Niemals geht man so ganz. Auch ein Jahr nach seinem Tod bewegt Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. noch immer die Gemüter. In ungewohnter Ausführlichkeit hat sich nun die Zeitschrift "Publik Forum" des jungen Theologen Joseph Ratzinger angenommen. Der emeritierte Münchener Philosoph Richard Heinzmann spielte dem Blatt die Kopien zweier Gutachten zu, die endlich die "historische Wahrheit" ans Licht bringen sollen über jenen Vorgang, den Ratzinger in seiner 1997 erschienenen Autobiografie "Aus meinem Leben" das "Drama der Habilitation" genannt hat.
Die Gutachten zur ersten und zweiten Fassung seiner wissenschaftlichen Qualifikationsschrift über die Theologie Bonaventuras stammen von dem bedeutenden Dogmatiker Michael Schmaus und waren bisher aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes unter Verschluss. Heinzmann, einer der wenigen noch lebenden Schmaus-Schüler, möchte seinem Lehrer nun Gerechtigkeit widerfahren lassen und mithilfe der unveröffentlichten Texte Ratzingers Darstellung korrigieren.
Wissenschaftlich wie moralisch will man damit den verstorbenen Papst diskreditieren, nicht zum ersten Mal.
Dieser habe "einen Teil seiner Memoiren geschönt", heißt es nun in den Medien, die aufgetauchten Dokumente zeigten "Korrekturbedarf bei Ratzingers Autobiografie". Denn statt Schmaus' Kritik an seiner Arbeit zu akzeptieren, habe er diesen "als missgünstigen Gegner dargestellt." Wissenschaftlich wie moralisch will man damit den verstorbenen Papst diskreditieren, nicht zum ersten Mal.
Zunächst, und insofern ist Heinzmanns Initiative sogar zu begrüßen, waren die genauen Gründe für Schmaus' Ablehnung von Ratzingers Habilitationsschrift bis heute immer wieder ein Spekulationsobjekt. Nun zeigt sich, gerade weil das erste sehr kritische Gutachten von 1956 und auch das zweite, mildere von 1957 veröffentlicht wurden, dass es ganz verschiedene Dinge waren, die der einflussreiche Professor an der Arbeit des jungen Kollegen monierte: formale und handwerkliche Mängel wie Zitationsfehler oder nicht berücksichtigte aktuelle Forschungsliteratur; Ratzingers allzu scharfes und selbstsicheres Urteil über den bisherigen Stand der Wissenschaft; überhaupt seine mehr systematische und in der Interpretation recht freie und zu wenig historische und problemorientierte Herangehensweise an das Thema und ähnliches.
All das stand freilich schon im Wesentlichen in Ratzingers Autobiografie und wird nun noch einmal aus der Sicht von Schmaus nachprüfbar. Übrigens gibt der Kardinal in seinen Erinnerungen dem Gutachter in manchen Punkten durchaus Recht, spricht von "einer für einen Anfänger wohl unangebrachten Schärfe", mit der er damals geurteilt habe, und von der Unzulänglichkeit der äußeren Form. Von einer "Beschönigung" seiner Memoiren kann also keine Rede sein, wohl aber vom Verstehen-Wollen des anderen und einer gehörigen Portion Selbstkritik, wie sie auch manchem gut zu Gesicht stände, der nun über ihn urteilt.
Eine Auseinandersetzung im geistigen Klima der Fünfzigerjahre
Was aus den Gutachten freilich nicht hervorgeht, ist das geistig-kirchliche Klima, in der dieser Gelehrtenstreit Mitte der Fünfzigerjahre stattfand und das eben auch zur "historischen Wahrheit" gehört, um die es Heinzmann geht. 1950 hatte nach Veröffentlichung der Enzyklika "Humani generis" durch Papst Pius XII. eine regelrechte Verfolgung "moderner" Theologen eingesetzt, in Frankreich bekamen bedeutende Jesuiten und Dominkaner in vorauseilendem Gehorsam reihenweise Lehrverbot, und auch in München wurde seitdem nur mit großer Vorsicht von der sogenannten "Nouvelle théologie" gesprochen.
Schmaus stand in dieser Diskussion der römischen Linie nahe und wurde später von Henri de Lubac, einem der Verfolgten, als "römischer Integralist" bezeichnet. Ratzingers Lehrer Gottlieb Söhngen hingegen litt unter dieser geistigen Enge und unterstützte seinen Schüler darin, seine Begabung für eine an Schrift und Überlieferung orientierte Erneuerung der Theologie einzusetzen.
Deshalb konnte Schmaus auch das "Ergebnis" von Ratzingers Darstellung des Offenbarungsbegriffs nicht gefallen, wie es dieser in "Aus meinem Leben" formuliert. Denn für ihn gehörte "das verstehende Subjekt" wesentlich zur Offenbarung hinzu, während Schmaus in seiner Dogmatik doch mehr den übernatürlichen Charakter und lehrhaften Inhalt der göttlichen Offenbarung betonte.
Gegen die Einschätzung von Heinzmann melden sich – ebenfalls aus unveröffentlichten Quellen – erhebliche Zweifel an.
Dass es Schmaus trotz seiner sachlichen Kritik an Ratzingers Arbeit darum gegangen sei, seine Habilitation "und damit die Voraussetzung für seine wissenschaftliche Karriere zu retten", die persönliche Animosität also nicht vom Gutachter, sondern vom Begutachteten ausgegangen sei und dies rückblickend auch noch einmal ein negatives Licht werfe auf Ratzingers Fähigkeit, mit Kritik umzugehen – gegen diese Einschätzung von Heinzmann melden sich – ebenfalls aus unveröffentlichten Quellen – erhebliche Zweifel an.
Schmaus wollte Ratzingers Berufung nach Bonn verhindern
Im Archiv des Dekanats der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn, an der Ratzinger nach erfolgreicher Habilitation von 1959 bis 1963 lehrte, befindet sich ein Brief des damaligen Fundamentaltheologen Albert Lang vom 23.7.1958 an den Dekan. Darin berichtet er, Schmaus habe ihn in einem Brief ausdrücklich davor gewarnt, Joseph Ratzinger zu berufen, weil dieser in einem jüngst im "Klerusblatt" veröffentlichten Artikel Thesen vertreten habe wie einst Adolf von Harnack, der führende Kopf der liberalen protestantischen Theologie. Dazu passt eine von Alfred Läpple überlieferte mündliche Äußerung Schmaus' nach Ratzinger Habilitationsvortrag: "Ihre subjektivistische Art, die Offenbarung zu deuten, ist nicht richtig katholisch."
Bei Ratzingers Habilitation ging es also wirklich um viel, ja, ums Ganze, nicht nur für ihn selber, sondern auch für Kirche und Theologie. Trotz und nicht wegen Schmaus wurde der junge Gelehrte zu einem der einflussreichsten Denker seiner Zeit. Die "historische Wahrheit" ist eben doch komplexer, als es zwei Gutachten erfassen können.