Es ist zu einer Binsenweisheit geworden, zu sagen, dass wir nicht mehr nur in einer Zeit vielfältiger Veränderungen leben, sondern in einer Zeit des Epochenwechsels. Die menschlichen Bedingungen des menschlichen Lebens und die Art und Weise, wie wir es verstehen, wandeln sich radikal. Die Explosion der Kommunikation, die Globalisierung der Wirtschaft, die technisch-wissenschaftliche Entwicklung, das massive Phänomen der Migration, die Vermischung der Kulturen und der religiöse Pluralismus unserer Gesellschaften haben eine neue Welt geschaffen, nicht durch geografische Ausdehnung, sondern durch die Komplexität der sozialen Beziehungen, die sich aus dieser Summe von Veränderungen ergeben, mit deren Tempo wir kaum Schritt halten und deren Sinn wir kaum begreifen können.
Der epochale Wandel zeigt sich vielleicht am markantesten in der Anthropologie. Religiöse Bezüge werden verdrängt, die Autorität der modernen Geisteswissenschaften wächst, ein Panorama kontrastierender Sichtweisen auf das Wesen des Menschen ist entstanden.
Das Zeitalter des Christentums ist vorbei. Eine neue Ära hat begonnen, in der Christen sich neu gegenüber ihrer Umwelt positionieren müssen, wenn sie das kulturelle und spirituelle Erbe des Christentums weitergeben wollen. Diesem Umfeld ist das Christentum fremd; es begegnet ihm gleichgültig oder sogar feindselig, selbst in traditionell katholischen Ländern. Der epochale Wandel zeigt sich vielleicht am markantesten in der Anthropologie. Religiöse Bezüge werden verdrängt, die Autorität der modernen Geisteswissenschaften wächst, ein Panorama kontrastierender Sichtweisen auf das Wesen des Menschen ist entstanden. Die Optionen schwanken zwischen einem von der körperlichen Verfassung losgelösten Spiritualismus und einem Materialismus, der alle transzendenten Bestrebungen auf technisch kontrollierbare biopsychische Daten reduziert.
Die menschliche Identität als Experimentierfeld
Die menschliche Identität ist zu einem Experimentierfeld geworden. Sie ist Gegenstand der Ideologisierung von Entscheidungen und Beziehungen. Das stellt kolossale Herausforderungen an Familien, Schulen und Gesellschaft sowie an die Weitergabe des kulturelles Erbes. Denn wir haben es hier nicht mit einer vorübergehenden Krise zu tun, wir leben nicht in einer Zeit des verwirrenden Übergangs zu einem neuen Humanismus. Vielmehr muss diese neue Situation als dauerhaft angenommen werden. Die traditionellen rationalen Bezugspunkte können keine Exklusivität mehr beanspruchen. Kurzum, der Epochenwechsel schließt den Pluralismus als konstitutives Element jeder Gesellschaft in einer globalisierten Welt ein.
Man kann also nicht mehr davon träumen, nach einer Beruhigung und Überwindung der gegenwärtigen Krise zu einem früheren Stand der Dinge zurückkehren zu können. Wir müssen mit anderen Worten über die Zukunft des Christentums nachdenken, in einem Kontext, der von den Christen ein neues Paradigma für das Zeugnis ihrer Identität erwartet. Deswegen müssen wir dialogbereit auf die kulturelle und religiöse Vielfalt schauen, müssen die christliche Vision in aller Unentgeltlichkeit und mit Sorge um die menschliche Geschwisterlichkeit anbieten. In diesem Geist muss die anthropologische Frage in Wissenschaft, Universität, Schule und Familie – wo sie häufig zu Diskussionen führt – angegangen werden.
Das Leben als Berufung
Verschiedene Formen des radikalen Dualismus oder des praktischen Materialismus verändern die Wahrnehmung der menschlichen Identität; Dinge, die vormals unstrittig waren, stehen infrage: sei es die Frage der sexuellen und der geschlechtlichen Identität, die Frage der Gleichberechtigung der Frau, die Frage des Einflusses der künstlichen Intelligenz, die Frage, was den Menschen eigentlich vom Tier unterscheidet (bis hin zum Antispeziezismus) oder die Frage der zunehmend fragilen psychischen Gesundheit. Nichts scheint im Reich des Homo Sapiens mehr selbstverständlich zu sein.
