Am 21. November 1964 wurde die dogmatische Konstitution "Lumen gentium" von Papst Paul VI. promulgiert. Bis heute spielt dieses zentrale Konzilsdokument eine Rolle auch in aktuellen Kirchenreformdebatten, halten P. Andreas Batlogg und Jan-Heiner Tück im Theologie-Podcast "Diesseits von Eden" fest.

Der Podcast der theologischen Fakultäten in Österreich, "Diesseits von Eden", hat am 21. November aus Anlass des 60. Jahrestages der Promulgation des Konzilsdokuments "Lumen gentium" ein Interview mit COMMUNIO-Schriftleiter Jan-Heiner Tück und dem Münchner Jesuiten und Konzilsexperten P. Andreas Batlogg publiziert. Wir dokumentieren das Gespräch, das der Religionsjournalist Henning Klingen mit den beiden geführt hat, im Folgenden im Wortlaut:

Henning Klingen: Was müssen wir eigentlich vom Konzil wissen, um "Lumen gentium" zu verstehen? Welchen Ort hat das Dokument im Konzil und wie ist es zu dem geworden, was es ist?

P. Andreas Batlogg: Das Konzil hat 16 Texte produziert, darunter 4 Konstitutionen, die Verfassungsrang haben. Die Kirchenkonstitution "Lumen gentium" ist als dogmatische Konstitution eine davon. Die Kirche hat sich darin gefragt: Wer sind wir? Wohin gehen wir? Was wollen wir? Und zwar nicht im Sinne einer Wagenburgmentalität, einer die anderen ablehnenden Kirche, sondern im Sinne der Frage: Wer sind wir in der Welt? Daran muss man immer wieder erinnern, dass Papst Johannes XXIII. gesagt hat: Wir müssen den Dialog mit der Welt aufnehmen. "Aggiornamento" war das Stichwort dafür. Und gleichzeitig ist auch die Frage, die in "Lumen Gentium" auf die Kirche zurückführt: Wer sind wir als Kirche in dieser Welt? Sind wir eine hierarchische Klerikerkirche, eine Bischofskirche oder eben Kirche als wanderndes Volk Gottes? Letzteres ist die Metapher, die das Konzil dann gefunden hat – eine Art neues Kirchenbild, an dem u.a. Karl Rahner maßgeblich mitgewirkt hat. Die Diskussionen zum Dokument haben ja schon 1962 begonnen. Es hat dann noch zwei Jahre gedauert, und das ursprüngliche Schema ist in diesem Prozess völlig verworfen worden. Das war ein interessanter Prozess.

Klingen: Vielleicht können wir da direkt noch mal nachhaken: Was war denn das vorgängige Schema und was wurde verworfen?

Batlogg: Eigentlich hätte es nach dem Ersten Vatikanum kein Konzil gebraucht, weil der Papst alles im Alleingang hätte machen können. Johannes XXIII. war aber der Auffassung, dass das nicht mehr geht. Karl Rahner kam als Berater von Kardinal König zum Konzil. Als er die vorbereiteten Schemata sah, ist ihm – aber auch Joseph Ratzinger und anderen – aufgegangen: Wenn wir dieses Konzil denen überlassen, die diese Textentwürfe gemacht haben, dann ist es eine Fortschreibung des Bisherigen. Entsprechend hat Rahner einige scharfe Kommentare zu den Schemata abgegeben. Es sei eine "Wald- und Wiesenphilosophie", die sich ein Konzil nicht leisten könne. Oder die Texte seien von Menschen geschrieben, die schon vor 40, 50 Jahren päpstliche Texte verfasst haben. Da hat er sich dann mit viel Herzblut hineingeworfen. Ein Beispiel für diesen Prozess bei "Lumen gentium": Die ersten Worte heißen heute "Lumen gentium cum sit Jesus Christus" – Christus ist das Licht der Völker. Im Textentwurf aus Rom stand statt Christus "ecclesia", also Kirche. Das war eine Art Hypostasierung, könnte man sagen. Das Konzil hat dann einen neuen Kirchenbegriff entwickelt. Aber es sind dennoch Elemente der vorherigen Ekklesiologie im Dokument enthalten, die unverbunden nebeneinander stehen. Und so können sich heute die einen auf die sogenannte "Communio-Ekklesiologie" berufen, die anderen auf ein Bild von Kirche fokussiert auf Papst und Bischöfe. Das Dokument wurde im Übrigen mit überwältigenden 2.151 Ja-Stimmen bei nur fünf Nein-Stimmen angenommen. Das muss man sich bei den heutigen Querelen in der Kirche immer wieder vor Augen halten.

