"Jesus ist Israel"Die israeltheologische Provokation bei Jean-Marie Lustiger

Der französische Kardinal hat stets auf die enge und unauflösliche Beziehung zwischen Kirche und dem Volk Israel hingewiesen. Für ihn ist Jesus Christus ohne die an das Volk Israel ergangene Offenbarung und die bleibende Erwählung, die damit verbunden ist, nicht zu verstehen.

Kardinal Jean-Marie Lustiger
© KNA-Bild

Durch den Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023, bei dem 1200 unschuldige Zivilisten auf grausame Weise ermordet wurden, ist Israel neu in den Fokus der medialen Aufmerksamkeit gerückt. Die militärische Selbstverteidigung führte mancherorts zu einer Opfer-Täter-Umkehr und provozierte in europäischen Hauptstädten antisemitische Kundgebungen, wie man sie bis vor Kurzem kaum für möglich gehalten hätte. Das ist allemal Anlass, daran zu erinnern, dass auch und vor allem Christen ihre Solidarität mit dem jüdischen Volk klar zu bezeugen haben.

In diesem Zusammenhang erscheint es angebracht, Aron Jean-Marie Kardinal Lustiger (1926–2007) ins Gedächtnis zu rufen, der als Jude, Katholik, Theologe und Bischof stets auf die enge und unauflösliche Beziehung zwischen Kirche und dem Volk Israel hingewiesen hat. Überdies hat er einen wertvollen Beitrag zur israeltheologischen Perspektive in der Christologie geleistet. Lustiger zeigte auf, dass die Erkenntnis der Person Jesu Christi nur im Horizont der Geschichte des Volkes Israel möglich ist. Schon 1979 legte er in einer Vortragsreihe, die erst 2002 unter dem Titel La promesse – Die Verheißung veröffentlicht wurde, die fundamentale Bedeutung des Jude-Seins Jesu Christi und dessen Verbindung zum Volk Israel dar.

In Jesus verwirklicht sich die Sohnschaft des heiligen Volkes

Hermeneutisch greift Lustiger auf das exegetische Konzept der corporate personality zurück, um die Beziehung des Mysterium Jesu Christi zum Volk Israel und zur Kirche aufzuweisen. Dieses Konzept findet sich schon in den biblischen Schriften, wie Joseph de Fraine es in seinem Werk Adam et son Lignage (1959) herausgearbeitet hat. Es erlaubt, den Einzelnen mit der ihm zugehörigen sozialen Gruppe zu identifizieren und damit Beziehung, Identifikation und Einheit auszudrücken. In seiner Exegese wichtiger Passagen des Matthäus-Evangeliums identifiziert Lustiger Jesus Christus mit dem Volk Israel, sodass nicht nur das Alte und das Neue Testament einander erhellen und die Kontinuität der biblischen Schriften zutage tritt, sondern darin das Mysterium der Person Jesu Christi sowie seine Beziehung zum Volk Israel aufleuchten: "Er [Jesus] ist Israel. Er ist Der, in dem sich die Sohnschaft des heiligen Volkes verwirklicht", bringt Lustiger diese Sicht in Gotteswahl (1992) auf den Punkt.

Lustiger meint dies keinesfalls im Sinne einer Substitution, sondern eher im Sinne einer Inklusion, die Christus und das Volk Israel eint. So erhelle die Sohnschaft Jesu Christi jene des Volkes Israel und umgekehrt. Ebenso verweise die messianische Sendung des Volkes Israel auf den Messias Jesus, in welchem sie verwirklicht werde. Jesus ersetze deshalb nicht das Volk Israel, sondern trage es in gewisser Weise in sich. Freilich könnte hier jüdischerseits der Vorwurf der Vereinnahmung laut werden, der nur mit Hinweis auf die jüdische Identität und die explizit christliche Perspektive Lustigers entkräftet werden kann.

