Selbstbestimmung?Engelbert Recktenwald verteidigt Kant gegen seine theologischen Liebhaber

Wer kriterienlose individuelle Selbstbestimmung für moralische Autonomie ausgibt, beruft sich zu Unrecht auf den Königsberger Philosophen.

Immanuel Kant
Johann Gottlieb Becker (1720-1782), Porträt von Immanuel Kant© gemeinfrei/Wikimedia Commons

Nach Wittgenstein hat ein philosophisches Problem die Form: "Ich kenne mich nicht aus" (Philosophische Untersuchungen, § 123). Gute Philosophie stiftet demnach Orientierung im Denken. Dazu muss an die Stelle des Verworrenen das Klare treten und der Unterschied Einzug halten in die ununterschiedene Mehrdeutigkeit. Genau diese Art von begrifflicher Orientierungshilfe leistet Engelbert Recktenwald mit seinem neuen Buch "Autonomie. Eine philosophische Klärung" (Heiligenkreuz 2024).

"Freiheit", "Selbstbestimmung" und "Autonomie" sind zu den zentralen Vokabeln des ethischen Diskurses geworden. Auch unter Theologen ist die Berufung auf diese Begriffe gang und gäbe. Für viele Theologen stellt das Naturrecht, die Forderungen des Dekalogs und das doppelte Liebesgebot Christi keine hinreichende ethische Grundlage mehr dar. Im Zeitalter "nach Kant" könne in ethischen Fragen allein die menschliche Selbstbestimmung ausschlagend geben. In Deutschland steht der Münsteraner Theologieprofessor Thomas Pröpper (1941–2015) für ein Denken, das den Begriff der Freiheit zum theologischen A und O gemacht hat. Unter den heutigen Theologen wären etwa Georg Essen, Stephan Goertz, Magnus Striet oder Saskia Wendel zu nennen.

Selbstbestimmung und Sittengesetz

Wer sich den ethischen Autonomiediskurs der Gegenwart, vor allem innerhalb der Theologie, etwas genauer anschaut und mit dem vergleicht, was Immanuel Kant – die Autorität, auf die sich alle Freiheits-, Selbstbestimmungs- und Autonomieethiker berufen – geschrieben hat, wird überrascht oder gar verwirrt sein. Denn wo heute der normative Anspruch auf beliebige persönliche Entscheidungen und die Idee eines normativen Wandels dominieren, findet sich bei Kant ein gegenüber jeder Willkür unerbittliches, überzeitliches Sittengesetz. Wie geht das zusammen?

Recktenwalds Buch hält die Antwort auf diese Frage bereit: Die heutigen Autonomiedenker in der Theologie berufen sich schlicht zu Unrecht auf Kant, wenn sie (kriterienlose) individuelle Selbstbestimmung für moralische Autonomie ausgeben. Um zu erkennen, warum das so ist, muss man allerdings mit Recktenwald einige begriffliche Differenzierungen nachvollziehen.

Zum einen, so der Autor, wird mit "Autonomie" die Fähigkeit bezeichnet, "sich selbst in seinem Wollen und Handeln zu bestimmen" (47). Diese Selbstbestimmung lasse sich dann sowohl als ein prinzipielles Vermögen als auch als eine "graduierbare Fähigkeit" (47) verstehen. Beides sei Selbstbestimmung in einem rein deskriptiven Sinne. Eine normative Dimension bekommt dieser Selbstbestimmungsbegriff nach Recktenwald erst dann, wenn er als ein (moralisches oder legales) Recht angesehen wird. Es sei dieser rechtliche Begriff der Selbstbestimmung, der von theologischer Seite regelmäßig mit dem kantischen Begriff der Autonomie verwechselt werde und zu ethischen Konfusionen und Fehlurteilen führe.

Wenn Kant von Autonomie spricht, geht es nicht um ein Anspruchsrecht darauf, das eigene Wollen und Tun nach eigenem, subjektiven Gutdünken zu bestimmen. Vielmehr ist der Mensch aus kantischer Sicht gerade dann autonom, wenn er seinen subjektiven Willen nach Maßgabe des objektiven Sittengesetzes bestimmt.

