Theologie aus GotteserfahrungKarl Rahner zum 120. Geburtstag

Karl Rahner macht es seinen Leserinnen und Lesern nicht leicht. Wer sich aber auf sein Denken einlässt, der wird reich beschenkt.

Karl Rahner und Joseph Ratzinger bei der Würzburger Synode
© Ernst Herb/KNA

Es gibt wohl kaum einen Theologen des 20. Jahrhunderts, über den schon so viele Würdigungen und (polemische) Kritiken geschrieben worden sind wie über Karl Rahner. Von den einen wird er als "bedeutendster Konzilstheologe" und "Kirchenvater der Moderne" verehrt, von den anderen als "Relativist" oder sogar als "Häretiker" verschmäht. Wer sich mit Rahners Schriften und seiner Biografie näher auseinandersetzt, wird schnell feststellen, dass man Rahner nicht in eine Schublade stecken kann – auch wenn dies in der Vergangenheit immer wieder versucht worden ist.

Ein neues Offenbarungsverständnis

Rahner hat mit seinem theologischen Ansatz neue Wege eingeschlagen und die "Schultheologie" der Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufgebrochen. Sein umfangreiches Schrifttum, das über 4.000 Beiträge umfasst und in 32 Bänden herausgegeben worden ist, zeugt von einer monumentalen Lebensleistung. Ein besonderes Verdienst seiner theologischen Arbeit liegt darin, dass er ein erweitertes Offenbarungsverständnis entwickelt und dabei die Theologie seiner Zeit aus den Engführungen eines sterilen, instruktionstheoretischen Offenbarungsverständnisses herausgeführt hat. Nach Rahner ist Offenbarung nicht als satzhafte Instruktion zu verstehen, sondern als personale Selbstmitteilung Gottes in einem relationalen Beziehungsgeschehen zwischen Gott und Mensch. Nach diesem personal-kommunikationstheoretischen Offenbarungsverständnis offenbart Gott nicht irgendetwas über sich, sondern sich selbst. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Theologie, vor allem für die Offenbarungstheologie, die Gnadentheologie, die Christologie, die Trinitätstheologie und insbesondere für die theologische Anthropologie, weil nun auch der Mensch als Adressat der Selbstmitteilung Gottes in den Blick kommt. Dabei wird der Mensch als "Wesen der Transzendenz" und als "Hörer des Wortes" neu gewürdigt.

Rahners Theologie ist nicht leicht verständlich – und bietet reichlich Risiko für Missverständnisse.

Rahners Ansatz, neue Wege zu gehen und sich kritisch-konstruktiv mit der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants auseinanderzusetzen, um sie mit Thomas von Aquin zu verbinden und mithilfe von Joseph Maréchal zu einer Transzendentaltheologie weiterzuentwickeln, ist voraussetzungsreich. Hinzu kommt, dass er mit Begriffen operiert, die der Existentialphilosophie Martin Heideggers entlehnt sind und transzendentaltheologisch gefüllt werden (zum Beispiel "Übernatürliches Existential" oder "Vorgriff auf das Sein"). Dies macht seine Theologie nicht leicht verständlich – und bietet reichlich Risiko für Missverständnisse.

Hinzu kommt Rahners Diktion, die sich in langen, verschachtelten Sätzen ausdrückt. Rahner weiß um die Vielschichtigkeit und Verwobenheit einzelner theologischer Fragestellungen – vermutlich mehr als seine Zuhörer – und versucht daher in seinen Relativsätzen immer wieder zahlreiche Aspekte mitzuberücksichtigen. Dies geschieht allerdings auf Kosten einer leichten Verständlichkeit.

Umso erstaunlicher ist es, dass Rahners voraussetzungsreiche Theologie mit ihrer eigentümlichen Diktion eine solche Wirkungsgeschichte entfaltet hat. Wie kam es dazu? Was macht die Faszination an seiner Theologie aus?

