Wer in der Theologie einen Beitrag zur Diskussion stellt, kann nur selten damit rechnen, dass auch tatsächlich darüber debattiert wird. Viele Angehörige dieser Zunft halten sich an die Devise: "Streite nie mit einem Dummkopf. Es könnte sein, dass die Zuschauer den Unterschied nicht bemerken!" (Mark Twain). Besonnene Menschen gehen daher dem Streit aus dem Weg. Denn sie wissen: Im Streiten liegt die Tendenz zur Eskalation. Im Streit regiert die Logik von Sieg und Niederlage – und am Ende freuen sich unbeteiligte Dritte. Allerdings verlangt die moderne Aufmerksamkeitsökonomie, dass man eine Sache als strittig und ihren Streitwert als beträchtlich ausweisen muss, um Beachtung zu finden. Wer als ebenso streitbarer wie kluger Kopf gilt, genießt dann das Privileg, nicht ignoriert zu werden. Allerdings muss er sich sogleich auf einen heftigen Schlagabtausch einstellen. Mancher Schlag zielt dabei unter die Gürtellinie. Er geht bei einem Boxkampf zwar nicht in die Wertung ein, erzeugt aber eine schmerzhafte Wirkung. Einschläge oberhalb dieser Linie zählen hingegen und gelten ob ihrer gelegentlichen Härte als Wirkungstreffer. In theologischen Kontroversen erzielt einen solchen Treffer, wer einem Text zwar eine berechtigte Problemstellung zu attestieren vermag, aber seine Problemlösung als problematisch erweisen kann.
Göckes Kritik bezieht ihre Vehemenz aus einer partiellen Überzeichnung meines Anliegens und meiner Intention.
Mein auf der Plattform feinschwarz.net veröffentlichter Text "Radikale Säkularität" hat ein für mich unerwartetes und geteiltes Echo erhalten. Ich registriere emphatische Zustimmung und polemische Verrisse. Von Benedikt Paul Göcke – unbestritten ein kluger Kopf – stammt eine kritische Stellungnahme zum wissenschaftstheoretischen Design meines Plädoyers für eine säkularitätskompatible Theologie, die säkularisierungsresistenten Bezügen der Rede von Gott nachgeht. Sie verdient es, nicht ignoriert zu werden. Allerdings bezieht Göckes Kritik ihre Vehemenz aus einer partiellen Überzeichnung meines Anliegens und meiner Intention.
Was den Naturalismus intellektuell attraktiv macht
Mir geht es um die Frage, wie die Theologie auf weitreichende Säkularisierungsprozesse eingehen kann, die im Bewusstsein vieler Zeitgenossen zu einem nahezu vollständigen Verlust von Anknüpfungspunkten der christlichen Gottesrede geführt haben. Welche theologische Lektion ist mit dem Umstand verbunden, dass die traditionellen Auskünfte für die Relevanz des Gottesgedankens keine Resonanz mehr finden? Wie geht die Theologie damit um, dass ein naturalistisch grundiertes Weltbild zunehmend Verbreitung findet und keinen Platz mehr lässt für die Kategorie der Transzendenz? Ist die Fundamentaltheologie gut beraten, die Lehren aus dem statistischen Befund religiöser Indifferenz primär von der Pastoraltheologie und Religionspädagogik ziehen zu lassen? Ich habe den Eindruck, dass die Erörterung dieser Fragen in Theologie und Kirche vielfach ausgelassen wird und man stattdessen unmittelbar zum Projekt einer fälligen "Neuevangelisierung" übergeht. Das Risiko dieses Projekts, zu scheitern, steigt meines Erachtens in dem Maße, wie man keinen genuin theologischen Zugang zum Komplex "radikaler Säkularität" findet und lediglich in kulturpessimistischer Tönung den Relevanz- und Plausibilitätsverlust des europäischen Christentums registriert oder zu einer Verstärkung des missionarischen Engagements aufruft. Die eigentlich theologischen Herausforderungen dieser Konstellation kommen nicht zur Sprache, wenn folgende Fragen ausgelassen werden: Ist die Theologie in der Lage, mit theologischen Gründen darzulegen, dass es zwar keine innerweltliche Notwendigkeit geben mag, um auf den Gedanken zu kommen, (an) Gott zu denken, aber deswegen der Gottesgedanke dennoch nicht Bedeutung und Relevanz verlieren muss? Welches theologisch relevante Wahrheitsmoment birgt der Umstand, dass Menschen nichts vermissen, wenn das Wort "Gott" aus ihrem Sprachschatz verschwindet? Kann die Tatsache, dass man leben kann, als ob es Gott nicht gäbe, ihren Grund in der Daseinsverfassung des Menschen und seiner Welt haben?