Die Inkarnation musste im Volk Israel geschehen

Lustiger unterstreicht, dass das Jude-Sein Jesu kein Zufall, sondern vielmehr von großer theologischer Bedeutung ist: Jesus könne nur als der Sohn Gottes und als der Christus bekannt werden, weil er genealogisch zum Volk Israel gehört. Die Inkarnation Gottes "müsse" im Kontext des Volkes Israel geschehen. "Um als ‚König der Juden‘ und Gesandter des einzigen Gottes anerkannt zu werden, musste er in Bethlehem geboren werden", notiert Lustiger in "Gotteswahl". Es "bedurfte die Fleischwerdung einer Einbindung in die Jahrhunderte der Vorbereitung, um ihren Sinngehalt erkennen zu lassen", unterstreicht Papst Johannes Paul II. diesen Gedanken in seiner Ansprache an die Päpstliche Bibelkommission am 11.April 1997. Nur im Rahmen der Erwählungsgeschichte Israels sei es möglich, Gottes Selbstoffenbarung in der Person und Geschichte Jesu von Nazareth zu erkennen. Damit ist die Inkarnation Gottes als Sohn Davids eine erkenntnistheoretische Voraussetzung, um die göttliche Offenbarung wirklich verstehen zu können.

Wie die Sohnschaft, so sei auch die Messianität Jesu Christi nur im Kontext des jüdischen Gottes- und Weltverständnisses vorstellbar, konstatiert Lustiger.

Zugleich bestätigt die Judewerdung des Wortes Gottes die an das Volk Israel ergangene Offenbarung und seine Erwählung. Als der Sohn Davids gewordene Sohn Gottes verwirkliche Jesus konkret die Erwählung des jüdischen Volkes zur personalen Beziehung mit Gott (vgl. 1 Chr 17,13 par.) und zum Heil für die Völker (vgl. Gen 12,3). Denn durch das treue Befolgen der Tora erfülle Jesus die Sendung Israels vollkommen und sei deshalb die "Bestimmung der Sohnschaft des auserwählten Volkes", wie es Karl-Heinz Menke in seiner Studie Jesus ist Gott der Sohn (2012) pointiert ausführt. So nehme Jesus, der Sohn Gottes, auch die Sohnschaft des Volkes Israel als höchste Entfaltung des Menschseins auf und heile sie durch seine vertrauensvolle Liebeshingabe am Kreuz. Weil beide Ebenen der Sohnschaft in Jesus von Nazareth offenbar werden, bezeichnet Lustiger ihn als den "Sohn schlechthin".

Wie die Sohnschaft, so sei auch die Messianität Jesu Christi nur im Kontext des jüdischen Gottes- und Weltverständnisses vorstellbar, konstatiert Lustiger. Nach dem Zeugnis des Neuen Testaments erweise sich Jesus als jener erwartete Retter, der im Alten Testament verheißen wurde. So erörtert Lustiger in "Die Verheißung", dass im Matthäus-Evangelium dieses in Betlehem als Nachkomme Davids geborene Kind als der Messias Israels verkündet wird, den schon die Propheten (Jes 4,2; 11,1; Jer 23,5; Sach 3,8; 6,12) angekündigt haben. Wenn Jesus im Evangelium als "Nazoräer" bezeichnet wird (vgl. Mt 2,23), werde er durch ein Wortspiel mit dem Spross, der die Erlösung Israels vollbringen soll (vgl. Jes 11,1), identifiziert. Das entsprechende Wort im Hebräischen lautet nezer und bedeutet neben "Spross" auch der "Aufgesparte", der "Herausgenommene". Aufgrund dieser Doppelbedeutung beziehe sich die Bezeichnung Jesu also nicht nur auf dessen Abstammung aus dem Stamm Davids, sondern verweise schon auf die Singularität der Sendung Jesu, der gekommen ist, um sein Volk zu erlösen.

Das Leiden des Messias und das Leiden des Volkes

Die Messianität Jesu Christi findet ihren vollen Ausdruck im leidenden Messias, der sein Leben hingibt, um der Welt das Heil zu erwerben. Im leidenden Messias aber sei im Besonderen das Leiden des Volkes Israel aufgenommen. Denn durch die Hingabe an den Willen des Vaters verwirkliche der Sohn die messianische Sendung des Volkes Israel, Heil für die Welt zu sein, auf vollkommene Weise. Das bedeute im Sinne der Identifikation Gottes mit seinem Volk, dass das Leiden des jüdischen Volkes in das Leiden des Messias eingeschlossen ist.

