Durch das Kreuz geborenDie alte Macht und die neue Schöpfung

Am Körper Jesu spielt das Reich der Vernichtung seine Strategie der Demütigung und radikalen Entmenschlichung durch bis ans Kreuz, das der von der Geißelung zerfleischte Körper nach Golgotha tragen muss. In der Todesstille des Karfreitags und Karsamstags geschieht eine Neuschöpfung. Die vernichtende Macht der Imperatoren hat nicht das letzte Wort.

Matthias Grünewald (ca. 1470-1528): Isenheimer Altar (Detail)
Matthias Grünewald (ca. 1470-1528): Isenheimer Altar (Detail)© Txllxt TxllxT/Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0

"Warum haben die Menschen Jesus umgebracht?", "Warum ist der Jesus so blutig?" Die härtesten Fragen kommen nicht von meinen Studierenden, sondern am Weg zum Kindergarten. Es helfen keine Antworten aus Handbüchern oder Ausweichmanöver, ein Vertrösten auf die nächste Stunde. Eine Antwort muss her. Warum? Und warum so? Und warum ist es für dich und mich heute bedeutsam, was dieser Jesus getan hat, was ihm geschehen ist?

Krisis – Entscheidung

Markus Tiwald beschreibt den Gang Jesu nach Jerusalem als "prophetische Eskalation". Er wusste, es geht nun ums Ganze. Es gibt kein Verstecken mehr, ohne die Sache zu verraten. Das Reich Gottes fordert die Entscheidung der Menschen. Jener, der ganz aus, in und mit dem Reich Gottes lebt, kann nicht nur hindeuten, sondern muss es leben – und durch den Tod hindurch, wenn es zur Krisis, zur Entscheidung kommt. Er tut kein Zeichen mehr, er ist es. Was heißt dann Nachfolge für uns heute, in diesen Tagen, wo die Verzweiflung so nahe ist? Wie kann aus dem zerrissenen Herz ein weites Herz werden, jenseits von Naivität und Gegengewalt?

Die Feier der Heiligen Woche ist wie ein Brennspiegel auf dieses Mysterium. Bereits vor dem Einzug nach Jerusalem stellt Jesus klar: Mein Leib und mein Blut wird auch euch verwandeln. Ich bin keiner dieser Herrscher, ich bin anders. Ich gebe mein Leben für euch und nehme nicht eures:

"Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und ihre Großen ihre Macht gegen sie gebrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele" (Mk 10,42-44)

Im Einzug nach Jerusalem erweist sich die Lebensfreude, die mit dem Reich Gottes verbunden ist. Jeder ist zum Fest geladen. Ganz anders der Triumphzug der Kaiser, die Sklaven vorführen und demütigen. Hinrichtungen der Entwürdigten gehören als "Machterweis" dazu. Nur der Herrscher, der tötet, hat auch Macht, so die irdisch-imperialistische Logik, der Jesus, der Anders-Herrscher, zum Opfer fallen wird. Nur die Macht der Vernichtung ist wahre Macht.

Jesus weiß: Wenn ich diesen Weg zu Ende gehe, wird es sehr wahrscheinlich kein Entrinnen mehr geben. Die Theologin Catherine Keller meditiert über diese Stunden: 

"Wenn es nicht möglich ist, die bevorstehenden Schrecken abzuwenden, dann lass es mich in Liebe ertragen. Wenn unser Versteck verraten wurde, wenn ich diesmal nicht mehr entkommen kann, ohne die Bewegung zu betrügen, dann lass mich nicht umsonst leiden. Lass mich deinen Willen verwirklichen – durch mein Sterben und meinen Tod hindurch. Lass aus diesem Bösen etwas Gutes Entstehen."

So wird die Nacht des Pessachmahls zur Nacht der Entscheidung, der Hingabe, der Offenbarung, der Beginn der Neugeburt. Meinen Leib und mein Blut gebe ich euch! In diesen Worten wird das Geheimnis der tiefen Verbindung von Inkarnation und Kenosis auf neue Weise sichtbar. Wie eine Mutter ihr Fleisch und Blut dem Kind hingibt, so gibt der Christus Jesus seinen Leib und sein Blut für die Seinen hin. In Leib und Blut Christi wird der Mensch neu geboren. Peter Eicher weist auf den gleichen etymologischen Ursprung von gebären und offenbaren hin. In der Feier des Abendmahls setzen die Geburtswehen einer neuen Welt und eines neuen Menschen ein. Darf man spekulieren, dass Offenbarung und Natalität wesentlich zusammengehören? Nicht bloß in der Krippe, sondern auch im Passions- und Ostergeschehen, weil hier aus innigster Lebenshingabe des Sohnes das Böse transformiert wird, der Tod den Stachel verliert und etwas völlig Neues anbricht, das noch auf seine Vollendung in der Zeit wartet?