Das Interessante an "Lumen Gentium" ist, dass keiner der eingespielten Begriffe monopolistisch verwendet werden kann. Das Mysterium Kirche ist größer und komplexer, sodass es nur durch eine ganze Serie von Begriffen wie Volk Gottes, Heilssakrament, Communio, Leib Christi etc. zum Ausdruck gebracht werden kann. 

Klingen: Wir sind jetzt schon mit manchen Stichworten in die Inhalte eingetaucht und auch schon in die Würdigung des Dokuments. Aber vielleicht können Sie, Jan-Heiner Tück, nochmal genauer skizzieren, was denn die Inhalte sind? Was steht im Dokument?

Tück: Ich würde zu dem, was P. Batlogg gesagt hat, ergänzend darauf hinweisen wollen, dass eine wichtige Korrektur in dem Dokument auch darin bestand, dass es mit den Ausführungen zum Geheimnis der Kirche beginnt. Das ist ein klarer Kontrapunkt gegen eine sichtbar-hierarchische Engführung des Kirchenbegriffs. Man wollte also zunächst das gemeinsame Unterwegssein des Volkes Gottes unterstreichen vor jeder hierarchischen Differenzierung. Dann folgen Ausführungen über die Laien und ihren spezifischen Auftrag in der Welt von heute. Hier ist das Erbe des Konzils immer noch ein bleibender Anstoß: Es geht nicht nur darum, die Partizipationsmöglichkeiten von Laien an der Leitung der Kirche zu unterstreichen, sondern primär darum, Laien, die getauft und gefirmt sind, dazu zu befähigen, in den pluralen Lebenswelten der Spätmoderne dem Evangelium Stimme und Gesicht zu geben. Das versucht Papst Franziskus ja auch seit seinem Gründungsdokument "Evangelii gaudium" als maßgeblichen Impuls in die Weltkirche hineinzuspiegeln. Dann möchte ich hervorheben, dass das vorletzte Kapitel von "Lumen gentium" einen fast vergessenen Aspekt einspielt, nämlich die eschatologische Tiefendimension von Kirche: Kirche erschöpft sich nicht in der Gemeinschaft derer, die heute leben und glauben, sondern sie ist eine Gemeinschaft, die Lebende und Verstorbene gleichermaßen umgreift. Es gibt hier auch wechselseitige Spielformen des Füreinander-Eintretens. Das alles hängt mit dem schon erwähnten Begriff der Communio zusammen, der einer der Leitbegriffe des Konzils ist. Und vielleicht abschließend: Das Interessante an "Lumen Gentium" ist, dass keiner der eingespielten Begriffe monopolistisch verwendet werden kann. Das Mysterium Kirche ist größer und komplexer, sodass es nur durch eine ganze Serie von Begriffen wie Volk Gottes, Heilssakrament, Communio, Leib Christi etc. zum Ausdruck gebracht werden kann. Und die konstellative Verwiesenheit dieser Begriffe aufeinander ist einfach wichtig, um die Vielschichtigkeit von dem, was Kirche ist und sein will, zum Ausdruck zu bringen.

"Lumen gentium" als Prüfstein für aktuelle Reformdebatten

Klingen: Was heißt das im Blick auf heutige Reformdebatten? Inwiefern können sich Reformkräfte auf dieses Dokument mit ihren Forderungen beziehen oder inwiefern auch nicht?

