Die wiedereröffnete Kathedrale des Erzbistums Berlin hat für Kritik gesorgt. Erzbischof Heiner Koch äußert Verständnis, betont aber die Chancen der Neugestaltung. Ein Besuch vor Ort zeigt, welche Schwierigkeiten sich aus der radikalen Einseitigkeit des Entwurfs ergeben.

Die Debatte um die neugestaltete Berliner Hedwigskathedrale, die vor gut sechs Wochen wiedereröffnet wurde, ist etwas abgeklungen. Die Resonanz sei "weit überwiegend positiv ausgefallen", hieß es auf dem Portal katholisch.de. Dennoch hat es an pointierter, scharfer Kritik nicht gefehlt. Die Kathedrale erinnere in ihrer "hochästhetisierenden Kargheit" an den "Zen-Kult von Wohlstandsbürgern um 2000" spottete Nikolaus Bernau in der "taz". Sie sei Ausdruck einer "Idee von Katholizismus, der sich von seiner Geschichte befreien will", so der Architekturkritiker. In die gleiche Kerbe schlug der Schriftsteller Paul-Henri Campbell: "In der Berliner Hedwigskathedrale präsentiert sich die katholische Kirche ganz in Weiß – unhistorisch, unbestimmt und unangreifbar." 

Blumenschmuck am Tabernakel in der Berliner Hedwigskathedrale
Blumenschmuck am Tabernakel Benjamin Leven

Neben der beinahe völligen Bild- und Schmucklosigkeit ist die kreisrunde Anordnung der Bestuhlung rund um einen halbkugelförmigen Altar das zweite markante Merkmal der Neugestaltung. Im Monumental-Stuhlkreis sind einige gleicher als andere: Für amüsierte Reaktionen im Netz sorgten Fotos eines ausgedruckten Zettels auf dem Bischofsstuhl, der anders als die übrigen Sitze nicht mit dunkelgrauem, sondern mit rotem Stoff bezogen ist: "Reserviert für den Erzbischof. Bitte setzen Sie sich nicht auf die Kathedra." Man fragt sich: warum denn eigentlich nicht?

Statik und Dynamik

Dass es herausfordernd ist, in einem solchen Raum Liturgie zu feiern, gibt auch Erzbischof Heiner Koch zu: "Wir sind es in der Tat nicht gewohnt, uns in runden Kirchen zu bewegen; das ist für uns alle eine neue Lernerfahrung. Wir werden deshalb weiterhin alle an den Gottesdiensten Beteiligten schulen, mit ihnen Abläufe einüben und reflektieren", sagt er im Interview mit katholisch.de. Für den Berliner Oberhirten überwiegen aber die Vorteile: "Wir sind in Sankt Hedwig nun deutlich flexibler, was die gottesdienstlichen Abläufe angeht, und wir sind viel näher an den Menschen dran. Ich merke, dass ich noch viel bewusster Eucharistie feiere."

Beim Besuch eines Sonntagsgottesdienstes in der Adventszeit stellt sich der Eindruck ein, dass bei den "Abläufen" in der Tat noch einiges unklar ist. Historischen Kirchenräumen sind meist bestimmte Dynamiken eingeschrieben: Schwellen und Begrenzungen, Öffnungen und Wege legen Choreografien nahe. Nichts davon in Sankt Hedwig: Die von der Kugel- und Kreis-Geometrie bestimmte Raumgestaltung ist vollkommen statisch.

Die Messe beginnt: Die meterhohe, weiße Tür auf der Seite gegenüber den Eingängen öffnet sich und der Priester zieht zusammen mit einer Sakristanin ein; die beiden bewegen sich auf unterschiedlichen Schlangenlinien. Plötzlich dreht sich der Priester um und macht eine Kniebeuge in Richtung des Tabernakels, der links neben der Eingangstür positioniert ist, bevor er seinen Weg zum Altar fortsetzt.

Akustische und visuelle Probleme

Bei der Predigt am Ambo, der sich auf halbem Weg zwischen den Sitzen für die liturgischen Dienste und dem Altar befindet, wird der Priester in eine eigentümliche Drehbewegung versetzt, weil er versucht, sich beim Sprechen allen Segmenten des Kreises zuzuwenden. Die Akustik ist schwierig. Die neugestaltete Kuppel erzeugt einen sonderbar klappernden Hall. Ohne technische Stimmverstärkung könnte sich hier niemand verständlich machen. Von meinem Platz aus höre ich sowohl die natürliche Stimme des Priesters als auch seine über unsichtbare Lautsprecher verstärkte Stimme, irritierenderweise leicht versetzt.

Bei der Gabenbereitung entscheidet der Zelebrant anscheinend spontan, wo genau er sich an den halbkugelförmigen Altar stellt. Auf ein Zeichen des Priesters hin verändert die Sakristanin die Position des Altartuchs, das die Form eines Kreissegments hat. Er zelebriert nun in etwa in Richtung des Vortragekreuzes, das von den Eingängen aus gesehen links hinter dem Altar im Boden steckt.

