Als ich die Beiträge von Tomáš Halík und Jan-Heiner Tück zu Jan Loffelds Buch über die wachsende religiöse Indifferenz las, musste ich fortwährend an eines, oder genaugenommen zwei der erstaunlichsten Erlebnisse meines Lebens denken: die Aschermittwochsmessen 2024 und 2025.
Als Priester, der seit einigen Jahren in Frankreich in der Pfarr- und Jugendseelsorge tätig ist, bin ich es inzwischen gewohnt, dass viele junge Menschen, die ohne nennenswerte religiöse Sozialisation aufgewachsen sind, um die Taufe bitten. Das hat sich auch im deutschsprachigen Raum schon etwas herumgesprochen. Trotzdem war ich nicht im Geringsten auf das vorbereitet, was letztes Jahr am Aschermittwoch passierte und sich in diesem Jahr im ganzen Land noch krasser wiederholen sollte.
Aschermittwoch 2024. Um 18:00 Uhr halte ich den Gottesdienst in einer der Kirchen von Amiens, die nur wenige Gehminuten von der Kathedrale entfernt liegt. Meist sind hier, im Unterschied zur Kathedrale und den anderen Innenstadtkirchen, nur ältere Messbesucher anzutreffen. Es ist also eine Überraschung, als ich beim Einzug viele junge und mir unbekannte Gesichter sehe. Eindeutig eine Überraschung, aber ich kann sie mental in die Entwicklung der letzten Jahre einordnen.
Nach der Messe versuche ich trotzdem in kurzen Gesprächen herauszufinden, wieso plötzlich so viele junge Menschen da waren. Leider habe ich aber nur wenig Zeit, weil der Bischof um 20:00 Uhr der Aschermittwochsmesse in der Kathedrale vorstehen soll und ich als Zeremoniar eingeteilt bin. So eile ich verwundert zur Kathedrale, die ich über den direkten Eingang zur Sakristei betrete. Dort erzähle ich dem Bischof vor Beginn der Messe von dem Erlebten und äußere vorsichtig meine Hoffnung, dass es hier vielleicht auch ungewöhnlich viele junge Messbesucher geben werde.
Unzählige Fragen schwirren durch meinen Kopf: Was hat diese regelrechte Flut ausgelöst? Wo kommen die alle her? Wie haben die sich verabredet?
Dann der Einzug. Nicht mehr Überraschung, sondern nur noch Schock. Ich traue meinen Augen nicht. Mehrere Hundert junge Männer und Frauen, die meisten wohl entweder Schüler oder Studenten. Und noch immer strömen sie durch das Süd- und das Westtor in das Innere der Kathedrale. Im Altarraum angekommen, schaue ich mich fassungslos um. Die Sitzreihen bis fast ganz nach hinten gesteckt voll. Die vertrauten Gesichter der regelmäßigen Kirchgänger gehen im Meer dieser einzigartigen Gottesdienstversammlung unter. 90 Prozent der Anwesenden sind unter 25, schätze ich.
Unzählige Fragen schwirren durch meinen Kopf: Was hat diese regelrechte Flut ausgelöst? Wo kommen die alle her? Wie haben die sich verabredet? Während des nicht enden wollenden Aschenkreuzritus beginne ich unbewusst eine soziologische und kirchliche Klassifizierung: Dem Kleidungsstil nach zu urteilen, stammen sie wohl kaum aus privilegierten Verhältnissen, und dem Auftreten nach zu schließen, sind sie kirchliche Anlässe wenig gewohnt. Zur Kommunion kommen dann aber mehr, als ich erwartet hätte. Also hatten doch einige Erstkommunionunterricht? Nach dem Schlusssegen sind die meisten sehr schnell wieder fort und lassen uns, die Alteingesessenen, fassungslos zurück.