Stehen wir an der Schwelle zu einem qualitativen Sprung der menschlichen Spezies, an der Schwelle zu einer transhumanistischen Mutation? Alles scheint möglich. Dabei vergessen wir leicht, dass die überwiegende Mehrheit der Menschen unter unmenschlichen Bedingungen lebt, dass Massen von Menschen durch den Klimawandel und andere Faktoren zur Migration gedrängt werden und dass immer neue Konflikte und die allgemeine Aufrüstung die ethische Vernunft drängen, den wahnsinnigen Vorwärtsdrang zu bremsen. Zunächst sollte ein Minimum an Wohlstand für die gesamte Menschheit gewährleistet sein.
Welche Zukunft hat die Menschheit? Welchen Grund zur Hoffnung können wir den Sinnsuchenden bieten? All diese Fragen behält die katholische Kirche im Auge, wenn sie das Evangelium der Erlösung verkündet. Die neue anthropologische Situation verpflichtet zum Dialog, zur Achtung der Vielfalt und zur Solidarität mit den Ärmsten und Schwächsten. Die christliche Sicht auf den Menschen als Mann und Frau lässt sich weiterhin in ihrer Originalität und Besonderheit darstellen. Ja, die gegenwärtige Situation ist eine besondere Gelegenheit, die Koordinaten des Menschlichen auf der Grundlage der christlichen Offenbarung neu zu erläutern und im Dialog eine Anthropologie der Berufung anzubieten, die darin gründet, das Leben überhaupt als Berufung zu verstehen. Im gegenwärtigen Chaos gibt es mehr denn je einen Raum, um auf das Wort Gottes zu hören und aus der göttlichen Weisheit Orientierung für das menschliche Leben zu gewinnen – in der Gegenwart und in der Zukunft.
Eine Tagung in Rom
Dies ist das Ziel und der Sinn des Symposiums "Mann – Frau: Bild Gottes, Für eine Anthropologie der Berufung", das am 1. und 2. März 2024 im Vatikan unter der Teilnahme von Papst Franziskus und internationalen Spezialisten der Heiligen Schrift, Philosophie und Theologie sowie der Humanwissenschaften und der Pädagogik stattfinden wird. Es soll eine aktualisierte Sicht der christlichen Anthropologie im Zeitalter des Pluralismus und des Dialogs der Kulturen angeboten werden, um die Bedeutung des Lebens als Berufung zu unterstützen.
Diese akademische Initiative folgt auf das Symposium vom Februar 2022 "Für eine Fundamentaltheologie des Priestertums", das die Beziehung zwischen dem gemeinsamen Priestertum der Getauften und dem ordinationsgebundenen Amt in seinen drei Stufen untersucht hat. Der wissenschaftliche Ausschuss des "Centre de Recherche et d'Anthropologie des Vocations" (CRAV), der dieses Symposium über das Priestertum organisiert hat, betrachtet die anthropologische Frage als natürliche Fortsetzung dieser Forschung, die die kirchliche Bedeutung von Berufungen auf der Grundlage einer grundlegenden Anthropologie vertieft.
Es geht um eine Sicht, die im Horizont des Glaubens entwickelt wurde und die gelassen als ein Weg zur Aneignung des christlichen Lebenssinns für jeden Menschen auf der Suche nach Wahrheit angeboten wird.
Was hier behandelt wird, ist nicht nur für Spezialisten von Interesse. Menschen, die in allen Bereichen der Seelsorge, der Ausbildung oder der Erziehung tätig sind, können hier eine Gesamtschau der christlichen Antwort auf die aktuelle anthropologische Problematik finden, ohne Polemik oder identitären Rückzug. Es geht um eine Sicht, die im Horizont des Glaubens entwickelt wurde und die gelassen als ein Weg zur Aneignung des christlichen Lebenssinns für jeden Menschen auf der Suche nach Wahrheit angeboten wird.
Die Bedeutung der Thematik und die Dringlichkeit einer solchen Reflexion liegen auf der Hand. Das Symposion wird darum in der Aula der Bischofssynode stattfinden; hochrangige Referenten habe ihre Teilnahme zugesagt.
Das Veranstaltung steht im Geist des COMMUNIO-Mitbegründers Hans Urs von Balthasar, für den Papst Franziskus eine große Bewunderung hegt. Nur wenige zeitgenössische Theologen haben so intensiv an einer Theologie der Berufung gearbeitet. Erinnert sei an das Buch "Christlicher Stand" (1977), eine bemerkenswerte Gesamtschau im eigenen Stil des Autor, der das Ganze und das Fragment in einem mystischen und prophetischen Ansatz zusammenführt, der unserer Zeit angemessen ist.