Sinn und GottDie Philosophie des Absurden und ein Argument für die Existenz Gottes

Wir Menschen haben eine Sehnsucht nach Sinn. Wenn diese Sehnsucht gestillt werden kann, dann nur durch Gott.

Tizian, Sisyphos
Tizian (1490-1576): Sisyphos© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Für Albert Camus gab es eigentlich nur ein wirklich entscheidendes philosophisches Problem, nämlich den Selbstmord. Damit meinte der Literaturnobelpreisträger von 1957 aber nicht die ethische Frage, ob es erlaubt oder verboten sei, sich das Leben zu nehmen. Er stellte die Sache vielmehr auf den Kopf und fragte, welche Gründe eigentlich dafürsprechen, sich nicht umzubringen. Bevor irgendeinem anderen philosophischen Rätsel nachgegangen werden könne, müsse, so Camus, geklärt werden, "ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht".

Ob das Leben lebenswert ist, ist bei Camus identisch mit der Frage nach dem Sinn des Lebens. Im Französischen bedeutet das Wort "sens" nicht nur "Sinn", sondern auch "Zweck" und "Richtung" (die Einbahnstraße ist die "rue à sens unique"). In der Tat kommen bei der existenziellen Sinnfrage alle diese Bedeutungen zusammen: Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, sucht nach einem letzten Zweck oder Ziel, das seinem Lebensweg die Richtung vorgibt und in dem sein Dasein als Ganzes seine Erfüllung findet.

Die Auflösung einer sinngetränkten Seinserfahrung vollzog sich vor allem durch die Aufklärung und mündete schließlich in dem von Camus treffend eingefangenen "Gefühl der Absurdität".

Kein Mensch kann dauerhaft ohne Sinn leben. Die Sehnsucht nach Sinn – nach einem ultimativen Worumwillen unserer Existenz – ist eine anthropologische Gegebenheit wie die Bedürfnisse nach Nahrung und Obdach. Allerdings war es erst die Moderne, in der die Sinnfrage mit der Ausdrücklichkeit Camus’ gestellt werden konnte, ja sogar musste. Denn in vergangenen Zeitaltern standen Sinn und Zweck des Seins als solche nicht zur Disposition. Vielmehr galt im griechischen Altertum ebenso wie im glorreichen christlichen Jahrtausend, das wir meist als "Mittelalter" abtun, die Annahme von einer richtungsweisenden Zweckmäßigkeit der Natur, von der Sinnhaftigkeit des gesamten Kosmos, deren finaler Punkt Gott war. Für die philosophische Durchdringung und Untermauerung dieses fundamentalen Welt- und Gottvertrauens stehen exemplarisch die Namen Aristoteles und Thomas von Aquin.

Die Auflösung einer sinngetränkten Seinserfahrung vollzog sich vor allem durch die Aufklärung und mündete schließlich in dem von Camus treffend eingefangenen "Gefühl der Absurdität". Darin schlägt sich, wie er schreibt, "die Entzweiung zwischen dem Menschen und seinem Leben, zwischen dem Handelnden und seinem Rahmen" nieder. Das Absurde ist demnach kein Bestandteil der Welt, sondern ein Missverhältnis von Welt und Subjekt. "Absurd ist", so Camus, "der Zusammenstoß des Irrationalen mit dem heftigen Verlangen nach Klarheit, das im tiefsten Innern des Menschen laut wird."

Wozu das alles?

Keinem Kind der Moderne – und als solches muss den Gesetzmäßigkeiten der Dialektik zufolge insbesondere auch jeder ihrer Gegner gelten – dürfte dieses Gefühl der Absurdität gänzlich fremd sein. Fraglos ist gerade der moderne Mensch zu erstaunlichen Verdrängungsleistungen in der Lage. Zudem ist seine Lebenswelt von einem materiellen und medialen Überfluss geprägt, der nicht zuletzt dazu gemacht scheint, das Sinnvakuum mit allerlei Reizen und Zerstreuungen zu füllen, was freilich ein aussichtloses Unterfangen ist. So ist es schwer vorstellbar, dass es heute auch nur einen einzigen Menschen gibt, der in seinem Innersten nicht früher oder später einmal von der Frage erschüttert wird: "Wozu das alles?".

Die philosophische Bedeutung Camus’ liegt darin, diese Frage auf radikale Weise ernst genommen zu haben. Ganz im Gegensatz etwa zum naturwissenschaftlichen Reduktionismus, der die Sinnfrage für sinnlos erklären möchte, gerade dadurch sich aber vor das unlösbare Rätsel stellt, warum wir überhaupt Naturwissenschaften treiben sollten.

Jedoch konnte sich Camus auch nicht zu einem Theismus durchringen, der in der Aufgabe, Gott zu erkennen und zu lieben, den letzten Sinn und Zweck unserer Existenz sieht. In seinen Augen wäre dies ein "philosophischer Selbstmord". Stattdessen gilt es nach Camus, die unauflösliche Spannung, die im Gefühl der Absurdität liegt, auszuhalten.

Die Freude des Siyphos

Nicht umsonst ist für ihn die mythische Figur des Sisyphos der absurde Held schlechthin. Dessen Aufgabe, auf ewig unter größter Anstrengung einen Fels bergauf zu rollen, nur um ihn im letzten Moment wieder hinabstürzen zu sehen, ist die vielleicht schlimmste Strafe der Götter: ein Mensch, verdammt zu völliger Sinnlosigkeit. Was aber, fragt Camus, wenn wir uns vorstellen, dass Sisyphos sich die unlösbare Aufgabe zu eigen macht, das heißt: sie nicht als fremdbestimmte Strafe oder als gottgegebenes Schicksal, sondern als selbstgewähltes Geschick annimmt? Auf diese Weise nämlich könne Sisyphos, und mit ihm der moderne Mensch, dem bis dahin Sinnlosen einen Sinn geben: "Darin besteht die verborgene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache. Ebenso lässt der absurde Mensch, wenn er seine Qual bedenkt, alle Götzenbilder schweigen."

