Nach diesem Fund muss die Geschichte des frühen Christentums nördlich der Alpen neu geschrieben werden. Was wie der Standardspruch des archäologischen Marketings klingt, ist diesmal wirklich berechtigt …

In der römischen Stadt Nida, auf deren Gelände die Stadt Frankfurt zu ihrer Schande eine rege Bautätigkeit entwickelt hat, wurde ein Grab gefunden, dessen Kontext eine sichere Datierung auf die Zeit zwischen 230 und 270 erlaubte. Am Hals des Skeletts fand sich ein Amulett, in dem ein lateinischer Text auf einer hauchdünnen, zusammengerollten Silberfolie handschriftlich gekritzelt war. Die Entzifferung dieses Textes durch den Frankfurter Altphilologen Markus Scholz gelang mithilfe der Computertomografie ohne die brüchige Folie aufzurollen und dadurch zu zerstören. Spektakuläre archäologische Spitzentechnik und ein philologisches Meisterstück führte zu einem wiederum spektakulären Ergebnis, denn der Text hat es in sich.

Der für das frühe Christentum ausgewiesene Historiker Hartmut Leppin stellt in einer ersten Textanalyse (FAZ v. 13.12.2024) die geschichtliche Bedeutung des Fundes heraus. Schon lange hatte er die umstrittene Behauptung des Kirchenvaters Irenäus von Lyon, es habe auch im römischen Germanien schon Christen gegeben, für wahrscheinlich gehalten. Dafür gibt es nun einen eindrucksvollen Beleg. Am Anfang des Textes steht auf Griechisch das "Trishagion", dreimal Heilig, heilig, heilig. Diese bis heute liturgisch lebendige Formel war bisher erst für das fünfte Jahrhundert bezeugt. "Der erste Christ nördlich der Alpen war Frankfurter". In der multireligiösen kleinen Metropole des Kapitalismus ist man sofort darauf stolz. Man wird sich dann freilich mit Trier einigen müssen, wo man Eucharius, den ersten Bischof, auch um die Mitte des dritten Jahrhunderts datiert, allerdings ohne eine vergleichbare Quelle.

Onomalatrie

So spektakulär die historische Bedeutung der Silberschrift in der kleinen Kapsel auch ist, sie wird von ihrem außerordentlichen theologischen Inhalt noch übertroffen, denn am Ende des Textes wird Phil 2,6-11, der zu Recht berühmte Christushymnus aufgerufen, an dessen Ende es heißt: "Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen". Diese Formulierung ist der christliche Gipfel der biblischen Onomalatrie. (griech. Onoma = der Name). Auch wenn der Begriff zunächst wie Parallelbildung zu dem geläufigen, meist abschätzig gemeinten Begriff "Idolatrie" aussieht, ist er rein deskriptiv zu verstehen und bezeichnet die Verehrung eines heiligen Namens.

Wer selbstgemachte "Götzenbilder" anbetet, sollte möglichst beschränkt aussehen. Wer vor einem Holz, aus dem er gerade ein Bild geschnitzt hat, ausruft: "Rette mich, du bist doch mein Gott!", ist einfach dumm.

Grapholatrie

Die Sakralisierung des Mediums Schrift hatte in und nach dem Ende des babylonischen Exils dem klaren Bekenntnis Israels zu JHWH als dem einzigen Gott zum Durchbruch verholfen. Das kam so: In Mesopotamien übten die aus Jerusalem vertriebenen Intellektuellen eine scharfe Religionskritik. In den alttestamentlichen Texten hat sie überall Spuren hinterlassen. Wie kann ein Götterbild, das "von Menschenhand gemacht" ist, ein echtes Gegenüber sein? (Deutero-)Jesaja und die anderen Kritiker mögen dabei die sogenannten "Einwohnungsrituale" übergangen haben, mit denen die Priesterschaften von Ägypten bis Mesopotamien die Götterbilder spirituell aufzuladen und zu beseelen suchten. Wer selbstgemachte "Götzenbilder" anbetet, sollte möglichst beschränkt aussehen. Wer vor einem Holz, aus dem er gerade ein Bild geschnitzt hat, ausruft: "Rette mich, du bist doch mein Gott!" (Jes 44,17), ist einfach dumm. Das mag polemisch sein, aber bei aller Zuspitzung trifft der Prophet den entscheidenden Punkt: die Differenz zwischen dem Götterbild und dem, was es doch nur darstellt, ist zum Verschwinden gebracht worden.