Macht und Wahrheit

Dieses Neue provoziert. Die Imperatoren wissen: Dieser stellt das System infrage, seine Gewaltfreiheit deckt unsere Gewalt auf. Die Wahrheit Jesu ist die Wahrheit des Lebens, des Tuns, der Tat. "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" steht nicht zufällig in einer Reihe. Im Prozess vor Pilatus ist es die eine, scheinbar nebensächliche Frage, die alles aufdeckt: "Was ist Wahrheit?" Was ist schon Wahrheit, wenn es doch letztlich nur um die imperiale Macht geht, die sich in der Vernichtung erweisen wird, die ich dir nun vorexerzieren werde? Demütigung und Vernichtung des Anderen, das ist die Macht der Imperatoren und ihrer Handlanger. Ermächtigung zum Leben, das ist die Macht Jesu oder in Catherine Kellers Worten:

"Die johanneische Wahrheit, die frei macht, ist eine Wahrheit, die man tut und macht. Sie schafft den Raum, den unsere komplexen Beziehungen brauchen, um atmen und wachsen zu können, jenseits von Konkurrenz, Erstickung und Gewalt. Im Geist und in der Wahrheit".

Am Körper Jesu spielt das Reich der Vernichtung seine Strategie der Demütigung und radikalen Entmenschlichung durch bis ans Kreuz, das der von der Geißelung zerfleischte Körper nach Golgotha tragen muss. Der Weg dorthin ist der Weg der Verächtlichung. Ecce homo! Schau, der Mensch! Schau, das Leid, an dem wir uns laben, ergötzen und an dem wir verdienen!

Wo sind an diesem Weg noch die letzten Spuren der Liebe, der verzweifelten Hoffnung? Veronikas Schweißtuch, die Frauen und der Lieblingsjünger, Simon. Nur wenige widerstehen dem Gejohle, dem Spiel der Imperatoren und ihrer Abschreckungs- und Belustigungsstrategie. Und ich beginne mich zu fragen: Hätte ich widerstehen können? Kann ich in unseren Tagen widerstehen?

Ostern: Neuschöpfung und Neugeburt

Jesus ist der Verlassene, der ins letzte NULLA hineingeht und gegangen wird. Er steht im Zentrum der Mystik Chiara Lubichs. Aktivität und Passivität werden eins. Aber dieses NULLA ist kein NICHTS, keine Vernichtung. In der Todesstille des Karfreitags und Karsamstags geschieht eine Neuschöpfung. Die vernichtende Macht der Imperatoren hat nicht das letzte Wort.

Der Käfig geht auf
Der Käfig geht auf Franz Mayrhofer/Erni Klaner

In der leeren Grabeshöhle, dem Tohuwabohu, erwacht der Puls eines neuen Lebens, in dem Menschen in Geist und Wahrheit wachsen können. Am Kreuz und durch das Kreuz hindurch wird die Kraft vollendet. Diese Vollendung ist ein Prozess der Offenbarung und des Gebärens einer neuen Welt, ein Geschehen, das nicht aus dem Menschen kommt, sondern reine Gnade ist.

Im NULLA unseres Seins, der Verzweiflung im Angesicht des Bösen und seiner vernichtenden, demütigenden, erniedrigenden Gewalt sind wir dem Verlassenen nahe. Das darf nicht als Lob des Leids oder gar Funktionalisierung des Bösen verstanden werden, sondern als Trost und Ermutigung inmitten des Dunklen. Die Macht, die in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen offenbar wird, ist keine Gegen-Macht, die erst vernichten muss, um sich unter Beweis zu stellen, sondern eine ermächtigende, aufrichtende Kraft, die umso stärker sichtbar wird, umso mehr sich für ihre Dynamik öffnen. Im NULLA der Passion wird Jesu absolute Hingabe in Leib und Blut offenbar. Im NULLA unserer Tage können wir einander zur Offenbarung werden, indem wir durchsichtig leben und handeln auf jenen, den wir nicht fassen können.

Ostern ist eine Neugeburt. Wenn die Täuflinge in das Becken steigen, so tauchen sie ein in das NULLA der Schöpfung und des Grabes um neu zu erstehen mit einem weiten Herz, das bereit ist für das Zeugnis. Das Zeugnis einer Bischöfin Marianne Budde oder eines Bischof Mark Seitz. Ist auch unser Herz bereit, weit genug für dieses Zeugnis? 

Können wir das Böse vernichten? Nein. Vernichtung setzt die Gewalt fort. Jesu Leben zeigt uns einen Weg des Zeugnisses, des Einspruchs und der Transformation. Wir dürfen den Imperatoren, den Kaisern und Statthaltern nicht ausweichen und müssen Zeugnis ablegen für das Leben in Wahrheit, das Leben in Fülle für alle. Ein solch weites Herz besitzt niemand aus sich, sondern ist nur möglich in Beziehung zu jenem, der in sein Herz alle aufgenommen hat, damit sie neu geboren werden zum Leben in Fülle. In seinem Raum der Wahrheit können wir Solidarität und Gemeinschaft finden und als Kirche Dienerin am Leben aller sein. 

Und die Antwort am Weg zum Kindergarten? Jesus möchte, dass alle Menschen gut leben. Aber nicht alle Menschen haben dieses große Herz. Jesus öffnet den Käfig unserer Herzen. Gehen müssen wir selber.

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