Das Kreuz und der "Fels des Atheismus"Kardinal Kasper über die Ereignisse der Karwoche und ihre Bedeutung – Zweiter Teil

"Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?", schreit Jesus am Kreuz. Ist der Sohn Gottes am Ende selbst zum Atheisten geworden? Walter Kasper spricht im Interview über die schwierigsten Fragen des Christentums: Warum gibt es das Leid? Warum ist die Welt unvollkommen, obwohl sie Gottes Schöpfung ist? Und worauf richtet sich angesichts dessen die christliche Hoffnung?

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Kardinal Walter Kasper spricht im Interview mit COMMUNIO-Schriftleiter Jan-Heiner Tück über die Ereignisse der Karwoche und ihre Bedeutung. Den ersten Teil des Interviews über die Gründe, die zur Hinrichtung Jesu geführt haben und darüber, was es heißt, dass Jesus stellvertretend für die Sünden der Menschen gestorben sei, lesen Sie hier.

Tück: Georg Büchner hat geschrieben: "Das Leid ist der Fels des Atheismus." Sie haben einmal notiert: "Wenn Gott selbst gelitten hat, ist das Leiden kein Argument mehr gegen ihn." Kritiker haben Ihnen vorgeworfen, Sie würden damit die Theodizeefrage vorschnell beruhigen …

Kasper: Beruhigen kann man die Theodizeefrage, also den Versuch, Gott angesichts des ungerechten Leidens in der Welt zu rechtfertigen, in keiner Weise, und ich habe das, wenn man das Buch über die Barmherzigkeit zu Ende liest, auch nicht getan. Jesus selbst hat diese Frage gestellt, und sie wird auch heute von Millionen Menschen gestellt: "Mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Wir können diese Frage nicht beruhigen. Deshalb möchte ich noch einmal Kant recht geben und sagen: Theoretisch ist die Theodizeefrage nicht zu lösen. Als Theologen dürfen wir uns nicht als Gottes Geheimräte aufspielen und meinen, wir könnten Gott in die Karten schauen. Das verbietet die Ehrfurcht vor Gott und der Respekt vor Menschen, die mit dieser Frage ringen. Es gibt Fragen und menschliche Erfahrungen, auf dies es keine schnelle Antwort gibt, angesichts derer man nur betroffen und tief nachdenklich betend schweigen kann.

Tück: Der Schrei des Sohnes nach Gott nimmt die Erfahrung des Gottesverlustes mit in die Passionsgeschichte hinein. Würden Sie darin eine Antwort auf den modernen Atheismus sehen?

Kasper: Was heißt "der moderne Atheismus"? Der moderne Atheismus ist ein überaus vielschichtiges Problem. Es gibt einen naiven Atheismus, der meint, alles, was man nicht mit den eigenen Augen sehen und mit empirischen Methoden feststellen oder mathematisch beweisen kann, kann nur Einbildung, Projektion oder gar Wahnvorstellung sein. Atheismus, kann auch die Negation eines Gottes sein, wie man ihn sich oft vorstellt, der aber nicht der wahre Gott ist, wie Jesus ihn verkündet hat. Oft führt eine gotteslästerliche Praxis, die den Namen Gottes gewaltsam missbraucht, zur Abwendung von Gott. Am Kreuz zerbrechen alle angstmachenden und gewalttätigen Vorstellungen von einem nur strafenden, rächenden, allen menschlichen Freuden gramen Gott. Das Kreuz klärt uns auf über falsche Götzen, die Menschen sich zurechtgemacht haben und Menschen versklaven. Der Verlust falscher Gottesvorstellungen kann geradezu eine Befreiung und Gnade sein, damit wir uns auf den Weg machen, den wahren Gott zu suchen und uns von ihm finden zu lassen. Anders ist es mit dem Schrei Jesu am Kreuz. Er ist nicht der Schrei eines Gottlosen oder eines Sterbenden, der Gott verflucht. Im Gegenteil, es ist der Schrei eines zu Tode Gequälten, der sich in äußerster Not mit den Worten des Psalm 22 an Gott wendet: Warum hast du mich verlassen? Das ist bis heute der Schrei von Millionen Menschen, die weder aus noch ein wissen. Auch wenn niemand sie hört oder hören will, ihr Schrei geht nicht ins Leere. Gott hört ihr Rufen und Schreien. Sie nehmen an der Passionsgeschichte Jesu teil. Vor Gott kann und darf man sich ausweinen, klagen und auch hadern.

