Der neue Atem GottesEine unveröffentlichte Predigt Benedikts XVI. zum Zweiten Sonntag der Osterzeit

Es war ein Ereignis von unglaublicher Wucht, das alles verändert hat: An Ostern wurde der Mensch neu geschaffen.

Benedikt XVI. 2010 in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo
© Osservatore Romano/Romano Siciliani/KNA

Die Predigten, die der verstorbene Papst Benedikt XVI. im privaten Kreis hielt  vor seinen Haushälterinnen, seinem Privatsekretär Georg Gänswein und einzelnen Gästen  sind bislang nicht öffentlich bekannt. Der Papst sprach bei diesen Gelegenheiten frei in italienischer Sprache; das Gesagte wurde ohne sein Wissen aufgezeichnet und später verschriftlicht, wie die WELT im Dezember berichtete. Etwa hundert Predigten, die Benedikt als Emeritus hielt, sowie 30, die er als amtierender Papst im privaten Kreis hielt, sollen es sein. Die Verlagsbuchhandlung des Heiligen Stuhls plant eine Veröffentlichung. Wir dokumentieren hier eine Predigt vom 11. April 2010, gehalten in der päpstlichen Sommerresidenz Castel Gandolfo, in eigener Übersetzung.

In den beiden Erscheinungen des auferstandenen Herrn, von denen im heutigen Evangelium berichtet wird, werden zwei Aspekte des Geheimnisses der Auferstehung erkennbar. In der ersten Erscheinung sehen wir vor allem die Macht Gottes, wir sehen die Herrlichkeit Gottes, in der er jetzt kommt: Er hat die Macht, durch verschlossene Türen zu gehen, er verleiht den Heiligen Geist und die Macht, Sünden zu vergeben. In der zweiten Erscheinung sehen wir vor allem seine Menschlichkeit, die geblieben ist: ein Mensch mit einem realen Körper zum Anfassen, der seine Wunden bis in Ewigkeit trägt, der, obwohl er der Sohn Gottes in der Herrlichkeit Gottes ist, Mensch bleibt, mit einem menschlichen Körper mit Fleisch und Knochen, wie das Lukasevangelium sagt.

Aber achten wir gut auf die Details. Das Datum ist wichtig: der erste Tag, der erste Tag der Woche, der Tag nach dem Sabbat. Für die Juden war der Sabbat das Zentrum ihrer Zeitstruktur, und hier sehen wir eine Revolution in deren Auffassung. Im Brief des Apostels Paulus an die Korinther sehen wir, dass schon die erste christliche Gemeinde, die Christen, sich am ersten Tag, dem Tag nach dem Sabbat, versammeln, und bereits in der Offenbarung des Johannes – und wir befinden uns noch im ersten Jahrhundert – hat dieser erste Tag einen neuen Namen: "Tag des Herrn", "Sonntag". Dieser erste Tag ist der "neue" Tag der Begegnung mit Gott geworden, der Tag der Versammlung der Gläubigen um den auferstandenen Christus.

Wir müssen uns die Tiefe dieses Wandels vor Augen halten, die Vision der Zeit in der Struktur der Woche. Das Gebot des Sabbats war nicht nur Teil des Dekalogs, als drittes Gebot dieses grundlegenden Gesetzes Israels und der Menschheit, sondern auch Teil des Schöpfungsberichts: Die Schöpfung ist so strukturiert, dass sie mit dem Sabbat endet, alles ist geschaffen, damit es einen Ort gibt, an dem Gott verehrt und angebetet werden kann, und alles ist gerade im Hinblick auf diesen Tag des Zusammenseins von Schöpfer und Geschöpf geschaffen. Der Sabbat bestimmt die Struktur der Zeit, ja des menschlichen Wesens.

Nun sehen wir, dass diese Revolution im Verständnis der Zeit auch die erste Schöpfung betrifft: nicht mehr der Sabbat, sondern der erste Tag bestimmt die Struktur der Woche; wir begreifen, dass etwas Radikales geschehen ist. Ohne ein Ereignis von unglaublicher Wucht, das alles verändert hat, kann man diesen Wandel in der Zeitstruktur, den Übergang vom Sabbat als dem inneren Dreh- und Angelpunkt der jüdischen Existenz hin zum Sonntag nicht erklären.

Für mich ist diese Revolution im Zeitverständnis einer der sichersten Beweise dafür, dass an diesem ersten Tag etwas absolut Außergewöhnliches geschehen ist, nämlich tatsächlich die Begegnung mit dem Auferstandenen. Seitdem hat sich die Struktur der Zeit verändert, und der erste Tag ist der Tag, an dem die Gemeinschaft der Gläubigen Jesus begegnet; die Zeit wird durch den Sonntag strukturiert. Damit ändert sich auch die Symbolik der Vision dieses Tages: Während der Sabbat der Tag der Ruhe war, der zwischen Gott und Mensch, zwischen dem Menschen und der ganzen Schöpfung geteilt wurde, ist der erste Tag der Tag der Schöpfung, für die Christen der Tag der neuen Schöpfung. Wir sehen, dass mit diesem Tag die Schöpfung von Neuem beginnt und wir in die Dynamik der neuen Schöpfung eintreten.