Die Kritik der judäischen Aufklärer war nicht folgenlos. Sie führte zu einem Medienwechsel. Die Schrift wurde zur Heiligen Schrift. Als Kultschrift tritt sie an die Stelle des Kultbilds. Dieses trifft ein strenges Bilderverbot. An die Stelle der "Götzenbilder" tritt Heilige Schrift als das neue Gottesmedium des biblischen Monotheismus. Der Finger Gottes hatte sie auf steinerne Tafeln geschrieben (Ex 31,18): Grapholatrie statt Idolatrie. Das ist die entscheidende Substitution. Ohne diesen Medienwechsel ist Israels Glaube an den Einzigen nicht vorstellbar. Die in Buchstaben geronnene Sprache hat nämlich den entscheidenden Vorzug, dass sie niemals das ist, was sie darstellt. Die Schrift ist das Medium der Referenz und der Differenz und kann mit dem, was sie darstellt, anders als ein Bildnis, nicht verwechselt werden. Wegen dieses Vorzugs sollte auch dem Begriff Grapholatrie kein pejorativer Klang angeheftet werden, auch wenn die gängige Parallele "Idolatrie", der die Anbetung von "Götzenbildern" bezeichnet, durchaus zu Recht abschätzig gemeint ist.

Präsenz im "Namen"

In den vier Buchstaben des Tetragramms JHWH kommt die "Präsentifikation" (Jan Assmann) zur höchsten Verdichtung. Der Gott, der in seinem "Namen" "Ich bin da" seine ubiquitäre Gegenwart ausruft, ist nirgendwo und niemals nicht da. "Das ist mein Name für immer, und so wird man mich anrufen von Geschlecht zu Geschlecht" (Ex 3,15). Rein sprachlogisch betrachtet, ist dieses Buchstabengebilde ein Monument der Einzigkeit. Eigentlich muss für diese Art Dasein, die keine empirische Entsprechung hat, auf die man mit dem Finger zeigen könnte und von der es kein Bild geben darf, eine eigene ontologische Klasse eingerichtet werden. Für sie gilt eine einmalige Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung. Der Gott Israels ist immer und überall anwesend, doch er ist unsichtbar und kann nicht dingfest gemacht werden. Dieses Moment der Vorenthaltung markiert den religionsgeschichtlichen Durchbruch, der zu einem vergeistigten Gotteskonzept führte.

Diese Mischung aus Präsenz und Vorenthaltung wird zum Proprium des biblischen Monotheismus. Die Verehrung des "Namens" in der die Heiligkeit der Schrift kulminiert, durchzieht nicht nur das Alte Testament, sondern auch das Neue.

Diese Mischung aus Präsenz und Vorenthaltung wird zum Proprium des biblischen Monotheismus. Die Verehrung des "Namens" in der die Heiligkeit der Schrift kulminiert, durchzieht nicht nur das Alte Testament, sondern auch das Neue. JHWH ist das Allerheiligste Israels. In der Tora wird er überall angerufen und ihn stellt auch Jesus im "ehrerbietigen Passiv" an den Anfang seines großen Gebetes: "Geheiligt werde dein Name". Der Jude Jesus stellt sich damit ins Zentrum seiner Religion, deren Zentrum der "Name" ist. Bis heute hat diese Onomalatrie in der jüdischen Rezitationspraxis die lebendigste Tradition. Wo in der Tora oder anderen Texten das Tetragramm, der "Name" auftaucht, wird er aus Ehrfurcht nicht in den Mund genommen, sondern durch "Ha schem" (d. h. "Der Name"), "Elohim" oder "Adonai" ersetzt. In dieser Praxis wird die für die Heilige Schrift charakteristische Simultaneität von Präsenz und Vorenthaltung exemplarisch und performativ getroffen.

Eines Wesens mit dem Vater?

