Die Welt sei alles, was der Fall ist, lautet ein berühmter Satz von Ludwig Wittgenstein. Als ich ihn im ersten Semester meines Studiums der Theologie las, dachte ich an die gefallenen Engel. Mit dem Fall beginnt die Welt. Aber die Welt ist nicht alles und schon gar nicht das Ganze. Ich las auch Goethes Autobiografie "Dichtung und Wahrheit". Dort stand: "Das Ganze ist nur für einen Gott gemacht."
Was wissen Engel? Was können sie wissen? Unterscheidet sich das Wissen der Engel vom Wissen der gefallenen Engel? Engelforschung beschäftigt sich mit dem, was die Welt im Innersten zusammenhält und was passiert, wenn die Mitte auseinanderbricht.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlichte Ernst Cassirer ein zweibändiges Werk über "Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit" (1906). In dieser Zeit erschienen von Wilhelm Franz Schlössinger OP (1880-1941) fünf umfangreiche Aufsätze im "Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie" (Hefte 22/1908 und 23/1909). Pater Schlössingers Aufsätze tragen den Titel "Die Erkenntnis der Engel". Ihnen ließ er den Aufsatz "Das angelische Wollen" (24/1910) und "Die Stellung der Engel in der Schöpfung" (25/1911 und 27/1913) folgen. Sie sind heute dank der Digitalisierung durch die ETH Zürich leicht zugänglich. Aber leichte Zugänglichkeit garantiert keine leichte Lektüre.
Die Zeitschrift wurde 1886 in Wien von Mitgliedern des Dominikanerordens gegründet und besteht noch immer als "Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie". Schlössinger war Dominikaner. Die Abkürzung "OP" hinter seinem Namen weist die Ordenszugehörigkeit aus. "OP" bedeutet "Ordo Praedicatorum" oder Predigerorden. Der Heilige Dominikus (um 1170–1221) hatte einen neuen Orden für helle Köpfe gegründet, hochgebildete Menschen, bewandert in allen Fragen der Logik, die nie um eine Antwort verlegen waren, wie Meister Eckhart, der von sich behauptete, er kenne alle Geheimnisse, soweit sie Gott preisgeben wollte. Dominikaner redeten Klartext und brachten das Licht der Erkenntnis in manchen Obskurantismus. Ein Hund mit einer brennenden Fackel in der Schnauze symbolisiert diesen Erkenntniswillen.
Der Letzte seiner Art
Wilhelm Franz Schlössinger ist der große Unbekannte der Engelforschung. Der Letzte seiner Art. Am 19. Juli 1903 zum Priester geweiht, war er Novizenmeister im Erzbistum Olmütz, von 1922 bis 1937 Caritasdirektor und Herausgeber der Zeitschrift "Caritas". Er arbeitete als Referent im Erzbistum, 1938 als Zensor und wurde am 20. Juni 1939 Prior in Leitmeritz (Litoměřice/Tschechien). Die Gestapo nahm ihn in "Schutzhaft". Das Martyrium ruinierte seine Gesundheit. Aus der Haft entlassen, starb er am 3. Oktober 1941.
Schlössinger ist ein Geheimtipp geblieben. Offenbar hat niemand, selbst aus den eigenen Kreisen, seine Arbeiten zur Kenntnis genommen. Die großen philosophischen Debatten der Zwanziger Jahre zwischen Heidegger und dem Neukantianismus hatten sich längst von der Theologie abgekoppelt, wenngleich ihre Protagonisten noch über ausreichende Lateinkenntnisse verfügten, ohne die Schlössingers lange Zitate aus dem Werk des Thomas von Aquin nicht vollständig zu lesen sind. Seine Arbeiten blieben folgenlos. Das ist bedauerlich, aber auch bezeichnend. Schlössinger ist der Logiker unter den Engelforschern. Seine Studien sind die Endmoräne der thomistischen Theologie.
Der letzte Theologe, der noch einmal die ganze Welt in den Blick genommen hatte, war der spanische Jesuit Francisco Suárez (1548–1617). Er galt als herausragender Lehrer (Doctor Eximius). Dann übernahmen Schriftsteller das Szepter der Engelforschung. Milton in England, Klopstock in Deutschland. Daniel Defoe fügte seinem Roman "Robinson Crusoe" eine spekulative "A Vision of the Angelick World" (1720) hinzu. Schlössinger blickt weder auf die Literatur noch die Philosophie. Er beschreibt die theologische Forschungslage so:
"Allerdings darf nicht außer acht gelassen werden, dass auf dem Gebiet der Angelologie und namentlich auf dem Gebiet der Theorie der Engelerkenntnis äußerst wenig de fide, Glaubenswahrheit ist, dass wir es also in der Engelerkenntnis - und von der soll ja ausschließlich die Rede sein – mit den verschiedensten, oft wiedersprechendsten theologischen Lehrmeinungen zu tun haben werden, deren hauptsächlichste wir anführen und näher untersuchen wollen; selbstverständlich gilt es vor allem, die Lehre des heiligen Thomas klarzulegen, in deren Lichte die entgegenstehenden Meinungen ihre Würdigung finden sollen."
