"Wenn der Papst nur dies eingesteht, dann wollen wir ihm nicht nur die Füße küssen, sondern ihn auf Händen tragen." Diese Worte schrieb niemand anderes als Martin Luther – freilich in der festen Überzeugung, dass der römische Pontifex ihn niemals in diese Verlegenheit bringen würde. Aber was genau sollte der Papst eingestehen? "Dass Gott allein durch die Gnade rechtfertigt". Diese später als "Rechtfertigungslehre" bezeichnete Einsicht hat Luther (und haben viele Zeitgenossen mit ihm!) als geradezu lebenswendende Befreiung erlebt von den Zwängen der Werkgerechtigkeit und der mit dieser verbundenen Heilsangst, welche Teile der abendländischen Christenheit im Spätmittelalter erfasst hatten. Für den Reformator war diese Lehre so zentral für den christlichen Glauben, dass mit ihr die Kirche und damit auch deren Einheit "steht und fällt". Und tatsächlich wird die Rechtfertigungslehre häufig (ob zu Recht, sei einmal dahingestellt) als der entscheidende Streitpunkt betrachtet, der im 16. Jahrhundert zum Ende der kirchlichen Einheit und zur Spaltung der westlichen Christenheit geführt hat.
Insofern muss es nicht weiter überraschen, dass die Unterzeichnung der "Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" (GER) am 31.10.1999 im Augsburg als ein ökumenisches Jahrhundertereignis erwartet worden war, gar als Anfang vom Ende der besagten Kirchenspaltung: War der Papst – vertreten durch den zuständigen Kurienkardinal Edward Idris Cassidy – doch im Begriff, genau dieses Eingeständnis zu leisten und feierlich den Konsens über die "Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre" mit dem Lutherischen Weltbund zu bestätigen.
Verscherbeln des lutherischen Tafelsilbers?
Die ökumenisch-, oder besser noch kontrovers-theologischen Wellen schlugen im Vorfeld hoch, spätestens, seit eine Entwurfsfassung der Erklärung aus dem vertraulichen Rahmen des Vorbereitungsgremiums heraus an die kirchlichen Entscheidungsgremien übergeben und damit veröffentlicht worden war. Was folgte, war einerseits ein heftiger theologischer Disput bislang ungekannten Ausmaßes, dessen Wogen sogar aus den einschlägigen Fachzeitschriften in große Tageszeitungen hinüberschwappten, andererseits fieberhafte Versuche hinter den Kulissen, das zeitweilig höchst gefährdete Projekt doch noch zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.
Kritische Stimmen kamen vor allem aus der evangelischen Theologie, wo eine lautstarke Fraktion meinte, die Gemeinsame Erklärung als vermeintliches Verscherbeln des eigenen Tafelsilbers um jeden Preis verhindern zu müssen. Im Eifer des Gefechts kam es teils zu nicht mehr für möglich gehaltenen Verteufelungen (freilich nicht nur der katholischen "Gegner", sondern mehr noch jener in der eigenen Konfession und Zunft!) und zu einem Überbietungswettbewerb an wortklauberischer Lutherorthodoxie. Auf katholischer Seite fiel das Echo in Lautstärke wie Tonfall wesentlich gemäßigter und bis auf wenige Ausnahmen positiv aus, problematisch erscheint im Rückblick eher die verhältnismäßig dann doch eher schwache Anteilnahme an diesem ökumenisch so zentralen Disput in akademischer Theologie und kirchlicher Öffentlichkeit.
Was vor der Reformation und auch danach im konfessionellen Binnendiskurs als theologische Schulmeinung nebeneinanderstehen konnte, wurde im ökumenischen Disput plötzlich zum exklusiven Standpunkt der eigenen bzw. zur intolerablen Häresie der anderen Seite.
Was die Hardliner auf beiden Seiten nicht wahrhaben wollten, hatten ökumenisch engagierte Theologinnen und Theologen aber bereits seit Langem verstanden und spätestens seit den 1980er Jahren (etwa im Rahmen der berühmten Lehrverurteilungsstudie des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen) auch breit zu beweisen unternommen: dass nämlich in der Frage der Rechtfertigung das gemeinsam Geglaubte viel bedeutender und tiefgreifender war (und ist!) als die konfessionellen Schwerpunktsetzungen, die im Laufe der Zeit immer stärker aufgebläht und gegen die jeweils andere Seite zugespitzt worden waren. Was vor der Reformation und auch danach im konfessionellen Binnendiskurs als theologische Schulmeinung nebeneinanderstehen konnte, wurde im ökumenischen Disput plötzlich zum exklusiven Standpunkt der eigenen bzw. zur intolerablen Häresie der anderen Seite – unter Ausblendung des eigentlichen, gemeinsamen Kerns des Glaubens an die Rechtfertigung.