Ich plädiere ich keineswegs für eine Selbstauslieferung der Theologie an fragwürdige Prämissen "naturalistischen" Denkens und für eine unbesehene Übernahme seiner atheistischen Prämissen. Ich halte etliche Spielarten dieses Konzepts weder für alternativlos noch für zwingend. Aber wenn sich die Theologie mit ihm kritisch auseinandersetzen will, kommt sie nicht daran vorbei, in einem ersten Schritt nach seiner Berechtigung und nach seinem Wahrheitsmoment zu fragen.
Bei der Erörterung dieser Fragen plädiere ich keineswegs für eine Selbstauslieferung der Theologie an fragwürdige Prämissen "naturalistischen" Denkens und für eine unbesehene Übernahme seiner atheistischen Prämissen. Ich halte etliche Spielarten dieses Konzepts weder für alternativlos noch für zwingend. Aber wenn sich die Theologie mit ihm kritisch auseinandersetzen will, kommt sie nicht daran vorbei, in einem ersten Schritt nach seiner Berechtigung und nach seinem Wahrheitsmoment zu fragen. Die Beschäftigung mit den großen religionskritischen Provokationen der Moderne – Feuerbach, Marx, Nietzsche, Freud – war für die Theologie immer dann produktiv, wenn sie sich deren Verdachtsmomente zu eigen machte und nach den Projektions-, Illusions- und Entfremdungsgefährdungen des Glaubens an Gott fragte. Gerade diese Offenheit machte sie diskursfähig und bewahrte sie vor steriler Apologetik und fundamentalistischer Borniertheit. Warum sollte man mit naturalistischer Religionskritik anders umgehen? Führt nicht die Pauschalabwehr des Theorems einer Eigengesetzlichkeit bzw. kausalen Geschlossenheit innerweltlicher Abläufe, um unverdrossen an der Vorstellung göttlicher Interventionen in die Welt festhalten zu können, viel eher in die Gefahr einer Selbstimmunisierung der Theologie? Sollte sich die Theologie nicht in einem ersten Schritt danach erkundigen, was naturalistische Weltbilder intellektuell attraktiv macht? Im nächsten Schritt wartet dann ohnehin eine ungleich größere theologische Herausforderung auf ihre Bewältigung: Wie kann man Gott mit einer Welt zusammenzudenken, deren Selbstverständnis darauf angelegt ist, in wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen, politischen und ethischen Belangen "ohne" Gott auszukommen, und zugleich erfolgreich bestreiten, dass der Gottesgedanke gänzlich entbehrlich, verzichtbar oder beliebig geworden ist?
Bei der Suche nach einer säkularisierungsresistenten Fragestellung, die geeignet ist, die Frage nach Gott aufkommen zu lassen, beziehe ich mich in meinem Feinschwarz-Artikel nicht auf innerweltliche Verlegenheiten. Ich konzentriere mich nicht auf religiös deutbare Kontingenzerfahrungen, die mit Ereignissen "in" der Welt verbunden sind, sondern stelle die Frage ins Zentrum, was es letztlich "mit" der Welt auf sich hat. Dabei zitiere ich eine klassische metaphysische Denkfigur: "Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?" Ich stimme Benedikt Paul Göcke zu, dass mit dieser Zuspitzung der Eindruck entstehen kann, dass damit die Gottesfrage aus allen innerweltlichen Bezügen herausgenommen wird, sodass nichts in der Erfahrungswelt des Menschen mehr infrage komme, um "die rationale Plausibilität des christlichen Glaubens zu rechtfertigen." Allerdings habe ich in zahlreichen anderen Veröffentlichungen immer wieder auf die Notwendigkeit einer diskursiven Glaubensverantwortung hingewiesen und die Anschlussfähigkeit einer religiös formatierten Wirklichkeitserfahrung für rationale Wirklichkeitsdeutungen demonstriert (vgl. Praxis des Evangeliums – Partituren des Glaubens, Würzburg 2015). Mehrfach habe ich auch auf ein existenzielles Bezugsproblem aufmerksam gemacht, an dem Relevanz und Rationalität des Glaubens gemessen werden können (vgl. u.a. Zeit und Sinn, Religionsphilosophie postsäkular, Paderborn 2010). Dabei handelt es sich um die Problematik der Daseinsakzeptanz angesichts des kategorisch Inakzeptablen: "Wie kann man ein Leben annehmen (und nicht bloß hinnehmen), in