Das Leiden des Volkes Israel, auch wenn es den Leidenden selbst ein Rätsel ist, sei durch die Sünde derer verursacht, die Gott selbst ablehnen, und Teil der messianischen Sendung. Ein nahezu unerträglicher Gedanke, der nur in der Nachfolge Christi verstanden und im vertrauenden Gehorsam gegenüber Gott, dem Urheber des Lebens, ertragen werden könne.

"Das gesamte Leiden Israels ist Teil des Leidens des Messias", bemerkt Lustiger in "Die Verheißung" durchaus provokant, bekräftigt aber: "Sollte eine christliche Theologie in ihre Sicht der Erlösung, des Kreuzesmysteriums, nicht einschreiben können, dass auch Auschwitz Teil des Leidens Christi ist, so befänden wir uns in völliger Absurdität." Das Leiden des Volkes Israel, auch wenn es den Leidenden selbst ein Rätsel ist, sei durch die Sünde derer verursacht, die Gott selbst ablehnen, und Teil der messianischen Sendung. Ein nahezu unerträglicher Gedanke, der nur in der Nachfolge Christi verstanden und im vertrauenden Gehorsam gegenüber Gott, dem Urheber des Lebens, ertragen werden könne. Damit beschönigt Lustiger weder das Leiden noch rechtfertigt er es, doch hält er daran fest, dass das Leiden nur aus christlicher Perspektive mit Sinn erfüllt werden kann, indem es mit Christus vereint zum Heil der Welt getragen und ertragen wird.

Durch seinen Kreuzestod, seine Auferstehung und die Geistsendung habe Jesus allen Menschen den Zugang zur Sohnschaft Israels, zu seiner Erwählung und zu seinen Verheißungen eröffnet. In Christus werden daher die Gläubigen aller Völker dem Volk Israel beigesellt und treten damit in die Erwählung, die Geschichte und die Verheißungen Israels ein, um in Christus an der Sohnschaft, in einer lebendigen und vertrauensvollen Gottesbeziehung teilzuhaben und das Gesetz im Geist Christi zu erfüllen. In seiner Ansprache "Die Gabe des Erbarmens" am 29. August 1982 erinnert Lustiger daran, dass die notwendige, heilvolle Versöhnung, die Christus vom Kreuz her geschenkt hat, es ermögliche, das Erbarmen selbst als Gabe zu empfangen. Diese wiederum anzunehmen, mache den Gläubigen zum Zeugen des Erbarmens und bewirke die Einheit und den Frieden unter den Brüdern und Schwestern.

Jesus Christus, der Sohn schlechthin, vereine sich mit dem Volk Israel und verwirkliche dessen Berufung, ohne es zu ersetzen, da das Zeugnis des auserwählten Volkes bis zum Ende der Zeiten bedeutsam und aktuell bleibe.

Lustiger hält die israeltheologische Perspektive deshalb für unaufgebbar, weil Jesus Christus ohne die an das Volk Israel ergangene Offenbarung und die damit verbundene (bleibende!) Erwählung Israels gar nicht verstanden werden könne. Jesus Christus, der Sohn schlechthin, vereine sich mit dem Volk Israel und verwirkliche dessen Berufung, ohne es zu ersetzen, da das Zeugnis des auserwählten Volkes bis zum Ende der Zeiten bedeutsam und aktuell bleibe. Das bedeutet für die Kirche, die Gemeinschaft derer, die in Christus eingegliedert ihm nachfolgen, vom Volk Israel zu lernen, mit ihm zu leiden und die ungeschuldet empfangene Gnade Gottes zu bezeugen. So erinnert Jean-Marie Lustiger alle Getauften an ihre Berufung, mit Christus und seinem Volk mitzuleiden und solidarisch zu ihm zu stehen. Ein Aufruf, der angesichts des wachsenden Antisemitismus auch heute wieder an Aktualität gewinnt.

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