Mit dieser Diagnose trifft Recktenwald den Nagel auf den Kopf. Denn wenn Kant von Autonomie spricht, geht es nicht um ein Anspruchsrecht darauf, das eigene Wollen und Tun nach eigenem, subjektiven Gutdünken zu bestimmen. Vielmehr ist der Mensch aus kantischer Sicht gerade dann autonom, wenn er seinen subjektiven Willen nach Maßgabe des objektiven Sittengesetzes bestimmt. Autonomie heißt demnach moralische Pflichterfüllung und nicht Recht auf die Durchsetzung des Eigenwillens. Die Freiheit der kantischen Autonomie ist also ohne Moral und Pflicht undenkbar. Bei Theologen wie Thomas Pröpper werde dieses Verhältnis auf den Kopf gestellt. "Man könnte", so Recktenwald, "die beiden Konzepte, die sich hier gegenüberstehen, auf folgende Formel bringen. Kant: 'Frei wird der Mensch durch Moralität.' Pröpper: 'Moralisch wird der Mensch durch Freiheit'" (92).

Besonders deutlich wird der Unterschied zwischen dem von manchen Theologen in Anspruch genommenen rechtlichen Autonomiebegriff einerseits und dem Autonomiebegriff Kants andererseits am Beispiel des Suizids, das daher aus guten Gründen im Laufe des Buches immer wieder angeführt wird. Wer in der Selbsttötung einen Ausdruck individueller Selbstbestimmung sieht und dies als ein Recht verbürgt sehen möchte, kann nicht den kantischen Autonomiebegriff im Sinn haben. Denn Kants Autonomieauffassung zufolge handelt es sich beim Suizid um die ultimative Pflichtverletzung gegenüber der eigenen Person. Der Selbstmord ist nach Kant ein irreversibler Akt der Heteronomie, insofern bei ihm die Unlust am Leben – und damit eine Neigung – über den unveräußerlichen Wert der Person, das heißt: ihre Würde, gestellt wird.

Die Absurdität der Autonomie überwinden

Die Verteidigung der kantischen Autonomiemoral gegen eine entstellende Vereinnahmung von theologischer Seite ist an sich schon überaus lesenswert. Was Recktenwalds Buch aber darüber hinaus auszeichnet, ist die Art und Weise, wie der Verfasser das kantische Denken konsequent bis an seine Grenzen und darüber hinaus verfolgt. Recktenwald folgt damit der von Kant formulierten hermeneutischen Maxime, es gelte einen Autor besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat. Der neuralgische Punkt für dieses "Besserverstehen" der kantischen Ethik ist die allgemeine Vernunft, die als Gesetzgeberin des Sittengesetzes in Erscheinung tritt. "Worum", so Recktenwalds entscheidende Frage, handelt es sich "bei dieser überindividuellen Vernunft eigentlich" (137)?

Eine individuelle Vernunft kann beim Sittengesetz nämlich schon deshalb nicht gemeint sein, weil ansonsten der Einwand greifen würde, den Elizabeth Anscombe gegen die kantische Autonomiemoral formuliert hat. Die Katholikin und Schülerin Wittgensteins hielt die Vorstellung einer menschlichen Selbstgesetzgebung für "absurd", weil der Begriff der Gesetzgebung eine überlegene Macht aufseiten des Gesetzgebers verlange ( "Modern Moral Philosophy", in: Philosophy, 33/124, 1958, 1–19, hier: 2: "[T]he concept of legislation requires superior power in the legislator."). Das erinnert an die Kritik, die Joseph de Maistre an Rousseaus Theorie der Souveränität geübt hat. Der Begriff des Gesetzes, so de Maistre, beinhalte, dass jemand die Zwangsgewalt über andere ausübe. Es sei aber schlicht sinnlos zu sagen, eine Person oder ein Volk besitze Zwangsgewalt gegen sich selbst oder übe sie gegen sich selbst aus (Von der Souveränität, Berlin 2000, 108). Die von de Maistre und Anscombe identifizierte Absurdität der Autonomie verschwindet nur, wenn die Forderungen der gesetzgebenden Vernunft unabhängig vom individuellen Willen bestehen. Diese Einsicht führt bei Recktenwald zu zwei weiteren.