dem es zu viel des Üblen gibt, das ohne Wenn und Aber unannehmbar ist?" – "Welche guten Gründe rechtfertigen es, ein Leben anzunehmen das gekennzeichnet ist vom Widerstreit zwischen Widerfahrnissen, die nicht wiedergutzumachen sind, und Ereignissen, die auf keinen Fall schlechtgeredet werden dürfen?" Mit diesen Fragen erspare ich mir auch nicht die Wahrnehmung des "Bösen", wie Göcke insinuiert, sondern stelle sie in meinen Texten als "Pathodizee" gerade an den Anfang aller religionsphilosophischen und fundamentaltheologischen Überlegungen. Sein Vorwurf, mein Ansatz zeichne sich aus durch die "Chuzpe der völligen Irritationsfreiheit bezüglich allem, was in der Welt geschieht", entbehrt jeglicher Grundlage. Dies gilt auch für die Vorhaltung, letztlich laufe mein Plädoyer für eine säkularitätskompatible Theologie darauf hinaus, "dass die Theologie des Orchesters der Wissenschaften verwiesen wird, da sie sich zur Laut- und Stimmlosigkeit im Gefüge der wissenschaftlichen Wirklichkeitserschließung entschieden hat." Ich erlaube mir den statistischen Hinweis: Die Liste meiner Publikationen zu religions- und kulturwissenschaftlichen Themen, zu sozialethischen und zeitdiagnostischen Fragestellungen, bei denen eine "christliche Weltdeutung" auf den Prüfstand kommt, ist länger als die Liste meiner systematisch-theologischen Arbeiten.
Die Schöpfung ist nicht "gottverlassen"!
Breiten Raum in Göckes Replik nimmt die Skepsis ein, ob das von mir favorisierte Theorielayout einer sowohl säkularitätskompatiblen als auch säkularisierungsresistenten Theologie überzeugen kann. Säkularitätskompatibel ist die Konzeption eines Gott-Welt-Verhältnisses, wenn sie in der Lage ist, dieses Verhältnis so zu denken, dass dabei die Autonomie von Mensch und Welt uneingeschränkt gewahrt wird. Säkularisierungsresistent ist sie, wenn es dabei gelingt, das radikale Sich-zu-Eigen-sein von Mensch und Welt mit dem Sachverhalt zusammenzudenken, dass weder Mensch noch Welt den Unterschied von Sein und Nichts von sich aus (und zu ihren Gunsten) konstituieren und wahren können.
Eine ontologisch verstandene Gottverwiesenheit impliziert aber nicht die Notwendigkeit eines lebenspraktisch und bewusst vollzogenen Gottesbezuges.
Ob eine solche Konstellation widerspruchsfrei denkbar ist, spiele ich mit einem Rückgriff auf die Kategorie der Geschöpflichkeit und auf den Gottesbegriff der Konstitution "Dei filius" des Ersten Vatikanums (DH 3001) durch. Es mag sein, dass ich damit Anleihen aus dem "klassischen Theismus" zeichne. Allerdings nehme ich dabei einen Paradigmenwechsel von der Substanzmetaphysik zu einer Relationalen Ontologie vor: Wenn das Wort "Gott" für jene Größe steht, die den Unterschied von Sein und Nichts zugunsten von Existenz, Identität und Autonomie von Mensch und Welt konstituiert, dann ist alles, was existiert, unüberbietbar und bleibend bezogen auf Gott und zugleich von ihm radikal verschieden (vgl. Gott – Offenbarung – Heilswege, Würzburg 2011). Mir ist schleierhaft, wie man in dieser Aussage die Wiederkehr eines "klassischen Deismus" erkennen kann. Die unüberbietbare und ausnahmslose Gottverwiesenheit des Geschaffenen unterstreicht doch, dass zu keinem Zeitpunkt im ontologischen Sinne von einer "gottverlassenen" Schöpfung gesprochen werden kann. In der Perspektive einer Relationalen Ontologie meint "creatio ex nihilo" keineswegs eine Umstandsbestimmung des Daseins, die Mensch und Welt jemals abstreifen oder hinter sich lassen können. Eine ontologisch verstandene Gottverwiesenheit impliziert aber nicht die Notwendigkeit eines lebenspraktisch und bewusst vollzogenen Gottesbezuges. Im Unterschied zur ontologischen Unmöglichkeit eines Seinkönnens ohne Gott ist der Gottesbezug lebenspraktisch nur eine notwendige Möglichkeit: Man muss ihn vollziehen können. Aber der Vollzug selbst ist kein Muss. Und was ein Mensch nicht unbedingt muss, kann er auch unterlassen oder als Einladung zur Indifferenz deuten.