Die Engelforschung des Dominikaners unterscheidet zwischen einer natürlichen und einer übernatürlichen Erkenntnisfähigkeit. Jeder Engel besitzt eine natürliche Erkenntnisfähigkeit. Auch einem gefallenen Engel geht sie nicht verloren. Selbst durch die ewige Verdammnis hat sie nicht die geringste Einbuße erlitten. Um aber das Geschenk der übernatürlichen Erkenntnisfähigkeit und damit die ewige Seligkeit und Gottesschau zu erhalten, bedarf es mehr als eine rechte natürliche Erkenntnis.
Unterscheidung der Geister
Eine künstliche Intelligenz mag viel wissen, aber ihr fehlt die Seele und damit das Gewissen. Ihre Logik mag noch so stimmig sein, sie bleibt eiskalt, weil ihr die Liebe fehlt. Der Teufel kennt keine Liebe, sondern nur den Hass. Deshalb sind sie von der visio beata ausgeschlossen. Auch von einer Erleuchtung (illuminatio) kann bei dem Teufel keine Rede sein. Teufel diskutieren nicht. Wenn sie sich einmal dem Gespräch öffnen, dann lästern sie nur ab. Auch untereinander stacheln sie sich nur zu weiteren negativen Gedanken auf. Menschen verführen sie zum Bösen. Dabei sind sie raffinierte Psychologen. Sie kennen die Menschen und setzen genau an jenen schwachen Stellen an, die zum Einfallstor für allerlei Sünden werden können. Meistens sind es aber nicht die kleinen und kleinlichen Verfehlungen und moralischen Eskapaden.
Der Teufel denkt im großen Stil und will gerade die hohen Seelen zu Fall bringen. Dazu stachelt er ihren Ehrgeiz auf unsinnige Weise an. Der Teufel kennt in seinem Zerstörungswerk keine Auszeit. "Er rastet nimmer." Er gibt auch nicht so schnell auf, wenn er Widerstand erfährt. Er verfügt über eine "mehrtausendjährige Erfahrung", mit der er "einen Generalsturm auf das Menschenherz" durchführt. Besonders die Frommen sind ihm ausgesetzt. Sie sollen zur Verzweiflung gebracht werden: "Lass ab von allem Guten, denn du gehörst zu den Verworfenen. Alles umsonst!" Die Heiligen und Büßer waren solchen Stürmen ausgesetzt. Und wenn der Teufel hier nicht weiterkommt, dann versucht er Angriffe auf den Verstand. Schließlich kann es zur Besessenheit kommen.
Der Übergang von der natürlichen zur übernatürlichen Erkenntnis der Engel war die sogenannte Prüfungsstunde oder der Prüfungszustand (in statu viae). Die gefallenen Engel bestanden sie nicht. So kam es zur Unterscheidung der Geister und es "begann der Zustand der ewigen Seligkeit, für die anderen jener ewiger Unseligkeit."
Über den Inhalt der Prüfung ist viel gerätselt worden. Schlössinger sieht in ihr eine Art theologisches Examen. Es ging um Fragen der Trinität und der Christologie, also um die zentralen Geheimnisse des Glaubens, die jenseits der natürlichen Erkenntnis von Mensch und Engel liegen. Die gefallenen Engel glaubten, "Gott könne unmöglich eine leidensfähige menschliche Natur annehmen, eine Natur, die von Adam her der Sünde und der Strafe der Sünde, dem Tode, unterworfen ist; sie konnten sich nicht erklären, wie Gott ein kleines Kind werden, Menschen, Müdigkeit, Hunger, Durst, Traurigkeit usw. untergeben sein könne." Die Teufel waren also wie jene modernen Theologen, die in Jesus nur ein moralisches Vorbild sehen wollen, aber nicht den Sohn Gottes.
Teufel haben also keinen Durchblick, dafür aber wie viele beschränkte Geister ein übertriebenes Selbstbewusstsein. Sie sind Besserwisser und Neinsager. Ein wahrer Engel ist immer ein Jasager und Bejahender. Bei letzten Fragen geht es auch nicht anders. Die letzte Antwort aber auf alle letzten Fragen ist die visio beata. Hier schauen die Engel Gottes Weisheit, seine Güte und Allmacht. Sie wissen viel, aber sind nicht allwissend. Sie erkennen "nicht die futura contingentia et libera, die Herzensgeheimnisse, den Tag des Weltgerichts, außer Gott offenbart ihnen etwas von diesen Dingen."
Schatzsuche
Und wir? Was werden wir erkennen? "Dort werden wir nicht nur Gott schauen, sicuti est, sondern auch alle seine Kreaturen, und namentlich die Engel, durch deren Hilfe und Beistand uns die Pforten der Ewigkeit sich einstens öffnen sollen." Alle seine Kreaturen? Wer ist damit gemeint? Hund und Katze, Pferd und Esel, Vögel und Walfische – die ganze Schöpfung? Bileams Eselin sah den Engel. War dies mehr als ein Märchenmotiv? Vielleicht ein Ausblick auf die visio beata? Es gehört zum Wesen aller Engelforschung, dass ihr Ende nur ein neuer Anfang sein kann.
Engelforschung im 21. Jahrhundert ist auch immer eine Schatzsuche. Schlössingers Aufsätze sollten in Buchform ediert werden. Dabei wären die langen lateinischen Zitate aus dem Werk des Heiligen Thomas für ein heutiges Publikum zu übersetzen.