Die Verehrung und Ausstellung von Reliquien, insbesondere von Körperteilen von Heiligen, sind für die einen abstoßend, für die anderen eine spirituelle Wohltat. Dabei ist natürlich ein großer Unterschied, ob man eine Reliquie verborgen in einer Schachtel aufbewahrt, oder sichtbar in einer Monstranz. Hier sind alle Geschmäcker und Mentalitäten im Laufe der Christentumsgeschichte vertreten.
Die Verehrung von Reliquien an und für sich ist so alt wie das Neue Testament. In der Apostelgeschichte steht (19,11-12): "Auch ungewöhnliche Machttaten tat Gott durch die Hand des Paulus. Sogar seine Schweißbinden und Tücher, die er auf der Haut getragen hatte, nahm man weg und legte sie den Kranken auf; da wichen die Krankheiten und die bösen Geister fuhren aus." Ausgerechnet Paulus! Natürlich werden aufgeklärte Gemüter aus dem nördlichen Europa die Taschentücher des Paulus für ein Märchen aus tausendundeiner Nacht halten, um gleich wieder mit dem Gnadenapostel ins Reine zu kommen. Gut, dann lebten die ersten Christen eben in tausendundeiner Nacht. Im Orient!
Wenn heute ein muslimischer Märtyrer im Iran zu Grabe getragen wird, legen die frommen Gläubigen Taschentücher auf den Sarg, um sich eine sogenannte Kontaktreliquie zu besorgen. Muss man das kritisieren? Die Christen haben genau dieselbe Angewohnheit: ein weites Feld für den interreligiösem Dialog.
Augustinus, der gern als der große Vergeistiger des Christentums und wie Paulus als Prediger der Gnade zitiert wird, war ein begeisterter Verehrer der Stephanus-Reliquien. Damals hatte man sie bei Jerusalem gefunden und nun erlebten sie geradezu einen Siegeszug durch die Mittelmeerstädte. Teile davon kamen auch zu Augustinus nach Hippo in Nordafrika. Dort hat man sofort ein "Wunderbuch" angelegt, in dem alle Heilungswunder und sonstigen Überraschungen des Heiligen dokumentiert wurden – nachzulesen in seinem "Gottesstaat". Diese Wunderberichte sind ein wahres Schatzkästchen der Glaubenserfahrung an Leib und Seele – Geschichte, wie sie nur das Leben schreibt.
Es gab und gibt eben zwischen den Teilkirchen und Konfessionen immer unterschiedliche Kulturen und Mentalitäten, die eine legitime Pluralität erlauben. Wer sind wir, alles mit der theologischen Gartenschere auf ein Einheitsmaß zurückzustutzen?
Und dann kommt noch ein anderer Aspekt hinzu: Wohl ist richtig, dass man im lateinischen Westen sehr zögerlich war, Gräber zu öffnen. Gerade deshalb hat man bevorzugt Kontaktreliquien verwendet. Hingegen war man in den östlichen Kirchen bereits im vierten Jahrhundert bereit, die Teilung von Körperreliquien durchzuführen. Es gab und gibt eben zwischen den Teilkirchen und Konfessionen immer unterschiedliche Kulturen und Mentalitäten, die eine legitime Pluralität erlauben. Wer sind wir, alles mit der theologischen Gartenschere auf ein Einheitsmaß zurückzustutzen?
Das ganz wesentliche Korrektiv eines Missbrauchs von Reliquien liegt darin, sie mit dem eucharistischen Kult zu verbinden, indem man Reliquien möglichst in Altären deponiert und eben nicht irgendwo feilbietet. Seit Ambrosius von Mailand ist das die klare Absicht der Bischöfe gewesen. Aber auch hier passiert das, was im Zuge einer Auflösung des Christlichen passieren musste: Je weniger Wert heute auf die Verbindung von Altar, Eucharistiefeier und Reliquie Wert gelegt wird, weil man schon das Konzept "Altar" und "Opfer" nicht mehr versteht, umso mehr verselbständigt sich die Verehrung von Reliquien und treibt Blüten allenthalben.