Der Priester versucht damit offenbar, entgegen der Logik des Raums, eine Art Orientierung herzustellen. Das entspricht einem natürlichen Bedürfnis, denn der Mensch ist so beschaffen, dass er stets in eine bestimmte Richtung blickt und spricht. Daher auch die Drehbewegungen bei der Predigt. Wohin wendet er sich also, wenn er im Namen der Versammelten seine Gebete an Gott richten will? Vertikal nach oben, in Richtung der Kuppelöffnung – sozusagen symbolisch zu Gott im Himmel – kann er ja nicht sprechen, weil sein Mund nicht oben auf dem Kopf sitzt.

Die Plätze in der ersten Sitzreihe haben keine Kniebänke. In der ersten Reihe stehen darum zahlreiche Anwesende, während in den hinteren Reihen viele Menschen knien – und gar nichts mehr sehen.

Von den Gesten des Priesters am Altar, die in der katholischen Liturgie ja eine gewisse Bedeutung haben, sieht man kaum etwas, wenn man sich in einer der hinteren Reihen befindet. Denn der Altar steht nicht, wie sonst in Kirchen üblich, erhöht, sondern befindet sich auf der gleichen Höhe wie die Plätze der Gläubigen. Beim Hochgebet wird der Eindruck dann noch ungünstiger. Denn: Die Plätze in der ersten Sitzreihe haben keine Kniebänke. In der ersten Reihe stehen darum zahlreiche Anwesende, während in den hinteren Reihen viele Menschen knien – und gar nichts mehr sehen.

Dort, wo in anderen Kontexten ein Publikum im Kreis angeordnet ist – in Berlin zum Beispiel im frühklassizistischen Tieranatomischen Theater mit dem Seziertisch in der Mitte – sind die Plätze nach außen hin ansteigend angeordnet, sodass das, was im Zentrum geschieht, für alle sichtbar ist.

Vor dem Kommunionempfang erklärt der Priester, die Gläubigen mögen sich am Rande eines am Boden markierten Kreises um den Altar aufstellen. Ob das jemals ohne vorherige Erklärung funktionieren wird?

Gemeinschaft und Individuum

Nach der Messe stehen die Anwesenden in Grüppchen zusammen, gehen kreuz und quer umher, schauen sich um. Immerhin, an der Marienfigur kann man Kerzen entzünden, doch davor ist nur wenig Platz zur andächtigen Einkehr. Auch die Geräuschkulisse hält vom stillen Gebet ab.

Im Interview geht Erzbischof Koch auch auf den Einwand ein, "dass die kreisrunde Anordnung der Sitzreihen mit Blick auf die eigene Andacht nachteilig sein könne, weil man sich ständig beobachtet fühle und somit nur schwer zur Ruhe komme". Koch kann das "nachvollziehen". Das "Gemeinschaftsgefühl" sei "viel intensiver als früher". Er zeigt sich überzeugt, "dass sich die Menschen mit der Zeit gut daran gewöhnen und es dann auch wertschätzen werden".

Auch vor Beginn der Messe fallen mir Andacht und Einkehr schwer. Nicht so sehr, weil ich mich beobachtet fühle, sondern weil ich den Drang verspüre, zu beobachten: Überall sind Menschen.

Das Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum in der Liturgie wird seit Langem diskutiert. In der "Liturgischen Bewegung", die Anfang des 20. Jahrhunderts den liturgischen Reformen der Nachkriegszeit den Weg bereitete, stand der Gemeinschaftsgedanke – zeittypisch – stark im Vordergrund. Romano Guardini sah das differenzierter. 1918 schrieb er in "Vom Geist der Liturgie": "Die Liturgie hat dem Menschen gegeben, dass er in ihr sein Innenleben nach seiner ganzen Fülle und Tiefe aussprechen kann und doch sein Geheimnis geborgen weiß: Secretum meum mihi. Er kann sich ergießen, kann sich ausdrücken, und fühlt doch nichts in die Öffentlichkeit gezogen, was verborgen bleiben muss."

Horror vacui

Auch vor Beginn der Messe fallen mir Andacht und Einkehr schwer. Nicht so sehr, weil ich mich beobachtet fühle, sondern weil ich den Drang verspüre, zu beobachten: Überall sind Menschen. Sie kommen herein, suchen sich einen Platz – manche bewegen sich außen um die Stuhlreihen herum, andere wählen die Route durch die Mitte, vorbei am Altar –, sie ziehen ihre Mäntel aus, lehnen sich zurück, schlagen die Beine übereinander. Besonders exponiert sind dabei die Personen, die in der ersten Reihe sitzen. (Nebenbei: Das Bild bestimmen lange Mäntel, Barbourjacken, Tweed-Sakkos, Cordhosen, Parkas. Sicher 95 Prozent der Anwesenden sind Deutsche aus der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Das ist kein repräsentatives Abbild der Berliner Erzdiözese, in der ein Drittel der Gläubigen einen Migrationshintergrund hat.) Dass es hier keine Bilder gibt, auf die sich der Blick stattdessen richten könnte, tut sein Übriges.

