"Der Papst steht unter dem Wort Gottes"Ein Gespräch mit Kardinal Gerhard Ludwig Müller

Nach über zwölf Jahren im Amt hinterlässt Franziskus eine Kirche im Umbruch – und einen Dienst, der weltweit Aufmerksamkeit, aber auch Spannungen ausgelöst hat. Simon Kajan sprach mit Kardinal Müller über das geistliche Vermächtnis dieses Pontifikats, über das Verhältnis von Lehre und Pastoral, von Kirche und Welt – und über die Frage, wie ein Papst bleiben kann, was er sein muss: Zeuge Christi.

Papst Franziskus verlieh am 1.7.2024 im Vatikan Kardinal Gerhard Ludwig Müller den Ehrenrang eines Kardinalpriesters.
Papst Franziskus verlieh am 1.7.2024 im Vatikan Kardinal Gerhard Ludwig Müller den Ehrenrang eines Kardinalpriesters.© Vatican Media/Romano Siciliani/KNA

Simon Kajan: Papst Franziskus ist heimgerufen worden. Was bleibt Ihnen – als Kardinal und Theologe – besonders von diesen letzten Tagen in Erinnerung?

Gerhard Ludwig Müller: Der Zusammenfall seines letzten öffentlichen Auftritts mit dem österlichen Segen und seinem Tod am nächsten Morgen – das hat mich tief bewegt. Für uns Christen ist der Tod nicht einfach ein Ende, sondern der Übergang zum auferstandenen Herrn. Im Licht dieser Hoffnung müssen wir auch auf das Leben und Wirken dieses Papstes schauen: als auf das Zeugnis eines Mannes des Glaubens, getragen vom Vertrauen auf die Gnade.

Kajan: Was bleibt Ihnen abseits der theologischen Debatten in Erinnerung?

Müller: Er hat nicht als Individualperson versucht, einfach beliebt zu sein. Entscheidend ist doch, dass der Papst – als Nachfolger des Apostels Petrus – die Menschen auch durch seine Freundlichkeit und Glaubwürdigkeit letztlich zum Glauben an Jesus Christus hingeleitet hat. Dieser Glaube allein kann uns retten. Die Apostel, auch der Papst, handeln im Auftrag Christi – aber als Menschen wie wir alle. Sie können nicht unsere Erlösung garantieren. Sie können nur auf Christus verweisen.

Amt, Mensch und Herkunft

Kajan: Franziskus kam aus Lateinamerika, aus Argentinien. Inwiefern hat diese Herkunft sein Pontifikat geprägt – auch theologisch und kulturell?

Müller: Der Mensch ist natürlich von seiner Herkunft geprägt. Aber wer in der Kirche Verantwortung übernimmt, besonders auf höchster Ebene, der muss über diese Herkunft auch hinauswachsen. Der Papst ist nicht der Pastor von Buenos Aires, sondern das sichtbare Prinzip der Einheit der universalen Kirche. Er soll seine Wurzeln nicht verleugnen, aber er sollte in andere Erfahrungswelten eintauchen – gedanklich, geistlich, kulturell. Unser Papst hatte, um ehrlich zu sein, wenig Verhältnis zu den slawischen Nationen. Er war dort nie. Und das Verhältnis zwischen Südamerika und Nordamerika ist ein eigenes Kapitel. Er muss das Heil der ganzen Kirche im Blick behalten. Seine Herkunft ist Teil seiner Person, aber nicht das Maß seiner Sendung.

"Franziskus hat daran erinnert: Der Glaube darf nicht eurozentrisch bleiben. Jeder Mensch – in jeder Gesellschaftsschicht und auf jedem Kontinent – ist berufen, in Christus seine Würde zu finden."

Kajan: Papst Franziskus hat die Option für die Armen stark betont. Wie beurteilen Sie diesen Akzent – auch im Licht der Tradition der Soziallehre der Kirche?

Müller: Franziskus hat daran erinnert: Der Glaube darf nicht eurozentrisch bleiben. Jeder Mensch – in jeder Gesellschaftsschicht und auf jedem Kontinent – ist berufen, in Christus seine Würde zu finden. Aber dabei dürfen wir nicht vergessen: Es geht um Erlösung, nicht nur um Umverteilung. Es geht nicht darum, aus der Option für die Armen ein ideologisches Projekt zu machen. Wenn man Gerechtigkeit und soziale Ordnung fordert, dann muss das auf dem Boden des christlichen Menschenbildes geschehen – nicht auf Grundlage marxistischer oder populistischer Vorstellungen, die in vielen Ländern katastrophal gescheitert sind. Gerade in Lateinamerika sehen wir das: Kommunistische Regime haben oft nicht den Armen geholfen, sondern den Mittelstand zerstört und neue Abhängigkeiten geschaffen. Sozialethik muss dem Evangelium verpflichtet bleiben, das nicht Systeme erlöst, sondern Menschen. Bei allem berechtigten Lob für neue Akzente sollte man nicht vergessen: Schon Papst Leo XIII. hat mit Rerum novarum die soziale Frage in die Mitte kirchlicher Reflexion gestellt. Franziskus hat dies gewissermaßen personalisiert und emotionalisiert – mit Gesten und Worten, die aufrütteln wollten.