Tück: Vielleicht ein Aspekt im Blick auf die hierarchische Verfassung der Kirche: Das Konzil hat die Primatslehre des Ersten Vatikanums ergänzt und fortgeschrieben durch den Gedanken der Kollegialität der Bischöfe. Es hat den Petrusdienst eingebettet in das Kollegium der Bischöfe. Darin sieht man nach den Missbrauchsskandalen heute eben auch eine Grenze, weil mit der Betonung des Bischofsamtes nicht zugleich schon mit darüber nachgedacht wurde, wie dieses "synodal" einzubetten ist. Und dadurch, dass die systemische Vertuschung von sexuellem und geistlichem Missbrauch doch primär bei der Kirchenleitung und also den Bischöfen liegt, ist diese Episkopalverfassung jetzt in den Brennpunkt der Reformdebatten geraten. Da würde ich sagen wollen: Es ist wichtig und gut, darüber nachzudenken, wie bischöfliche Leitungskompetenz eingebettet werden kann. Die Frage, die hier im Raum steht, ist die, ob man in der Reform so weit gehen kann, dass man die Leitung der Kirche letztlich paritätisch gemischt besetzten Gremien, an denen dann auch die Bischöfe natürlich teilnehmen, überträgt und so die letztinstanzliche Leitung, die das Konzil dem Bischof für die Ortskirche zuschreibt, gewissermaßen aushöhlt. Das ist einer der springenden Punkte in der Reformdebatte heute.

Batlogg: Also ich schließe da gerne an, weil das Schlussdokument der letzten Synodalversammlung 2024 sagt: Der Bischof ist eine wichtige Stimme, aber nicht die einzige. Man kann sich natürlich bei allen Reformbemühungen auf das Konzil berufen und wird dort sicher fündig. Im Blick auf das Bischofsamt muss mal wohl klar festhalten: Der Bischof repräsentiert in seinem Bistum Christus. In der Mentalität vieler Leute meint man ja, der Bischof ist nur eine Art "Filialleiter" des Papstes. Nein, er repräsentiert Christus. Im Übrigen ist auch die Bischofssynode, die Papst Paul VI. noch vor Ende des Konzils eingeführt hat, ein Ergebnis der Beratungen des Konzils, wo der Montini-Papst gesagt hat: Das war ein Prozess der kollektiven Wahrheitsfindung – und dieses Instrument hat sich bewährt. Und heute hat sich ja im weltweiten synodalen Prozess gezeigt, dass sich das Instrument Bischofssynode eigentlich weiterentwickelt hat, weil jetzt auch "Nicht-Bischöfe" – Frauen, Laien – stimmberechtigt daran teilnehmen. Das ist ein Ausdruck dessen, dass Bischöfe nicht mehr allein unter sich ausmachen können, wer und was Kirche ist. Zugleich – da gebe ich Herrn Tück recht – macht der Papst natürlich immer auch deutlich, dass die Synode ein Beratungsgremium ist. Kirche bleibt hierarchisch-sakramental begründet. Sie ist keine NGO. Das muss man immer wieder in Erinnerung rufen.

Als Bischof kann man heute nicht mehr wie ein Barockfürst "durchregieren", sondern man muss sich beraten lassen. Das ist jetzt festgeschrieben. Aber der Bischof kann sich zu einer vorausgegangenen Beratung auch noch mal reflexiv verhalten und im Zweifel auch anders entscheiden. Wenn er dies tut, muss er allerdings begründen. Und wenn er das triftig tut, dann bekommt die Form seiner bischöflichen Leitung auch eine höhere moralische Autorität. 