Christsein als mystische Existenz

Wer sich mit der ganzen Bandbreite von Rahners Werken auseinandersetzt, wird feststellen, dass sich Rahners Theologie aus einer existenziell-spirituellen Grunderfahrung speist. Dies wird vor allem in seinen pastoraltheologischen und mystagogischen Schriften deutlich, in denen seine Gottesliebe und sein Gottvertrauen, aber auch sein Ringen und seine Fragen deutlich werden (zum Beispiel in "Worte ins Schweigen", "Von der Not und dem Segen des Gebets", "Was heißt Jesus lieben?"). In diesen Schriften schimmert immer wieder eine Gnadenerfahrung durch, die als Gotteserfahrung bezeichnet werden kann. Denn für Rahner ist die Erfahrung von Gnade im Grunde die Erfahrung von Gott selbst.

Diese existenziell-spirituelle Erfahrung mit Gott schwingt als Hintergrundfolie seiner Theologie mit. Darin wird auch seine ignatianische Spiritualität deutlich, die auch dem Leser etwas von dieser Grunderfahrung mitvermittelt.

Das scheint das Besondere von Rahners Theologie zu sein: Sie speist sich aus einer lebendigen Erfahrung, die dann formal-theologisch reflektiert und begrifflich ausdifferenziert wird. Der Quellgrund seiner Theologie bleibt jedoch die Grunderfahrung mit Gott, die eine eigene Faszination ausübt. 

Von hier aus wird auch nachvollziehbar, warum Rahner die Christen der Zukunft zu einer mystischen Existenz ermutigt. In seinem wohl meistzitierten Satz kommt dies pointiert zum Ausdruck: "Der Fromme von morgen wird ein 'Mystiker' sein, einer, der Gott 'erfahren' hat, oder er wird nicht mehr sein" (Rahner, Frömmigkeit Früher und Heute, in: SW 23, 31-46, hier 39).

Die entscheidende Frage ist nun, was man unter "Mystik" versteht. Für Rahner geht es hierbei nicht um einen weltenthobenen geistlichen Höhenflug, sondern um die (Alltags-)Erfahrung mit Gott im Hier und Jetzt. Es ist eine von der ignatianischen Spiritualität geprägte, "geerdete" Mystik, die sich durch eine inkarnatorische Weltzugewandheit auszeichnet. Rahners pastoraltheologisches Anliegen ist es, suchenden Menschen mit einer solchen Mystagogie zu helfen, Gottes Gegenwart im eigenen Leben zu entdecken.

Nun sind mystische Erfahrungen nicht machbar, sondern unverfügbar. Aber man kann sich nach ihnen ausstrecken. Man kann anfangen, eine achtsame Spiritualität der Wahrnehmung im Alltag zu entwickeln, die es ermöglicht Gott, als tragenden Grund der eigenen Existenz zu entdecken. Rahner macht jedenfalls unmissverständlich deutlich, dass Mystik kein Privileg und keine Sonderveranstaltung ist, sondern zur existenziellen Dimension des Christseins gehört (vgl. Rahner, Mystik – Weg des Glaubens zu Gott, in: SW 29, 58-66).

Als Rahner acht Jahre vor seinem Tod einige seiner zentralen theologischen Gedanken im "Grundkurs des Glaubens" zusammengefasst hatte, würdigte Ratzinger dieses Buch äußerst positiv.

Mit diesem existenziell-spirituellen Ausgangspunkt des Theologietreibens bleibt Rahner eine Quelle der Inspiration. Allerdings gibt es auch Beiträge Rahners, die zum Teil auf heftige Kritik gestoßen sind. Besonders hohe Wellen hat etwa die Kritik an Rahners These von "Anonymen Christen" geschlagen. Diese – vom universalen Heilswillen Gottes ausgehende und zunächst für die binnenkirchliche Reflexion und nicht für den interreligiösen Dialog gedachte – These zur inklusiven Heilsmöglichkeit von Nichtchristen ist sowohl von "linker" als auch von "rechter" Seite scharf kritisiert worden: Während Johann Baptist Metz hier die Vereinnahmung von Nichtchristen monierte, kritisierte Hans Urs von Balthasar den Ausverkauf des Christlichen, der auf eine "Anthropologisierung der Christologie" zulaufe und die kirchliche Sendung überflüssig mache.

