In dem 2024 erschienenen Band "Es musste etwas besser werden …" sprechen der emeritierte Soziologe Stefan Müller-Doohm und der Philosoph Roman Yos mit Jürgen Habermas über sein wissenschaftliches Leben und zentrale Elemente seines Denkens. Ein eigenes Kapitel trägt den Titel "Nachmetaphysischen Denken und detranszendentalisierte Vernunft" (101-134). Über den Begriff des nachmetaphysischen Denkens ist viel geschrieben worden – auch im Verhältnis zu Theologie und Religion. Und trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf die neuen Erläuterungen des großen Soziologen und Philosophen Habermas zu werfen und von dort aus die Frage aufzugreifen, wie nachmetaphysisches Denken und Religion zueinanderstehen.
Der Begriff "nachmetaphysisches Denken" ist auf vielfältige Weise verstanden und rezipiert worden. Das ist nicht zuletzt darin begründet, dass der in ihm beanspruchte Paradigmenwechsel so viele Ebenen berührt, dass eine einheitliche und alle Sinndimensionen umfassende Definition von vornherein aussichtslos erscheint. Sicher gekennzeichnet ist nachmetaphysisches Denken aber als Versuch einer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die methodisch von dem Anliegen absieht, die Dinge in der Welt auf ein eigentliches, ihnen zugrundeliegendes Sein zurückzuführen. Dieses nachmetaphysische Denkprojekt verortet Habermas bekanntlich zunächst in der Subjektphilosophie Kantischer Prägung und dann in deren Fortschreibung durch die Sprachphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Es gibt keinen "view from nowhere" (Thomas Nagel), keinen Standpunkt außerhalb unserer selbst und unserer Lebenswelt. Daher können wir bei näherer Betrachtung auch Wissen nicht außerhalb unserer sprachlich vermittelten Subjektivität generieren, prüfen und weiterentwickeln. Diese Einsicht verpflichtet Forschende einerseits auf die konkreten Dinge und verbietet ihnen deren Relativierung in einer notwendig abstrakten Gesamtbeschreibung der Wirklichkeit, andererseits verpflichtet sie auf die Selbstaufklärung der Forschenden über die lebensweltlichen Einbettung ihrer eigenen Methoden und damit auf die Einsicht um deren prinzipielle Fallibilität.
Die theoretisch-vernünftige Erforschung eines transzendenten Seins wird vor diesem Hintergrund schon für Kant problematisch, sodass er sie aus dem Bereich der begrifflich-anschaulichen Erkenntnis in das postulatorische Gefüge der praktischen Vernunft überführt. Auch auf dieser Ebene sieht Habermas aber ausdrücklich und entgegen entsprechend geäußerter Anfragen keine Anknüpfungspunkte für den Begriff des Transzendenten. Denn der Diskurs um moralische Richtigkeit ist aufgrund seiner "sprachexternen Abhängigkeit von der Lebenswelt" (124) der theoretischen Frage nach dem Wissen um die Wirklichkeit nur nachempfunden und daher strukturell von der Frage nach dem Sein geschieden.
Religion kann – auch das ist inzwischen oft genug herausgestellt worden – für Habermas zwar durch ihre lebensweltliche Gegenständlichkeit Einfluss auf die Formung von Ideen ausüben und Motivation für moralisches Handeln generieren, sie hat aber mit vernünftigem Verstehen von Wirklichkeit im eigentlichen Sinne nichts zu tun.
In einem bestimmten Sinne ist nachmetaphysisches Denken also für Habermas auch grundsätzlich durch seine Trennung von der Idee der Transzendenz gekennzeichnet. Religion kann – auch das ist inzwischen oft genug herausgestellt worden – für Habermas zwar durch ihre lebensweltliche Gegenständlichkeit Einfluss auf die Formung von Ideen ausüben und Motivation für moralisches Handeln generieren, sie hat aber mit vernünftigem Verstehen von Wirklichkeit im eigentlichen Sinne nichts zu tun.
Es ist relativ eindeutig, dass der von Habermas verabschiedete Begriff der Metaphysik ein platonisch verstandener ist. Denn schon mit Aristoteles lässt sich das allgemeine Sein nicht vom konkreten Seienden trennen. Die Ideen sind den Dingen nicht in dem Sinne transzendent, dass das Transzendente eine konkurrierende Ebene zum Seienden beschreiben würde. Vielmehr sind sie die Formen der konkreten Dinge und beinhalten in einem abgeleiteten Sinne auch deren Zweck.
Das Transzendente als Verstehenshorizont
Viele philosophische und theologische Ansätze haben in dieser Traditionslinie dafür argumentiert, dass der Begriff der Transzendenz auch im religiösen Sinne keine Konkurrenz zwischen Dingen gleicher Art behauptet. Vielmehr artikuliert er eine grundlegende ontische Differenz zu den konkreten Dingen, ohne die die Wirklichkeit nicht hinreichend beschrieben ist. Eine mögliche Beschreibungsweise dieser grundlegenden Differenz ist die dem Existentialismus eigene Unterscheidung zwischen Sinn und Sein oder die Betonung der Negativität in der Kritischen Theorie. In beiden Fällen spielt eine durch fundamentale ontische Differenz gekennzeichnete Transzendenz eine zentrale Rolle für eine zureichende Beschreibung der Wirklichkeit. Das so verstandene Transzendente tritt nicht als eigentliches Sein hinter den Dingen, sondern als deren Verstehenshorizont mit ihnen in Erscheinung. Auch ist für seinen Begriff kein "Blick von nirgendwo" gefordert, sondern lediglich der Anspruch, die lebensweltlich eingebettete Beschreibung der konkreten Wirklichkeit nicht unzulässig zu verengen oder zu verkürzen.
Religion – so könnte man schließlich argumentieren – arbeitet nicht verunftresistent an einer letztlich opaken Verdopplung der Wirklichkeit, sondern am konkreten Verständnis menschlicher Lebenswirklichkeit. Zu dieser Wirklichkeit gehört die Frage nach dem Sinn und Zweck menschlicher Existenz ebenso wie die Frage nach der Wahrheit theoretischer Erkenntnis und der Richtigkeit moralischer Urteile. Sinn-, Wahrheits- und Richtigkeitsfrage sind aber in unserer Wahrnehmung komplex miteinander verzahnt und lassen sich – wie prominent Charles Taylor gegen Habermas behauptet hat – nicht im Sinne ihrer prozessbeschreibenden Formalisierung voneinander lösen.
Versteht man das Projekt der Metaphysik in dem beschriebenen Sinne als methodisches Beharren auf dem komplexen Ineinander verschiedener, ontisch fundamental differenzierter Ebenen der Wirklichkeit, einschließlich der verschiedenen Wahrnehmungen von Transzendenz, als Weigerung, bestimmte Elemente dieser Wahrnehmung a priori aus dem Bereich der Vernunft auszuschließen, und konsequenterweise als Behauptung einer epistemischen Irreduzibilität der Wirklichkeit, lässt sich auch heute noch mit guten Gründen für ihren Wert argumentieren.