Tück: Deswegen scheint mir der Abschlussbericht der Synode sehr schön mit dem Konzil über das Konzil hinauszugehen, indem der Bericht einerseits nochmal in Erinnerung ruft, dass die bischöfliche Entscheidungskompetenz eigentlich nicht antastbar ist – sie aber zugleich nicht bedingungslos ist. Das heißt, die Ausübung der bischöflichen Leitungskompetenz bekommt moralische Autorität, wenn synodale Abstimmungs- und Beratungsprozesse vorangegangen sind und die Entscheidung sich auch dem Gegenüber zu verantworten hat. Transparenz- und Rechenschaftspflicht sind da wichtige Momente. Damit ist auch klar: Als Bischof kann man heute nicht mehr wie ein Barockfürst "durchregieren", sondern man muss sich beraten lassen. Das ist jetzt festgeschrieben. Aber der Bischof kann sich zu einer vorausgegangenen Beratung auch noch mal reflexiv verhalten und im Zweifel auch anders entscheiden. Wenn er dies tut, muss er allerdings begründen. Und wenn er das triftig tut, dann bekommt die Form seiner bischöflichen Leitung auch eine höhere moralische Autorität. Aber ich möchte auch noch auf eine andere Sache hinweisen, über die wir noch nicht gesprochen haben und die mir doch wichtig erscheint: Die Ausweitung des Kirchenbegriffs. In LG 14-16 wird festgehalten, dass potenziell alle Menschen zur Kirche als Volk Gottes dazugehören, nicht nur die im "inner circle", sondern auch die nicht-katholischen Christen, Juden, Muslime, selbst die gutwilligen Agnostiker und Atheisten. Das kann man natürlich als ein überzogenes Vereinnahmungsmanöver sehen – aber ich will zunächst mal daran erinnern, dass hier eine Option von Kirche getroffen wird, die eigentlich klassische Grenzziehungen durchlässig werden lässt auf die anderen hin. Wenn man etwa "Gaudium et spes" und die Offenheit zur säkularen Welt hinzuzieht, dann muss man ja die dortige dialogische Öffnung von Kirche zur Welt auch in ihrer Rückwirkung auf Kirche selbst verstehen. Kirche kann sich nicht mehr als "Kontrastgesellschaft" in Absetzung von der Welt verstehen. Und damit sind wir dann beim Werben des Franziskus für eine offene, die Marginalisierten an den Peripherien mit einbeziehende Kirche angekommen. Hier ist meines Erachtens ein Konzilsimpuls gesetzt, an dem wir immer noch arbeiten und kreativ Fortschreibungsversuche vornehmen sollten."

Konzilsdokumente als "Gesamtpaket" sehen

Klingen: Damit sind schon einige Stichworte jetzt gefallen, die den Blick auf die anderen Konzilsdokumente weiten. Das scheint mir nicht unwichtig zu sein: Wenn wir des 60. Jahrestages von "Lumen gentium" gedenken, dann muss man immer dazusagen, dass das Dokument nicht solitär dasteht …

Batlogg: Ja, ich plädiere immer dafür, dass es das Konzil nur als "Gesamtpaket" gibt. Und bei den Problemen, die es mit den Pius-Brüdern und anderen Gruppierungen ja gab, ging es immer darum, das eine oder andere fallen zu lassen, um damit Akzeptanz zu erkaufen. Da ging es um "Nostra Aetate", das Verhältnis zu den nichtchristlichen Religionen oder das Ökumenismus-Dekret. Nein, das geht nicht. "Lumen gentium" hält eindeutig fest, dass Kirche mehr ist als die katholische Kirche – das berühmte "subsistit in". Das ist eine ökumenische Öffnungsklausel. Auch sonst hat das Konzil manches um 180 Grad gedreht: Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit – das gab es nicht auf dem Ersten Vatikanum oder jedenfalls nicht unter Pius IX. – und insofern hat sich die Kirche mit dem Konzil aufgemacht, ein ganz neues Verhältnis auch zur Welt zu finden. Wenn man heute die aggressiven Töne, die Verketzerung von anderen Meinungen und Positionen hört, dann könnte man meines Erachtens von den Konzilsvätern durchaus lernen, wie man mit Anstand miteinander ringen kann. Und diesbezüglich ist auf dem Synodalen Weg in Deutschland sicher einiges schief gegangen. Aber prinzipiell denke ich, dass wir hinter diesen synodalen Prozess der letzten drei, vier Jahre nicht zurückkönnen.