Trotz heftiger Auseinandersetzungen, vor allem kurz nach dem Konzil, wurden später wieder versöhnliche Töne angeschlagen. So konstatiert Balthasar im Jahr 1976: "Zunächst: ich halte Karl Rahner aufs Ganze gesehen, für die stärkste theologische Potenz unserer Zeit. Und es ist evident, dass er mir an spekulativer Kraft weit überlegen ist (…) Aber unsere Ausgangspositionen waren eigentlich immer verschieden (…) Rahner hat Kant, oder wenn Sie wollen, Fichte gewählt, den transzendentalen Ansatz. Und ich habe Goethe gewählt – als Germanist." (Balthasar, Geist und Feuer, in: Herder Korrespondenz 30 (1976) 72–82, hier 75).

Verschiedene Ausgangspositionen hatten auch Rahner und Joseph Ratzinger. Während Rahner von einem transzendentalen Ansatz ausging, versuchte Ratzinger von der Heiligen Schrift und der Patristik her den christlichen Glauben für die Gegenwart zu erschließen. Trotz unterschiedlicher Ansätze und verschiedenen Auffassungen bei theologischen Einzelfragen (etwa in Bezug auf die Ekklesiologie), waren sie in anderen Themengebieten relativ nah beieinander (zum Beispiel in Bezug auf die Offenbarungstheologie, zu der sie während des Konzils gemeinsam Texte verfasst haben).

Als Rahner acht Jahre vor seinem Tod einige seiner zentralen theologischen Gedanken im "Grundkurs des Glaubens" (1976) zusammengefasst hatte, würdigte Ratzinger dieses Buch äußerst positiv:

"Rahners Grundkurs ist ein großes Buch. (…) Man muss dankbar sein, dass Rahner als Frucht all seiner Bemühungen zuletzt diese imponierende Synthese geschaffen hat, die eine Quelle der Inspiration bleiben wird, wenn einmal ein Großteil der heutigen theologischen Produktion vergessen ist" (Vom Verstehen des Glaubens. Anmerkungen zu Rahners Grundkurs des Glaubens, in: Theologische Revue 74 (1978) 177–186, hier 186).

Im Sonnensystem der Theologie

Trotz dieser erstaunlich positiven Würdigung merkt Ratzinger auch an, dass er und Rahner "trotz der Übereinstimmungen in vielen Ergebnissen und Wünschen theologisch auf zwei verschiedenen Planeten lebten" (Aus meinem Leben. Erinnerungen, München 1997, 131).

Um im Bild zu bleiben: Auch wenn Rahner und Ratzinger theologisch auf zwei verschiedenen Planeten lebten, hat doch jeder Planet seine eigene Bedeutung im "Sonnensystem der Theologie". Mit etwas Abstand betrachtet, wird wohl ersichtlich werden, dass jeder Planet mit seiner je eigenen Umlaufbahn um dieselbe Sonne (= Gott) kreist.

Jeder "theologische Planet" bietet eine je eigene Behausung für Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen: Der eine "theologische Planet" für philosophisch und existenziell Fragende (= Rahner), der andere Planet für biblisch und patristisch Interessierte (= Ratzinger), wiederum ein anderer Planet für literarisch und ästhetisch Affine (= Balthasar) und wiederum ein anderer Planet für Theodizee-sensible Gottsucher (= Johann Baptist Metz). Diese Vielfalt im "Planetarium katholischer Theologie" des 20. Jahrhunderts sollte nicht gering geschätzt oder gegeneinander ausgespielt werden, da gerade die unterschiedlichen Umlaufbahnen, Perspektiven und Behausungsmöglichkeiten die Weite des "kat'holon" mit ihrem "et-et" zum Ausdruck bringen.

Möge der 120. Geburtstag Rahners dazu beitragen, in der Weite zu wachsen und wieder Brücken zu bauen, um auch die Andersartigkeit des anderen (wieder) schätzen zu lernen.

Gewiss – Rahner macht es seinen Leserinnen und Lesern nicht leicht. Wer sich aber darauf einlässt, der wird reich beschenkt – mit einer Art theologischen Denkens, das sowohl um fachtheologische als auch existenziell-relevante Antworten ringt. Dies kann vor allem für eine junge Generation von Nachwuchstheologinnen und -theologen relevant sein, die Theologie nicht nur als intellektuelle Disziplin, sondern auch als spirituelles Abenteuer begreifen wollen.

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