Eine objektive Wertordnung, die dem individuellen Gutdünken vorgegeben ist, kann nicht menschengemacht sein.

Zum einen arbeitet er im Laufe des Buches den Gedanken aus, dass die kantische Ethik letztlich eine objektive Wertordnung voraussetzt, in der der Würde als absolutem Wert die zentrale Stellung zukommt (190). Auch damit hat Recktenwald recht. Denn ohne die Annahme einer solchen objektiven Wertordnung greift ein Einwand, den G. W. F. Hegel in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts gegen Kants Ethik artikuliert hat: Der kategorische Imperativ prüft lediglich die Übereinstimmung des Willens mit sich selbst und bleibt dabei ganz formal. Diebstahl etwa lässt sich Hegels Kritik zufolge mit dem kategorischen Imperativ nur dann als unmoralisch kritisieren, wenn sich jemand fremdes Eigentum als sein eigenes aneignen möchte. In diesem Fall liegt unter den Bedingungen der Universalisierung, die der kategorische Imperativ fordert, ein Widerspruch vor: In einer Welt, in der Eigentum grundsätzlich nicht eine solches anerkannt würde, könnte man nicht einmal stehlen; es gäbe die Institution des Eigentums schlicht nicht. Wer nun aber als radikaler Kommunist in der Absicht stiehlt, die Institution des Eigentums abzuschaffen, der hat keinen inkonsistenten und damit auch keinen sittenwidrigen Willen. Kurz: Der Wert des Eigentums muss schon vorausgesetzt werden, um relativistische Implikationen des kategorischen Imperativs zu vermeiden.

Eine objektive Wertordnung, die dem individuellen Gutdünken vorgegeben ist, kann aber, wie Recktenwald aufzeigt, nicht menschengemacht sein. Der Mensch erfährt diese Wertordnung, vor allem die Würde sowie das Sittengesetz, das mit ihr verbunden ist, daher auch auf rezeptive Art und Weise. Daraus zieht Recktenwald den Schluss, dass die Vernunft, anders als Kant dachte, letztlich nicht "ein Vermögen der Spontaneität", sondern ein "rezeptives Vermögen" ist (156).

Autonomie und Theonomie

Von hier aus gelangt Recktenwald zu seiner vielleicht überraschendsten Einsicht: Die kantische Autonomie führt, wenn sie konsequent zu Ende und damit über ihre eigenen Beschränktheiten hinaus gedacht wird, zur Theonomie: zur Gesetzgebung Gottes. Denn die gesetzgebende Vernunft, an der sich das menschliche Wollen und Denken auszurichten hat, damit es im erläuterten Sinne "autonom" sein kann, ist gerade keine Menschenvernunft, aber auch kein unpersönliches Abstraktum. Als ontologischer Ort des absoluten Wertes, der Würde, ist diese allgemeine Vernunft vielmehr Person. Mit anderen Worten: Sie ist göttliche Vernunft. In Übereinstimmung mit der göttlichen Vernunft zu wollen und zu handeln, befreit uns von unserem empirischen Ego, das den Schwankungen der Neigungen und Leidenschaften ausgesetzt ist, und verschafft uns Anteil am göttlichen Sein. In diesem Sinne ist Theonomie zugleich die Möglichkeit der Theosis, der wohlverstandenen Vergöttlichung des Menschen. "Theonomie", so Recktenwald daher, "ist mit Autonomie nicht nur kompatibel. Theonomie ist Autonomie in Höchstform" (194).

Recktenwalds Buch beweist, dass es möglich ist, Kant-Kenner zu sein, der Philosophie des Aufklärers mit maximalem hermeneutischem Wohlwollen zu begegnen und zugleich aus überzeugenden philosophischen Gründen über ihn hinauszugehen, um bei einer Position zu landen, die durch und durch mit der katholischen Theologie vereinbar ist. Man kann für die deutsche Gegenwartstheologie nur hoffen, dass ein solcher Umgang mit Kant Schule macht.

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