Warten auf ein Zeichen

Aber betrachten wir genauer, wie das geschieht.

Jesus tritt durch verschlossene Türen ein. In dieser Situation sehen wir die widersprüchlichen Gefühle in den Seelen der Jünger. Einige von ihnen sind in Jerusalem geblieben. Unter den gegebenen Umständen wäre es normal gewesen, nach Galiläa zurückzukehren; stattdessen sind sie versammelt, sie sind in einer Versammlung, das heißt, sie warten auf etwas.

Die Türen werden aus Angst verschlossen, dass Gott vielleicht zu anspruchsvoll sein könnte, mein Leben verändern könnte, mir meine Gewohnheiten wegnehmen könnte; dann steht Gott, steht Christus vor verschlossenen Türen. Aber auf der anderen Seite ist im Herzen immer eine Erwartung, dass Gott auch zu mir kommen soll, auch mich berühren soll.

Sie warten, weil sie wissen, dass das Grab leer ist, sie haben es selbst gesehen, sie haben gehört, wie die Frauen sagten, sie hätten den Herrn gesehen, sie haben gehört, wie Maria von Magdala sagte, sie habe den Herrn gesehen und berührt. Sie warten also darauf, auch ein Zeichen zu bekommen, ihm auch begegnen zu können. Sie haben diese Erwartung infolge der Ereignisse des Ostermorgens – sind aber gleichzeitig voller Angst und schließen die Türen. Eine widersprüchliche Situation, die mir auch für so viele Situationen der Menschheit in der Kirche und außerhalb der Kirche bezeichnend erscheint. Die Türen werden aus Angst verschlossen.

Die Türen werden aus Angst verschlossen, dass Gott vielleicht zu anspruchsvoll sein könnte, mein Leben verändern könnte, mir meine Gewohnheiten wegnehmen könnte; dann steht Gott, steht Christus vor verschlossenen Türen. Aber auf der anderen Seite ist im Herzen immer eine Erwartung, die Erwartung, dass der Gott, der sich in der Geschichte gezeigt hat, der zu so vielen Menschen gesprochen hat, der zu den Aposteln gesprochen hat, dass dieser Gott auch zu mir kommen soll, auch mich berühren soll. In diesem Widerspruch, der in der Geschichte der Normalfall ist, beten wir, dass der Herr kommt, durch die verschlossenen Türen unserer Herzen, so vieler Herzen: "Komm, tritt ein, zeige dich und zeige deine Gegenwart, gib uns die Gewissheit, dass du die ewige Liebe bist. Hilf uns, dich zu sehen, dich zu berühren, mit dir zu leben".

Der Herr tritt ein und grüßt: "Friede sei mit euch". Dieser Friedensgruß hat in diesem Moment eine außerordentliche Neuheit, denn er kommt aus der Nacht des Todes, aus der Nacht der Unterwelt, in die er hinabgestiegen war, um Adam, um die gefangene Menschheit, zu befreien. Er kommt zugleich aus der Kraft Gottes, aus dem Licht; Gott selbst bringt das Licht und den Frieden Gottes. So verändert er die Welt, indem er mit göttlichem Frieden eintritt, als Sieger über den Tod, über all die Gefängnisse, die die Menschheit gefangen halten. "Der Friede sei mit euch". Die Reaktion der Apostel ist wunderschön: "Als sie den Herrn sahen, freuten sie sich", heißt es im Evangelium. Wer den Herrn sieht, der freut sich. Wieder beten wir, dass der Herr uns ein wenig von seiner Gegenwart sehen lässt und unsere Herzen mit Freude berührt: "Ja, du bist gegenwärtig, du bist mit uns!"

Der Atem Gottes

Nun sehen wir den Zusammenhang mit dem Thema der neuen Schöpfung, mit dem ersten Tag. Der Friede, den er uns schenkt, hat zwei Dimensionen. Erstens die Sendung des Friedens: "Wie ich vom Vater gesandt bin, so sende ich euch.“ Ich bin ein Bote, ein Überbringer seines Friedens. Der Friede ist kein Besitz, den die Jünger wie einen Schatz in ihrer Seele tragen; der Friede – dieser neue Friede Gottes – ist ein Geschenk, das sie in die Welt bringen müssen, die in so viel Vielfalt, Gegensätzen und Gewalt lebt, die dem Frieden entgegenstehen. Dann haucht er sie an und sagte: "Empfangt den Heiligen Geist".

Hier sehen wir wirklich den ersten Tag, den Tag der Schöpfung, an dem uns die Heilige Schrift mit ihren schönen Bildern erzählt, dass Gott den Menschen aus Lehm formt: Der menschliche Körper wird geschaffen, geformt von den Händen Gottes, aber er ist zunächst nur Körper. Dann „hauchte“ Gott, sagt die Heilige Schrift, und der Mensch wurde eine lebendige Seele.