Kajan: Dem Papst ist auch die Binde- und Lösegewalt gegeben. Bedeutet das, dass er über die Glaubenslehre und das Leben der Kirche beliebig bestimmen könnte?

Müller: Das Papstamt ist göttlich gestiftet, aber nicht göttlich besetzt. Der Papst ist Stellvertreter Christi – in seiner Menschheit, nicht in seiner Gottheit. Er steht nicht über der Offenbarung, sondern unter dem Wort Gottes, das die Kirche treu weiterträgt. Es ist ein Irrtum zu glauben, der Papst könne über Schrift und Tradition verfügen. Er ist gebunden an das Bekenntnis der Kirche. Der Primat darf nicht missverstanden werden als absolute Gewalt über Lehre und Kirche. Schon Petrus wurde von Paulus zurechtgewiesen, als er in Antiochien Unklarheit über das Evangelium stiftete. Diese Szene – kommentiert von Kirchenvätern wie Hieronymus und Augustinus – zeigt: Die Wahrheit steht über dem Amt. Und nur, wenn das Amt ihr dient, erfüllt es seine Sendung.

"Wir müssen bei moralischen Stellungnahmen politische und soziologische Kontexte mitbedenken."

Kajan: Franziskus hat die Nöte von Migranten stark betont. Sie haben aber mehrfach eine differenziertere Sicht angemahnt. Wie sieht diese aus?

Müller: Natürlich ist das Thema Migration ein zutiefst menschliches. Es geht um unmittelbare Hilfe für Menschen in Not. Aber es muss eben auch gefragt werden, was dahintersteht. Wer macht sich diese Not zunutze? Da gibt es Schlepperbanden, organisierte Kriminalität, die das Elend ausbeutet. Das ist keine bloße Rede – das findet real statt. Und wir dürfen das nicht ausblenden. Insofern müssen wir bei moralischen Stellungnahmen politische und soziologischen Kontexte mitbedenken. Sonst kann es sogar sein, dass diese Schlepper sich am Ende als moralische Instanzen aufspielen, obwohl es ihnen nur um den eigenen Profit geht.

Interreligiöser Dialog: Ethik und Wahrheit

Kajan: Sie haben die Erklärung von Abu Dhabi verteidigt, aber auch klargestellt, dass es Missverständnisse gab. Was war problematisch?

Müller: Die Absicht war gut: den Dialog zu fördern, auf Grundlage des natürlichen Rechts eine gemeinsame Ethik zu formulieren. Aber man muss unterscheiden: Die Religionen als kulturelle Realität sind nicht gleichwertig in Bezug auf die Wahrheit. Alle Menschen sind von Gott gewollt – aber nicht alle Religionen als solche. Wenn man das verwischt, entsteht der Eindruck, es sei egal, woran man glaubt. Das ist nicht katholisch. Der Papst ist kein Vorsitzender eines interreligiösen Rates, sondern Zeuge für Christus. Das darf nie relativiert werden. Sonst verliert die Kirche ihr Herzstück.

Kirche und Staat: in China und im Westen

Kajan: Eine weitere Kontroverse entspann sich um eine Vereinbarung des Vatikans mit der Volksrepublik China über Bischofsernennungen. Wie bewerten Sie diesen Schritt?

Müller: In China haben wir jetzt ganz offensichtlich eine atheistische Diktatur mit einer antichristlichen Ideologie, wo die Kirche über Jahrzehnte unterdrückt wurde, mit all den Opfern – bis hin zu Gefängnis und Tod. Das darf man nicht vergessen. Die vatikanische Diplomatie darf nie so weit gehen, dass sie aus diplomatischem Vorteil die Grundsätze des Glaubens preisgibt. Es kann kein Staat das Recht haben, Bischöfe zu ernennen – weder ein kommunistischer noch ein demokratischer. Das ist eine Kompetenz, die nur der Kirche zusteht. Wenn man hier Kompromisse macht, verliert man mehr, als man gewinnt.

Kajan: In westlichen Demokratien erlebt man mitunter auch eine neue Nähe zwischen Kirche und Staat – insbesondere wo es öffentlich-rechtliche Strukturen gibt. Sehen Sie hier auch eine Gefahr?

Müller: Dieses ganze staatskirchliche Denken ist meines Erachtens grundsätzlich hundertprozentig abzulegen – es ist für die Kirche schlecht und auch für die Gesellschaft kein Gewinn. Wenn Religion nur noch kulturelles Beiwerk ist, dann geht das Christentum in Äußerlichkeiten unter. Man hält vielleicht äußerlich an der Religion fest – und vertritt politisch den Materialismus oder Neoatheismus. Das ist gefährlich. Der Glaube darf nicht Funktionsträger des Staates werden. Wir dürfen uns nicht in eine Funktionalisierung hineinziehen lassen – weder durch staatskirchliche Arrangements noch durch eine falsch verstandene Allianz mit ideologischen Agenden.