Wer die Dekrete und Erklärungen in Frage stellt, stellt letztlich die dogmatischen Konstitutionen, die diese Dekrete und Erklärungen grundlegen, in Frage. 

Tück: Vielleicht darf ich da noch mal anschließen: Mir scheint es auch so, dass das ganze Textkorpus in der Wechselseitigkeit wahrzunehmen ist. Sie haben die Religions- und Gewissensfreiheit angesprochen, die ja wirklich auch ein Kompass für die Modernitätskompatibilität von Kirche geworden ist. Und hier ist es einfach wichtig, den Nexus zu sehen zur Offenbarungskonstitution, die ja ein Paradigmenwechsel von einem instruktionstheoretischen Verständnis von Offenbarung hin zu einem kommunikativen Verständnis von Offenbarung gebracht hat. Also: Gott teilt nicht irgendwelche Weisungen mit, die man gehorsam zu beachten hat, sondern er macht ein Freundschaftsangebot, indem er sich selbst in der Gestalt Jesu mitteilt. Das heißt aber auch: Jeder und jede ist potenzieller Adressat der Selbstmitteilung Gottes. Dieses Verständnis von Offenbarung kann eigentlich angemessen nur bezeugt werden, wenn ein Raum von Säkularität, in dem Gewissens- und Religionsfreiheit verankert sind, gewährleistet ist. Das heißt umgekehrt: Jede Form von subtiler Indoktrination oder gar gewaltförmiger Weitergabe des Evangeliums beschädigt den Grundgehalt von Offenbarung, der eben an die Freiheit des Adressaten gebunden ist. Hier sieht man also die Übereinstimmung von Offenbarungskonstitution und dem von den Pius-Brüdern scharf angegriffenen Dokument "Dignitatis humanae". Und deswegen würde ich auch ganz zustimmen und sagen: Wer die Dekrete und Erklärungen in Frage stellt, stellt letztlich die dogmatischen Konstitutionen, die diese Dekrete und Erklärungen grundlegen, in Frage. Und deswegen sind so Diskursangebote, wie sie seinerzeit Kardinal Brandmüller und andere gemacht haben, völlig inakzeptabel. Sie haben gesagt: "Dignitatis humanae" und das Ökumenismus-Dekret sind ja nicht verbindlich. Nein, diese Dekrete und Erklärung sind verbindlich! Denn sie buchstabieren aus, was in den dogmatischen Konstitutionen grundgelegt ist. Und wer diese Dekrete und Erklärungen in Frage stellt, stellt letztlich die Reforminitiative des Zweiten Vatikanischen Konzils insgesamt in Frage. Und das ist nicht akzeptabel.

Zur Wirkungsgeschichte von "Lumen gentium"

Klingen: Vielleicht können wir noch auf die Wirkungsgeschichte von "Lumen gentium" blicken. Das Dokument hat ja viele Dinge, die heute selbstverständlich erscheinen, letztlich grundgelegt: Die Synoden, die Bischofskonferenzen und ihre Rolle … Was sind denn noch Punkte, die in der Wirkungsgeschichte erzählt und erwähnt werden sollten?

Batlogg: Papst Franziskus ist der erste Papst, der erst nach dem Konzil zum Priester geweiht wurde – das war 1969. Und für mich ist er eine Art Wächter über dieses Konzil, weil er sagt, dass das Potenzial des Konzils eigentlich noch gar nicht richtig ausgeschöpft ist. Ich erinnere an das Motto des synodalen Prozesses: Gemeinsam unterwegs sein. Gemeinschaft. Teilhabe. Sendung. Sendung heißt Mission, Evangelisierung. Teilhabe heißt Partizipation. Gemeinschaft heißt Communio. Und da können wir beim Konzil bereits vieles finden. Und ich denke, dass Papst Franziskus einer ist, der das wieder in Erinnerung gebracht hat und gesagt hat: Wir müssen kreativ damit umgehen. Und das heißt auch ein Ende einer bloßen Kleriker- oder Bischofskirche. Insgesamt müssen wir aber wegkommen von den einfachen Parolen und ausbuchstabieren, was das heißt, gemeinsam unterwegs zu sein. Das ist auch eine Vertrauensleistung: Die Kirche gehört nicht dem Papst oder den Bischöfen! Wir sind gemeinsam auf dem Weg und müssen im Gespräch bleiben. Wenn wir das schaffen, anders als bislang aufeinander zu hören, dann geht auch was weiter. Ansonsten wiederholen wir nur bekannte Positionen.