Wie muss Paulus, dem frommen Juden und Schüler des Gamaliel zumute gewesen sein, als er einen Hymnus, den er wohl nicht einmal selbst erfunden, sondern aus der liturgischen Praxis der ersten Gemeinden übernommen hat, in seinem Brief an die Philipper feierlich aufrief? Wird in der Formulierung tò ónoma tò hypèr pãn ónoma der "Name, der größer ist als alle Namen", das Allerheiligste Israels überschrieben? In einer solchen Überschreibung durch den Namen Jesu wäre das heilige Tetragramm keineswegs zum Verschwinden gebracht worden, denn der Hymnus setzt mit einer großen Gleichsetzung ein: "Er war Gott gleich, (ísa theõ) hielt es aber nicht für einen geraubten Besitz (harpagmón) Gott gleich zu sein". Diesen gottgleichen Gipfel verlassen und sich "leer gemacht" zu haben (ekénosen), "bis zum Tod am Kreuz" entbindet die Dynamik der großen Erhöhung an deren zweitem Gipfelpunkt Jesus in die Herrlichkeit des Vaters einbezogen wird.

Die Frankfurter Silberinschrift zitiert den feierlichen Schluss des Philipperhymnus, der den Namen Jesu als Name über alle Namen verherrlicht vor dem jedes Knie sich beuge, das der "Himmlischen, der Irdischen, und der Unterirdischen". Jede Zunge soll bekennen, dass Jesus "Kyrios", der Herr ist und zwar zur Ehre Gottes des Vaters. Hier ist daran zu erinnern, dass in der Septuaginta, der griechischen Fassung des Alten Testaments das Tetragramm JHWH regelmäßig mit "Kyrios" wiedergegeben wird. Das Konzil von Nicäa dessen 1.700-Jahr-Jubiläum 2025 begangen wird, bekräftigt das Mysterium der Wesensgleichheit Jesu mit dem Vater, das im Philipperhymnus schon vorgebildet war.

Wenn der göttliche Name "für immer", der genannt werden wird "von Geschlecht zu Geschlecht" niemals und nirgendwo nicht da ist, besteht da nicht die Aussicht, dass JHWH auch einmal in einem Menschen – wo sonst – präsent sein kann? 

In der Formulierung des Namens, "der größer ist als alle Namen" wird die Verheißung des Tetragramms scharf gestellt. Sie besteht in nichts weniger als einer vorjesuanischen Christuserwartung. Wenn der göttliche Name "für immer", der genannt werden wird "von Geschlecht zu Geschlecht" (Ex 3,15) niemals und nirgendwo nicht da ist, besteht da nicht die Aussicht, dass JHWH auch einmal in einem Menschen – wo sonst – präsent sein kann? Ohne diese Erwartung eines Messias (griech. Christos) wäre Jesus nicht gefragt worden "Bist du es, der da kommen soll?" (Mt 11,3) Onomalatrie wird so zum Quell der Christologie.

Die Frankfurter Silberkapsel bezeichnet die Forschung als Phylakterion. Dieses "Rettungsmittel" soll "alle Anfälle" von seinem Träger, der sich "hingibt dem Willen des Herrn Jesus Christus, Gottes Sohn", fernhalten und ihm zu "Wohlbefinden" verhelfen. Durch die Präsenz des Gottesnamens, den er in einem Amulett am Körper trug, fühlte sich sein Träger gestärkt und bewacht. Das kann man natürlich unter den Verdacht der Magie stellen und mit der in der Antike und auch außerhalb des Christentums verbreiteten Kultur der Fetische und Talismane in Verbindung bringen. Eine harmlosere und durchaus akzeptable Interpretation geht von der biblischen Onomalatrie als dichtester Form von Grapholatrie aus, die hier in einem frommen Exerzitium zur Performanz gelangt war.

Hier der Text in der Rekonstruktion und Übersetzung von Markus Scholz:

(im Namen?) des Heiligen Titus.
Heilig, heilig, heilig!
Im Namen Jesu Christi, Gottes Sohn.
Der Herr der Welt
Widersetzt sich (nach Kräften?).
Allen Anfällen (?)/Rückschlägen (?).
(Der Gott?) Gewährt dem Wohlbefinden
Eintritt.
Dieses Rettungsmittel (?) schütze
Den Menschen, der sich
Hingibt dem Willen
des Herrn Jesus Christus, Gottes Sohn,
da sich ja vor Jesus Christus
alle Knie beugen: die Himmlischen,
die Irdischen und
die unterirdischen, und jede Zunge bekenne sich (zu Jesus Christus). 

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