Es bedurfte daher der mühsamen Überwindung der überkommenen Vorurteile und ökumenisch behutsamer Distinktionskunst – frei nach dem "kirchlichen Friedensspruch", dass Einheit nur im Notwendigen, im Zweifel Freiheit und in allem Liebe gewahrt bleiben muss: Was ist für beide Seiten der zentrale und unverhandelbare Gehalt der Rechtfertigungslehre, über den notwendig Konsens herrschen muss (oder womöglich bereits herrscht)? Und was sind demgegenüber die konfessionellen Schwerpunktsetzungen, die sich aus historischen Konfliktkonstellationen erklären lassen und damals wie heute wichtige Anliegen formulieren, über die aber kein eigener Konsens mehr erreicht werden muss? Konfessionelle Lehrbestände, über die, entsprechend dem Komplementaritätsprinzip, vielleicht gar kein Konsens möglich oder erstrebenswert ist, weil sich die bezeichnete Wirklichkeit in ihrer Komplexität tatsächlich nur durch solche nicht ineinander überführbaren, sondern einander ergänzenden und austarierenden Perspektiven beschreiben lässt?
Differenzierter Konsens
Im katholisch-lutherischen Dialog wurde zur Beschreibung dieser spezifischen Sachlage – grundlegende Übereinstimmung im Zentrum der Lehre bei Teildissensen an deren Peripherie – das Modell "differenzierter Konsens" entwickelt. In den Worten des lutherischen Ökumenikers Harding Meyer, der dieser Argumentationsfigur den Namen gegeben hat, handelt es sich dabei um einen Konsens, der "im Blick auf die jeweils erörterte Lehrfrage stets zwei Konsensaussagen enthält: – eine Aussage der Übereinstimmung in dem, was in dieser Lehrfrage gemeinsam als das Grundlegende oder Wesentliche erachtet wird, und – eine gemeinsame Aussage darüber, dass und warum die verbleibenden Verschiedenheiten in dieser Lehrfrage als zulässig und legitim gelten können und die Übereinstimmung im Grundlegenden oder Wesentlichen nicht in Frage stellen" (Zur Gestalt ökumenischer Konsense; in: Wolfgang Beinert [Hg.]: Unterwegs zum einen Glauben, Leipzig 1997, 621-630, 629). Dieses Modell, das die Gemeinsame Erklärung zur Rechtsfertigungslehre bis in die Textstruktur hinein prägt, ermöglichte es, den jahrhundertelangen Streit um die Rechtfertigungslehre unter Wahrung der Anliegen der vormaligen Streitparteien in einem Konsensdokument zum Ausgleich zu führen.
Luthers eingangs zitiertes Diktum ist als Reaktion auf den Reichstag von Augsburg von 1530 zu betrachten, auf dem vergeblich versucht worden war, die kirchliche Einheit zu bewahren. Knapp 570 Jahre später ist es in ebendieser Stadt am letzten Reformationstag vor der Jahrtausendwende schließlich doch noch zur gemeinsamen Verabschiedung der Erklärung gekommen. Und damit zum "differenzierten Konsens" nicht über jedes Detail, aber doch über die wesentlichen "Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre", die damit ihren kirchentrennenden Charakter verloren hat. Oder, präziser formuliert, die endlich als das erkannt wurde, was sie immer schon war: eine im Wesentlichen gemeinsame und nicht kirchentrennende Glaubenslehre. Und damit des Erfolgs nicht genug: In den Folgejahren haben weitere weltweite Kirchenverbünde die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre als legitimen Ausdruck des gemeinsamen Glaubens anerkannt, sei es durch Bestätigung im Ganzen (Weltrat Methodistischer Kirchen, 2006), durch Begrüßung und Bestätigung des Inhalts (Anglikanische Weltgemeinschaft, 2016) oder durch Assoziierung (Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen 2017).
Es bleiben Fragen
Was für ein ökumenischer Meilenstein! Und doch bleiben zwei Fragen bestehen: Erstens, warum trotz der Einigung in dieser – wenigstens auf lutherischer Seite – als entscheidend betrachteten Frage auch ein Vierteljahrhundert später noch keine Kirchengemeinschaft zwischen den lutherischen Kirchen und der katholischen Kirche erreicht ist. Liegt dies bloß an mangelnder Konsequenz und Rezeptionsunwilligkeit aufseiten kirchlicher Entscheidungsträger, wie manche meinen, oder bedarf es doch noch weiterer Konsense, etwa über das Verständnis von Kirche, Eucharistie und Amt (wie es der derzeit zuständige Kurienkardinal, Kurt Koch, wiederholt angemahnt hat)?
Und zweitens bleibt die noch viel grundlegendere und wahrhaft ökumenisch verbindende Frage, wie die Lehre von der Rechtfertigung heute neu vermittelt werden kann, da sie den allermeisten Christenmenschen hüben wie drüben doch nichts mehr sagen dürfte. Dabei verweist sie doch – wie es in der Erklärung heißt – "auf die Mitte des neutestamentlichen Zeugnisses von Gottes Heilshandeln in Christus" und bildet "ein unverzichtbares Kriterium, das die gesamte Lehre und Praxis der Kirche unablässig auf Christus hin orientieren will".