"Das Fürchterliche, das in Auschwitz geschah, das kann Gott nur verabscheuen und mit glühendem heiligem Zorn von sich in die Hölle verweisen, die dort ist, wo man die Abwesenheit Gottes als endgültige Verlorenheit erfährt."

Tück: Ihr Tübinger Kollege Jürgen Moltmann hat in seinem viel beachteten Buch "Der gekreuzigte Gott" die These vertreten, "dass, wie das Kreuz Christi, auch Auschwitz in Gott selbst ist, nämlich hineingenommen in den Schmerz des Vaters, in die Hingabe des Sohnes und die Kraft des Heiligen Geistes". Würden Sie zustimmen?

Kasper: Ich bin zweimal in Ausschwitz und im ehemaligen Vernichtungslager Birkenau gewesen. Über diesem Ort des Grauens liegt nach meinem Empfinden eine unheimlich anmutende Stille. Es verschlägt einem die Sprache und man kann nur tief betroffen schweigen. Ich habe darum Vorbehalte gegen alle noch so tiefen theologischen Spekulationen der Nach-Auschwitz-Theologie. Darum kann ich gut verstehen, dass Papst Franziskus bei seinem Besuch in Auschwitz keine Ansprache halten wollte. Es gibt wohl keine menschliche Sprache, die das Grauen dieses Ortes ausdrücken kann. Auschwitz in Gott? Die Opfer von Auschwitz und ihre Leidensgeschichte ganz gewiss. Aber das Fürchterliche, das an diesem Ort geschah, das kann Gott nur verabscheuen und mit glühendem heiligem Zorn von sich in die Hölle verweisen, die dort ist, wo man die Abwesenheit Gottes als endgültige Verlorenheit erfährt.

Tück: Manche Theologen mit wachem Sensorium für die Risse der Schöpfung und die abgründigen Leidensgeschichten der Menschen haben in der Spur von Hans Blumenberg die These vertreten, dass Christus am Kreuz auch für die "Schuld Gottes" selbst gestorben sei. Geht das zu weit?

Kasper: Selbstverständlich sind die Risse und Unvollkommenheiten der Schöpfungswirklichkeit nicht zu leugnen; ja, es wäre mehr als naiv, sie leugnen zu wollen. Nach Paulus seufzt die ganze Schöpfung unter Geburtswehen (Röm 8,22). Doch die Rede von einer Schuld Gottes widerspricht, nach meiner Überzeugung, dem christlichen Gottesverständnis. "Gott ist Licht und keine Finsternis ist an ihm" (1 Joh 1,5). Sie widerspricht auch der Aussage Gottes über alles, was er bei der Schöpfung gemacht hat: "Und siehe, es war alles sehr gut" (Gen 1,30). Nach heutiger Sicht ist die Welt nicht fertig aus der Hand Gottes hervorgegangen; sie ist in einem Jahrmillionen dauernden spannungsvollen evolutiven Prozess so geworden, wie sie heute ist: wunderschön (sofern wir Menschen sie nicht korrumpieren und unbewohnbar machen) und doch unvollendet. Von allem Anfang an ist alles auf Christus hin geschaffen (Joh 1,3f; Kol 1,16f) und das Licht Christi leuchtet jedem, der in diese Welt kam (Joh 1,9). Nach verbreiteter heutiger theologischer Meinung ist das Paradies kein protologischer, sondern ein eschatologischer Zustand, dem wir voll Hoffnung entgegenharren. Wir sind auf Hoffnung hin erlöst (Röm 8,24). Soll Gott bereuen, dass er uns in eine schöne, wenngleich noch unvollendete Welt hineingeschaffen und uns beauftragt hat, verantwortlich mitzuwirken, diese noch unvollkommene Welt zu bebauen und zu kultivieren?

"Muss Gott sich vor uns und nach unseren Maßstäben verantworten, oder müssen nicht eher wir uns vor Gott verantworten?"