Am selben Abend erkundige ich mich über eine Whatsapp-Gruppe bei anderen Priestern meiner Gemeinschaft, die über ganz Frankreich verstreut sind, ob sie Ähnliches erlebt haben. Aus allen größeren Städten kommen zahllose übereinstimmende Meldungen: "Der reinste Wahnsinn!" "Nie dagewesene Menge an jungen Menschen!" "Unglaublicher Andrang!" "Überfüllte Kirche." "Wie vom Himmel gefallen!"
Diese Jugend war nicht da, weil wir irgendetwas richtig gemacht hätten. Dieser Ansturm hat mit keiner unserer seelsorglichen Angebote oder Evangelisierungsaktionen auch nur das Geringste zu tun. Da wirkt eine Kraft, die nicht von der institutionellen Kirche ausgegangen ist. Damit meine ich nicht den Heiligen Geist, obwohl der erstursächlich ganz sicher verantwortlich ist, sondern einen mir noch unbekannten Faktor.
Gerade diese letzte Bemerkung spricht mir aus der Seele. Denn eines scheint mir sonnenklar: Diese Jugend war nicht da, weil wir irgendetwas richtig gemacht hätten. Dieser Ansturm hat mit keiner unserer seelsorglichen Angebote oder Evangelisierungsaktionen auch nur das Geringste zu tun. Da wirkt eine Kraft, die nicht von der institutionellen Kirche ausgegangen ist. Damit meine ich nicht den Heiligen Geist, obwohl der erstursächlich ganz sicher verantwortlich ist, sondern einen mir noch unbekannten Faktor, der diese (französische) Generation Z, die 15- bis 25-Jährigen, beeinflusst.
Der Aschermittwoch gehört nun der Generation Z
Anscheinend spielen die Sozialen Medien eine Rolle, insbesondere TikTok. Ein Mitbruder schickt mir den Link zu einem TikTok-Video mit über 50 000 Likes, auf dem ein junges Mädchen, 16 oder 17 Jahre alt, auf eine rührende Art unbeholfen, dazu einlädt, sich doch auch einmal ein Aschenkreuz zu holen. Angeblich kursieren etliche solche Videos.
Unübersehbar ist auch der Einfluss des Islams und des öffentlich praktizierten Ramadans. Auf dem Schulhof und auf dem Campus wird viel übers Fasten gesprochen. Vielleicht wollen Mädchen und Burschen mit sogenanntem christlichem Hintergrund, der allerdings meist sehr wenig mit den Eltern und oft auch nur wenig mit den Großeltern zu tun hat, nicht ins Hintertreffen geraten. Vielleicht inspiriert sich auch einfach das Beispiel ihrer muslimischen Kameraden.
Aus welchem Grund auch immer, die Fastenzeit und der Aschermittwoch üben jedenfalls eine ungeahnte Anziehungskraft auf diese Generation aus. Sie wollen "mal eine echte Fastenzeit leben", mit handfestem Fasten und weit sichtbaren Aschenkreuz. Das spricht sie an. Ostern oder Weihnachten schon viel weniger. Da sind die Kathedrale von Amiens und die anderen Kirchen zwar auch (noch) voll, aber mit einer ganz anderen Bevölkerung: Kinder, Eltern, Pensionisten, alle eher traditionsverbunden und wohl auch weniger fastenbegeistert. Der Aschermittwoch ist etwas anderes. Der gehört jetzt der Generation Z.
Und sie ist gekommen, um zu bleiben. Denn am Aschermittwoch 2025 waren sie noch zahlreicher als letztes Jahr. Viele mussten sich sogar mit einem Stehplatz begnügen. Ich weiß nicht, ob es das in den 800 Jahren der Kathedrale von Amiens schon einmal gab: Das ganze Hauptschiff und die Querschiffe gefüllt mit weit über 1000 15- bis 25-Jährigen.
Warum sind sie da? Auch das weiß ich nicht. Vielleicht, weil sie unglücklicher sind als die Generationen vor ihnen. Vielleicht, weil sie in Frankreich die erste Generation sind, die ganz ohne Gott und ohne jegliche religiöse Erziehung aufgewachsen ist. Vielleicht weil eben doch etwas fehlt, wenn Gott fehlt.