Göcke kann es sich nicht verkneifen, en passant auf vermeintliche Desiderate und Defizite einer Theologie zu verweisen, die im Format einer Relationalen Ontologie auftritt und auf den Gedanken der Welttranszendenz Gottes insistiert. Er wittert die Preisgabe der Denkmöglichkeit einer göttlichen Offenbarung und einer "weltlichen Heilsgeschichte". Offenkundig greift er hier zum Stilmittel des "Whataboutism" und lenkt die Debatte auf Themen, um die es in meinem Feinschwarz-Artikel gar nicht geht. Aber wenn er schon an einer thematischen Diskursverlagerung interessiert ist, sollte er auch jene Veröffentlichungen zur Kenntnis nehmen, in denen ich mich umfassend zum Sachstand äußere und Lösungsvorschläge unterbreite (vgl. Gottes Wort – Gottes Zeichen, Würzburg 2020). Pikanterweise finden sich diese auch in der Dokumentation einer Tagung zum Dialog mit Vertretern der Analytischen Theologie, an der Göcke selbst teilnahm (vgl. Analytische und Kontinentale Theologie im Dialog, Freiburg i.Br. 2021).
Mit Interesse lese ich Göckes Ausführungen zur "Rückkehr der natürlichen Theologie" und zur Bereitschaft von Vertretern der Analytischen Theologie, in "hochmetaphysische Diskurse" einzusteigen. Dass dabei auch das Erbe der Scholastik neu gewürdigt wird, findet durchaus meine Sympathie. Allerdings weckt die Verwendung scholastischer Terminologie in der theologischen Zunft wahrscheinlich mehr Ressentiments, als dass sie affirmative Resonanzen erzeugt. Und es ist auch zweifelhaft, ob damit Wirkungstreffer im Kampf gegen naturalistische Reduktionismen erzielt werden können. Keineswegs vertrete ich die Auffassung, dass man "aus dem Geist des Naturalismus" Theologie treiben sollte. Aber mit einer Immunisierung gegenüber den Provokationen des Naturalismus wird diesem Unternehmen auch kein Erfolg beschieden sein. Deswegen sollte die Theologie von Zeit zu Zeit ihre argumentative Schlagkraft mit unterschiedlichen Sparringspartnern trainieren. Hinter mir liegen einige Runden mit Vertretern dieser Denkrichtung und ein kurzer Schlagabtausch mit Benedikt Paul Göcke, den ich als streitbar, aber nicht als streitsüchtig erlebe.
Streit kann verbinden
Die Kunst des rechten Streitens ist (nicht nur) in der Theologie derzeit in einer prekären Verfassung. Sie tritt zutage in Kontroversen, in denen das Missverstehen bewusst aufrechterhalten und gepflegt wird. Im Streit geht darum häufig die Saat der Zwietracht auf. Streiten kann aber auch verbinden – indem man mit vereinten Kräften einen gemeinsamen Gegner bekämpft oder indem man sich (mit ihm) zusammenrauft. Streiten verbindet Menschen, weil ihnen etwas gemeinsam ist – nämlich die Sache, um die gerungen wird. Zwar sieht es in der Theologie oft so aus, als würde der Streit offenbaren, dass die Differenzen zwischen den Beteiligten größer sind als ihre Gemeinsamkeiten. Es kann aber auch vorkommen, dass der Streit lediglich zeigt, wo die Differenzen liegen: nämlich eingelassen in je größere Gemeinsamkeiten. Manchmal bedarf es sogar des Streites, damit herauskommt, dass die Gemeinsamkeiten zahlreicher oder größer sind als die Unterschiede. Ich bin gespannt, wie sich in den nächsten Jahren der Bestand von Unterschieden und Gemeinsamkeiten entwickelt, wenn von unterschiedlichen theologischen Ansätzen aus eine gemeinsame Herausforderung angegangen wird: Gott mit einer Welt zusammendenken, die ohne das Denken an und über Gott auskommen will.