Tück: Sicher nicht, aber man könnte sagen: Weil Gott als Schöpfer letztverantwortlich für die Schöpfung ist, muss er sich auch für die Risse in ihr verantworten. Die Aussage aber, dass der Sohn Gottes für die "Schuld Gottes" am Kreuz "Sühne" geleistet habe, führt zu einer bemerkenswerten Neudeutung der Passion. Denn das Leiden am Kreuz wäre dann nicht primär pro nobis, sondern für Gott selbst – pro semetipso – geschehen …

Kasper: Muss Gott sich vor uns und nach unseren Maßstäben verantworten, oder müssen nicht eher wir uns vor Gott verantworten? Genau diese Frage richtet Gott an den alttestamentlichen Dulder Ijob, der mit seinen Freunden lange über das diskutiert hat, was wir die Theodizeefrage nennen: "Hör doch, ich will nun reden, ich will dich fragen, du belehrst mich!" Ijob schweigt und bekennt: "Ich habe im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind." (Ijob 42,3f). Ähnlich beschließt Paulus seinen Durchgang durch die Heilsgeschichte von Juden und uns Christen: "Wie unergründlich sind seine (also Gottes) Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege. Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt. Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?" (Röm 11,33 f). Thomas von Aquin drückt den Gedanken der Verborgenheit Gottes mehr spekulativ aus. Er weiß: alles, was ist und was geschieht, geht von Gott aus. Aber Gott respektiert seine Kreatur und lenkt alles über kreatürliche Zweitursachen. Seine Allmacht offenbart sich nicht im Dreinschlagen; Gott offenbart seine Allmacht vor allem im Erbarmen und Verschonen. Martin Luther hat diesen Gedanken zugespitzt: Gott offenbart sich sub contrario, seine Allmacht in der Schwachheit am Kreuz und in der Milde der Barmherzigkeit.

"In jeder freiwilligen spontanen Tat der Barmherzigkeit tut sich der verhangen scheinende Himmel wenigstens ein wenig auf. Die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt als derjenigen, die wir tagtäglich erfahren, wird ein Stück weit Wirklichkeit."

Tück: Sie selbst haben zuletzt die Passion im Horizont der Barmherzigkeit Gottes – der misericordia Dei – gedeutet. Inwiefern liegt in dieser Deutung ein Schlüssel für die Fragen unserer Zeit?

Kasper: Die Botschaft, dass Gott gnädig und barmherzig ist, zieht sich wie ein roter Faden schon durch das Alte Testament. Sie steht im Zentrum der Verkündigung Jesu und wird am Kreuz endgültig offenbar. Gottes Barmherzigkeit ist nicht bloßes Mitleid; sie ist eine aktive Eigenschaft. In ihr wendet sich Gott, der Liebe ist (1 Joh 4,8.16), nach außen und widersteht den leiblichen, seelischen und geistlichen Nöten. Die Barmherzigkeit ist die sich selbst mitteilende Offenbarung der Liebe Gottes. Angesichts des namenlosen Leidens in der Welt ist die Botschaft von Gottes Barmherzigkeit vielen verstellt; manchen klingt sie wie ein Hohn. Theoretische Argumente helfen da nicht weiter. Jesus hat uns gesagt, was wir tun können und tun sollen: "Seid barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist" (Luk 6,36). Denn alles, das ihr euren Brüdern und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan (Mth 25). So kann doch in unserer oft so kalt erfahrenen Welt etwas erfahrbar werden von Gottes wärmender Barmherzigkeit. Denn die Barmherzigkeit überbietet die Forderung der Gerechtigkeit, die wir einander schulden. In jeder freiwilligen spontanen Tat der Barmherzigkeit tut sich der verhangen scheinende Himmel wenigstens ein wenig auf. Die Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt als derjenigen, die wir tagtäglich erfahren, wird ein Stück weit Wirklichkeit.

Tück: Die Theologie der Barmherzigkeit müsste dann performativ gewendet und praktisch bewährt werden …

Kasper: Ja, Theodizee geschieht nicht durch Worte und kluge Argumente, Theodizee geschieht durch die christliche Praxis der Barmherzigkeit. Ein christlicher Humanismus der Barmherzigkeit könnte der Weg sein, unsere Rede von Gott neu glaubwürdig zu machen. Für den Jesuiten und NS-Märtyrer Alfred Delp (1907-1945) war die Rückkehr in die Diakonie der einzige Weg aus der Krise, in der sich unsere Kirche wie unsere Welt befinden. Barmherzigkeit könnte die Antwort sein auf die Passionsgeschichte unserer Zeit.

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