Dieses Mal ist der Mensch schon lebendig, eine lebendige Seele, um es mit der Schrift zu sagen, aber der Herr haucht erneut und gibt den Heiligen Geist. Der heilige Paulus sagt: Aus einer lebendigen Seele wird ein lebensspendender Geist. Der Dimension des normalen Menschen wird eine neue hinzugefügt: der Heilige Geist, der neue Atem Gottes. Wir begreifen, dass der Atem Christi der Heilige Geist ist. Mit Christus zu atmen, bedeutet gleichsam, den Heiligen Geist einzuatmen, damit er in uns eindringen und uns verwandeln kann. So sind wir nicht mehr nur Menschen, sondern wir sind von der göttlichen Wirklichkeit durchdrungen, wir sind lebensspendender Geist, wir sind Kinder Gottes in wirklicher Gemeinschaft mit Gott.

Dies ist der Prozess, der durch die machtvolle Tatsache der Neuschöpfung des Menschen ausgelöst wird: Wie am ersten Tag dringt der Atem Gottes in uns ein und verleiht uns eine neue Dimension der Zugehörigkeit zu Gott. Die Kirchenväter haben in diesem Zusammenhang gesagt, dass das Wort "nach dem Bilde Gottes geschaffen" bedeutet: im Vorgriff auf Christus. Alle Menschen sind nach dem Vorbild Christi geschaffen und damit Ebenbilder Gottes. Es bedeutet, dass wir in dem Maße, in dem wir Christus gleich werden, Ebenbilder Gottes sind, und wir werden wie Christus, das Ebenbild Gottes, nicht aufgrund von etwas Äußerem, sondern aufgrund dessen, was in uns atmet. Wir atmen den Atem Christi. Wir leben innerlich wie Christus und werden so wirklich zu Ebenbildern Gottes, zu Kindern Gottes, zu Mitgliedern der Familie Gottes.

Wir sehen, wie wahr es ist, dass die Sünde ein innerer Schlamm ist, sie ist die Zerstörung des Menschen, und wir brauchen die Erneuerung, die Reinheit, die Läuterung, die nur aus dieser Neuheit des Atems Gottes kommen kann; eine Läuterung, die uns umwandelt, die uns erneuert und uns wirklich zum Ebenbild Gottes macht.

Damit schenkt der Auferstandene Vergebung. Der Heilige Geist ist Vergebung, Verwandlung, Erneuerung, Läuterung des Menschen, und nur in dieser Läuterung, in dieser Überwindung des Schlamms der Sünde sind wir wirklich Ebenbilder Gottes. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die Worte "Sünde", "Keuschheit", "Reinheit" so sehr belächelt, dass man sie kaum noch verwenden konnte. Jetzt spricht die Welt selbst zu uns von der Sünde als der Wurzel allen Übels, spricht zu uns von der Reinheit, die wir nicht haben. Wir sehen, wie wahr es ist, dass die Sünde ein innerer Schlamm ist, sie ist die Zerstörung des Menschen, und wir brauchen die Erneuerung, die Reinheit, die Läuterung, die nur aus dieser Neuheit des Atems Gottes kommen kann; eine Läuterung, die uns umwandelt, die uns erneuert und uns wirklich zum Ebenbild Gottes macht.

Beten wir zum Herrn, dass er die Welt erneuert, die Christen erneuert, die Priester erneuert, uns alle erneuert in der Gnade seines Geistes, in der Schönheit seiner Vergebung, und uns so zum Ebenbild Gottes macht, dass Gott in uns in der Welt erscheint, weil Christus in uns lebt.

Das offene Herz für alle

Schauen wir nun noch einmal kurz auf die zweite Erscheinung. Thomas hatte gezweifelt, Jesus zeigt sich gerade in seiner Leiblichkeit und Thomas kann die Wunden Jesu berühren. Der Gottessohn ist für immer Mensch, das menschliche Fleisch hat seinen Platz im Herzen Gottes selbst, es ist berührbar. Eines scheint widersprüchlich: Thomas kann sein durchbohrtes Herz berühren. An sich ist ein durchbohrtes Herz ein totes Herz; aber Jesus lebt, und das durchbohrte Herz ist das offene Herz für uns alle, in dem wir alle die göttliche Liebe finden können, die uns erneuert und uns die Freude schenkt, nach der wir dürsten und die wir so sehr brauchen. Das durchbohrte Herz ist ein lebendiges, offenes Herz: Das ist die Neuheit des auferstandenen Herrn, die Quelle unserer Freude, des wahren Lebens.

Und der Herr sagt: "Selig sind die, die nicht gesehen und doch geglaubt haben". Danken wir dem Herrn für dieses "selig", und beten wir, dass auch wir – in unserem Leben, in der Begegnung mit Christus, in den Sakramenten, im Gebet, in den vielen Erfahrungen des Guten in der Welt – sein Herz berühren und sehen, dass er lebt, "obwohl wir nicht sehen" im Sinne des Thomas. Und lasst uns mit dem heiligen Thomas beten: "Mein Herr und mein Gott". Amen!

© Dicastero per la Comunicazione  Libreria Editrice Vaticana

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