Draußen vor der Kirche, auf dem Bebelplatz, glitzert der Weihnachtsmarkt. Ein Vakuum, das nicht sorgfältig abgedichtet ist, erzeugt einen Sog. Wird irgendwann etwas vom Weihnachtsmarktfunkeln in die blendende Leere der Oberkirche hineingesaugt werden? Sankt Hedwig wäre nicht die erste moderne oder modernisierte Kirche, deren nüchterne, "auf das Wesentliche konzentrierte" Gestaltung bei den Nutzern das Bedürfnis auslöst, die Leere irgendwie zu füllen.

Natürlich: Nicht wenige schätzen eine reduzierte Ästhetik als wohltuenden Kontrast zur allgegenwärtigen Bilderflut, zum grellen und hektischen Leben der Großstadt. Doch das funktioniert nicht, wenn die Mitmenschen im hellen Kreisrund nolens volens die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Man kann sich hier nicht fokussieren.

Die Gedächtniskirche: Weite und Geborgenheit

Gelegentlich wird die Kritik an moderner Kirchenarchitektur mit dem Argument pariert, die Kritiker seien ungebildet oder rückwärtsgewandt. Darum sei auf einen anderen modernen Zentralbau der Berliner Sakrallandschaft verwiesen, der seine Tauglichkeit seit Jahrzehnten unter Beweis gestellt hat: die evangelische Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Ende der Fünfzigerjahre von Egon Eiermann entworfen.

Orientierter Zentralbau: Die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Orientierter Zentralbau: Die Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche W. Bullach/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

Das Oktogon aus Beton, Stahl und Glas mit seinen tiefblau leuchtenden Fenstern oben und den dunklen Materialien im unteren Bereich erzeugt sowohl den Eindruck von kosmischer Weite als auch von Geborgenheit. Der Breitscheidplatz mit seinem donnernden Straßenverkehr erscheint Lichtjahre entfernt. Der Zentralbau hat zugleich eine eindeutige Orientierung: zum Altar, der auf einem Podest mit drei Stufen steht, und der darüber schwebenden Christusstatue. Die Raumgestaltung knüpft damit an die historische Gestaltungspraxis an. Die Beleuchtung setzt Akzente, anstatt alles gleichförmig auszuleuchten. Ganz anders, aber ebenso stimmig, der Raumeindruck in der kleineren Kapelle, erkennbar von der klassischen japanischen Architektur inspiriert. Hier ist es hell, leicht, klar, es dominiert das Tageslicht, das aber mit schwarzen Vorhängen dosiert werden kann.

Historie in Vitrinen

Wer das Weiß-in-Weiß der Hedwigskathedrale kritisiert, wird in die Krypta mit ihren kranzförmig angeordneten Seitenkapellen verwiesen. Ist hier Raum für Andacht, Betrachtung und Anbetung? Diese Unterkirche erreicht man über die Vorhalle. Von dort aus muss man einen dunkel-rostfarbenen, steilen Treppenabgang hinuntersteigen.

Berliner Hedwigskathedrale: Zugang zur Krypta
Zugang zur Krypta Benjamin Leven

Unten wirkt die niedrige Geschosshöhe zusammen mit dem allgegenwärtigen Dunkelgrau des Bodens, der Wände, der Säulen und der Decke weniger mystisch als bedrückend. Ist die einzige Farbe wirklich das grüne Licht der Notausgangs-Beleuchtung?

Berliner Hedwigskathedrale: Blick in die Krypta
Blick in die Krypta Benjamin Leven

Nein: In einer der Kapellen steht eine barocke Statue der Heiligen Hedwig, durch Spotbeleuchtung museal in Szene gesetzt, auf einer Stele – und dahinter leuchtet in kräftigem Violett das rätselhafte Auge eines kleinen ovalen Fensters.

Alles scheint eher für den interessiert-distanzierten Blick des Bildungsbürgers als für den kontemplativen Blick der Frommen arrangiert zu sein.

Die zahlreichen Besucher gehen umher und schauen in jede Kapelle einmal hinein, was den Eindruck verstärkt, eher in einem Ausstellungs-, als in einem Andachtsraum zu sein. Alte Bischofskreuze lassen sich genauso hinter Glas besichtigen, wie die neapolitanischen Krippenfiguren, denen das Kühlschranklicht nicht guttut.

Berliner Hedwigskathedrale: Vitrine mit Bischofskreuzen in der Krypta
Vitrine mit Bischofskreuzen in der Krypta Benjamin Leven

Alles scheint eher für den interessiert-distanzierten Blick des Bildungsbürgers als für den kontemplativen Blick der Frommen arrangiert zu sein.

Im Obergeschoss tabula rasa, im Untergeschoss die eigene Historie in Vitrinen: Man kann das als Sinnbild begreifen.

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