Tück: Ich würde sagen, zur Rezeptionsgeschichte von "Lumen gentium" zählt auch das, was aus der ökumenischen und interreligiösen Öffnung an Dialoginitiativen und Institutionen hervorgegangen ist. Ich möchte besonders – weil das momentan wieder strittig ist – "Nostra aetate" 4 in Erinnerung rufen, also die wurzelhafte Bezogenheit der Kirche auf Israel. Hier würde ich auch sagen, hat LG16 einen "Konstruktionsfehler" begangen, indem es das Judentum in den äußersten Kreis des Modells der Kirchenzugehörigkeit situiert hat. "Nostra aetate" 4 ist da viel klarer und hält fest: Zur Identität von Kirche gehört die Bezogenheit auf Israel. Das droht gerade wieder ein bisschen in Vergessenheit zu geraten. Das waren ganz neue Töne in der Verhältnisbestimmung zu den nichtchristlichen Religionen und angesichts der Tatsache, dass momentan die päpstlichen Äußerungen zu Israel, zum Judentum aufgrund des komplexen, schwierigen Gaza-Krieges doch etwas einseitig sind – zumindest nach meiner Auffassung – ist die Erinnerung daran, dass Kirche, wenn sie über sich selbst nachdenkt, dies nie tun kann, ohne zugleich über die theologische Verwurzelung in Israel nachzudenken, ein wichtiger Impuls des Konzils.

Das Zweite Vatikanum hat uns eigentlich ins Stammbuch geschrieben, dass wir in beide Richtungen blicken müssen – sowohl in Richtung Judentum als auch in Richtung Islam. So schwer diese Gratwanderung in konkreten Konfliktlagen auch ist: Wir müssen die Balance wahren.

Batlogg: Also da stimme ich voll zu. Die Tragik ist natürlich, dass das Konzil ursprünglich ein sogenanntes "Judendekret" geplant hatte, das aufgrund des Widerstands arabischer Bischöfe dann auf die Nummer 4 in "Nostra aetate" geschrumpft ist. Aber das Bewusstsein, dass wir die jüngeren Geschwister der Juden sind, ist zentral. Es ist ein amputiertes Christentum, wenn wir meinen, ich kann Christ sein, ohne im Bewusstsein zu leben, dass Jesus Jude war und Jude blieb. Das ist schon auch eine Errungenschaft des Konzils.

Tück: Um das zu konkretisieren: Es ist gut und wichtig, Solidarität mit den Katholiken im Nahen Osten und mit der palästinensischen Zivilbevölkerung angesichts des schrecklichen Bombardements zu zeigen. Aber wenn auf der anderen Seite verabsäumt wird, dass barbarische Massaker klar beim Namen zu nennen und das Recht auf Selbstverteidigung Israels nicht klar benannt wird, dann hat man es eben mit einer oszillierenden, bei allen Wünschen nach einer "neutralen" Friedenspolitik mit eben nicht ganz neutralen Äußerungen zu tun. Und die Irritationen aus der jüdischen Welt zeigen ja auch, dass wir da dringend gegensteuern müssen. Das Zweite Vatikanum hat uns eigentlich ins Stammbuch geschrieben, dass wir in beide Richtungen blicken müssen – sowohl in Richtung Judentum als auch in Richtung Islam. So schwer diese Gratwanderung in konkreten Konfliktlagen auch ist: Wir müssen die Balance wahren.

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