Camus’ Sisyphos ähnelt einem beleidigten Kind, das, nachdem es einen Wettlauf verloren hat, erklärt, es habe sowieso nicht Erster werden wollen.

Der kraftvolle Trotz, mit dem hier der Absurdität der Existenz begegnet wird, mag zunächst imponieren, aber überzeugend ist er nicht. Denn der absurde Held Sisyphos macht sich letzten Endes etwas vor, er betrügt sich. Der Sinn, nach dem er sich sehnt, ist nämlich ein objektiver, der sich als solcher nicht willkürlich abändern oder erfinden lässt. Camus’ Sisyphos ähnelt einem beleidigten Kind, das, nachdem es einen Wettlauf verloren hat, erklärt, es habe sowieso nicht Erster werden wollen. Die existenzialistische Devise, es gebe "kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden kann", ist schlicht nicht wahr. Sicher, die Fähigkeit des Menschen zum Selbstbetrug ist schier unendlich. Zur eigenständigen Sinngebung des Sinnlosen ist er jedoch nicht in der Lage. Sofern er ehrlich mit sich ist, muss jeder Sinnsuchende zugeben, dass ihn die leere Floskel, der Weg sei das Ziel, nicht befriedigen kann.

Die Sehnsucht nach Sinn als Argument für die Existenz Gottes

In Wahrheit lässt sich aus der unauslöschlichen Sehnsucht nach Sinn, die Camus zu Recht diagnostiziert hat, sogar ein Argument für die Existenz Gottes konstruieren. Dazu ist nur ein wenig Schützenhilfe von C. S. Lewis nötig. In seinem bekanntesten apologetischen Werk Mere Christianity (1952) findet sich folgende Überlegung: Lebewesen haben nur solche angeborenen Bedürfnisse, für die es prinzipiell auch eine Befriedigung gibt. Konkret: Kleinkinder sind hungrig – es gibt Nahrung; Entenküken wollen schwimmen – es gibt Wasser; Liebende verspüren sexuelle Begierde – es gibt Sex. Wenn aber der Mensch, so Lewis weiter, in sich ein Bedürfnis verspürt, das nichts auf dieser Welt stillen kann, dann lautet die naheliegendste Erklärung, dass er nicht für diese Welt gemacht ist.

Dieser Gedanke lässt sich nun auch auf das anthropologische Grundbedürfnis nach Sinn übertragen. Wenn nämlich der Sinn, wie wir oben argumentiert haben, tatsächlich ein Grundbedürfnis des Menschen ist und alle anderen Grundbedürfnisse des Menschen grundsätzlich erfüllt werden können, dann ist es plausibel anzunehmen, dass dies auch für den Sinn gilt.

Hierbei handelt es sich zwar nicht um einen deduktiven Beweis, aber doch um einen guten Grund, der die Beweislast auf denjenigen überträgt, der abweichender Ansicht ist. Mit anderen Worten: Es bräuchte gewichtige Gründe, um anzunehmen, dass unser Bedürfnis nach Sinn prinzipiell nicht befriedigt werden kann und wir deshalb mangels Alternativen zum Selbstbetrug à la Camus Zuflucht nehmen sollten.

Wenn aber unsere Sehnsucht nach Sinn gestillt werden kann, dann nur durch Gott. Denn offenbar ist jeder irdische Zweck, der einer Entscheidung oder Handlung in unserem Leben zumindest temporär Sinn verleiht, selbst wiederum endlich und vergänglich. Mit dem unausweichlichen Tod bricht auch die Kette der Zwecke, aus denen sich der Sinn unseres Tuns speist, ab.

Wenn unser Bedürfnis nach Sinn wirklich befriedigt werden soll, muss dieser Sinn mit einem letzten, unvergänglichen, unendlichen Zweck verbunden sein.

Philosophen wie Heidegger mögen Recht damit haben, in unserer Endlichkeit eine Bedingung für eine authentische Existenz zu sehen; der Tod ist und bleibt dennoch der ultimative Sinnzerstörer. So sehr wir auch aus dem Beruf, den Freunden oder der Familie kurzfristig Sinn zu schöpfen vermögen – angesichts des Todes erweist sich das alles als nichtig und damit sinnlos.

Wenn daher unser Bedürfnis nach Sinn wirklich befriedigt werden soll, muss dieser Sinn mit einem letzten, unvergänglichen, unendlichen Zweck verbunden sein. Diesen Zweck zu erreichen, würde bedeuten, auf unverlierbare Weise mit dem Worumwillen unserer Existenz im Ganzen in Kontakt zu treten. Die unendliche und unsterbliche Quelle des Sinns kann jedoch unmöglich Teil einer vergänglichen Welt sein, die mit jedem Tag dem Kältetod näherkommt, sondern muss jenseits des materiellen Universums liegen. Eine letzte, unendliche und transzendente Quelle des Sinns ist aber das, was von jeher "Gott" genannt wird.

Als zur Sinnsuche verurteilte Wesen stehen wir also vor der Entscheidung, uns dem trotzigen Selbstbetrug der Philosophie des Absurden anzuschließen oder aber uns Gott zuzuwenden, auf dessen Existenz wir auch auf Grund unserer tiefen Sehnsucht nach Sinn schließen dürfen.

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