wesentlich, andere für nebensächlich".
Es bleibt Sperriges, Befremdliches
Chrysostomos hat wichtiges erkannt. Man wird das Ungereimte der Bibel nicht los, indem man versucht, aus Gottes Wort das Wort von Menschen herauszudestillieren (und umgekehrt). Es funktioniert einfach nicht, alles Sperrige und Befremdliche auszublenden, um durch Subtraktion eine zeitgeistig leichter verdauliche Heilige Schrift übrig zu behalten. Wer wollte Gott auf das Maß des Vorstellbaren reduzieren, wer solche Maßstäbe setzen?
Am Ende des Bibellesens steht das Gebet, denn das Gebet ist die adäquate Form, auf den Anruf Gottes, der im Wort der Schrift ergeht, zu antworten. Wo die Bibellektüre bei der sicher notwendigen historischen Analyse stehen bliebe, liefe sie Gefahr, in intellektuellen Bezügen zu ersticken, ohne ihr eigentliches Potenzial entfaltet zu haben. Wo sie umgekehrt die Chancen historischer Vergewisserung nutzt, um den persönlichen Glauben zu stärken, wird sie zum Geheimtipp. Ambrosius von Mailand bringt es einmal auf den Punkt:
"Warum sich nicht an Christus wenden, mit Christus sprechen, auf Christus hören? Zu ihm sprichst du, wenn du betest, Ihm hörst Du zu, wenn du die Heilige Schrift liest".