"Wir laufen Gefahr, eine Kontrollgesellschaft zu errichten, in der Personalität und Freiheit durch Funktionalität ersetzt werden. Der Mensch wird steuerbar gemacht, verfügbar – und verliert sich selbst. Die Kirche muss dem eine klare Anthropologie entgegensetzen: Der Mensch ist nicht Produkt, sondern Person."

Kajan: In Ihren jüngsten Äußerungen warnen Sie auch vor dem Transhumanismus. Was steht auf dem Spiel?

Müller: Wenn der Mensch zum Projekt technischer Optimierung wird, verliert er seine Seele. Es geht nicht um Fortschrittsfeindlichkeit, sondern um ein realistisches Bild vom Menschen. Der Mensch ist nicht nur biologisches Material, das perfektioniert werden kann. Er ist Geschöpf Gottes. Das ist eine Grenze, die nicht überschritten werden darf. Wir laufen Gefahr, eine Kontrollgesellschaft zu errichten, in der Personalität und Freiheit durch Funktionalität ersetzt werden. Der Mensch wird steuerbar gemacht, verfügbar – und verliert sich selbst. Die Kirche muss dem eine klare Anthropologie entgegensetzen: Der Mensch ist nicht Produkt, sondern Person. Und sein Wert ist unverfügbar.

Die Frage nach Gott ist nicht tot

Kajan: Trotz aller Krisen hört man von vielen Konversionen, etwa in den Vereinigten Staaten, in England – und nun zuletzt 10.000 Erwachsenentaufen in Frankreich zu Ostern. Was bedeutet das?

Müller: Wenn 10.000 Erwachsene in Frankreich sich zu Ostern taufen lassen, dann zeigt das: Die Frage nach Gott ist nicht tot. Viele junge Menschen stellen heute wieder die Sinnfrage – und sie lassen sich nicht abspeisen mit Schlagworten oder Ablenkung. Sie wollen wissen, woher sie kommen, wohin sie gehen, was das Ziel ihres Lebens ist. Ich glaube, viele Jugendliche lassen sich eben von Christus überzeugen. Sie sehen: Er ist der Einzige, auf den man im Leben und im Sterben vertrauen kann. Christus ist nicht nur ein Lehrer der Moral, sondern der Sohn Gottes, der unsere Schuld getragen hat, der für uns gestorben und auferstanden ist.

Kajan: Wo sehen Sie neue theologische Ansätze, die auch zur Selbstvergewisserung der Kirche beitragen?

Müller: Ich begegne immer wieder jungen Menschen, die mit Ernst, mit Offenheit, mit intellektueller Redlichkeit Theologie betreiben. Viele von ihnen lassen sich nicht von den großen Sprüchen der Entkirchlichung beeindrucken. Sie laufen nicht dem Zeitgeist hinterher, sondern wollen dem Geist Gottes folgen. Ich denke an katholische Universitäten wie Notre Dame in den USA oder hier in Rom zum Beispiel bei den Dominikanern das Angelicum. Dort wird gearbeitet – mit Tiefe, mit Glaubenstreue, mit geistlichem Ernst.

"Wenn man in der Ehepastoral große Weitherzigkeit zeigt, aber Traditionalisten mit Verboten belegt, dann stimmt das Verhältnis nicht mehr."

Kajan: Viele junge Menschen entdecken heute die alte Liturgie oder klassische Formen und geistliche Traditionen. Wie deuten Sie dieses Phänomen – auch mit Blick auf die Debatten um die Unterdrückung der alten Liturgie?

Müller: Nicht wenige junge Menschen entdecken die alte Liturgie mit ihrem Schweigen, der Anbetung. Diese Schönheit spricht an. Die Liturgie darf keine bloße Fassade sein, hinter der kein geistliches Gebäude mehr steht. Die Fassade bleibt, aber das Gebäude ist funktionalistisch – ohne Ursprung. Das merken die jungen Leute. Sie wollen Tiefe, nicht Inszenierung. Sie suchen Christus. Dennoch bin ich nicht der Meinung, dass die alte Form allein für Rechtgläubigkeit steht – da gibt es auch Übertreibungen. Aber man darf pastorale Fragen nicht mit Härte und Autoritarismus beantworten. Wenn man in der Ehepastoral große Weitherzigkeit zeigt, aber Traditionalisten mit Verboten belegt, dann stimmt das Verhältnis nicht mehr. Und das beschädigt das Gerechtigkeitsgefühl der Gläubigen. Man kann nicht etwas kategorisch verbieten, was an sich legitim ist.

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