Die Frage, wie Religionen sich zu moralischen Ordnungen verhalten, ist keine rein akademische. Auch für das Christentum gilt, dass es den sittlichen Angelegenheiten des Lebens nicht gleichgültig gegenübersteht, verkündet es doch einen Gott, von dem die Bibel erzählt, dass er Gerechtigkeit will (Psalm 82).
Was dieses Bekenntnis für ethische Erwägungen bedeutet – denken wir an die Menschheitsherausforderung Krieg und Frieden, die Klimapolitik oder das Verhältnis der Geschlechter –, ist ein Thema, das bereits in der Heiligen Schrift begegnet. War Abraham gerecht, als er sich gehorsam dem göttlichen Willen fügte, seinen Sohn zu opfern? (Gen 22) Was bedeutet es für die kulturelle Entwicklung des moralischen Bewusstseins, wenn Abraham, obwohl "Staub und Asche" (Gen 18,27), auf Gottes Plan, Sodom zu bestrafen, freimütig entgegnet: "Fern sei es von dir, so etwas zu tun: den Gerechten zusammen mit dem Frevler töten" (Gen 18,25). In welcher Hinsicht ist Abraham ein Vorbild sittlichen Handelns? (vgl. Omri Boehm, The Binding of Issac. A Religious Model of Disobedience, London 2007)
Das Thema ist ein ernstes: Ist Juden, Christen oder Muslimen aufgrund ihres Glaubens auf dem Feld der Moral – hier geht es nicht nur um Sitten und Gebräuche – mehr erlaubt oder verboten als ihren säkularen Mitmenschen? Kann es für die Frommen eine Suspension von moralischen Gewissheiten geben?
Rührt nicht das Unbehagen an religiösen Sonderregeln aus dem kollektiven Gedächtnis über die schrecklichen Folgen einer Rechtfertigung von Gewalt, die sich durch die Geschichte zieht? Historisch war der Zusammenhang von Religion und Moral spätestens dann auf die theologische Tagesordnung zu setzen, als konfessionelle Spaltung das Problem der Identifikation der wahren Kirche aufwarf und den gesellschaftlichen Zusammenhalt prekär werden ließ. So kommt es zum Ruf nach der Zivilisierung religiöser Traditionen.
Wie wird Moral begründet?
Angesichts des Gesagten ist das zuletzt von Stephan Herzberg angemahnte vertiefte Nachdenken über Gott und die Moral ein erstrangiges theologisches Thema. Die sich aufdrängenden Begründungsfragen christlicher Moral werden seit den Sechzigerjahren intensiv und konfessionsübergreifend kontrovers diskutiert. Selbst das römische Lehramt hat sich an dieser Grundlagendebatte beteiligt und – was durchaus nicht üblich ist – entschieden Partei ergriffen.
Gegenüber dem, was lehramtlich und von Herzberg vorgetragen wird, sind weitergehende Differenzierungen und Erwägungen geeignet, zu einem besseren Verständnis dessen zu gelangen, was im Ansatz der Autonomen Moral entwickelt worden ist (siehe etwa Karl-Wilhelm Merks, Theologische Fundamentalethik, Freiburg 2020). Dabei kommen auch Gemeinsamkeiten in den Blick. Christinnen und Christen, so soll gezeigt werden, können aus guten Gründen den Zusammenhang zwischen Gott und Moral anders verstehen als unter der Vorgabe, sich fügsam dem zu beugen, was religiöse Autoritäten zum göttlichen Gesetz erklären.
Zu beantworten bleibt die Frage, wie mit dem lehramtlichen Anspruch umzugehen ist, in Zweifelsfällen die Erkenntnis moralischer Normen durch besonderen Geistbeistand garantieren und eine mehr als vernünftige Rechtfertigung leisten zu können.
Bei allem Nachdenken über Religion und Moral ist zunächst zwischen Beschreibungen und Begründungen zu unterscheiden. Wie sich religiöse Überzeugungen auf moralische faktisch auswirken, ist durch historische und empirische Studien zu klären. Im Blick auf die Christentumsgeschichte dürfte durch den Buchtitel "Toleranz und Gewalt" (Münster 2007) von Arnold Angenendt das Spektrum treffend ausgedrückt worden sein. In der Ethik geht es im eigentlichen Sinne um Begründungen, um die Erkenntnis und die Geltung sittlicher Ansprüche.
In guter naturrechtlicher Tradition ist der Mensch für Herzberg grundsätzlich in der Lage, das Gesollte unabhängig von Offenbarungsereignissen zu erkennen. In diesem Sinne argumentiert er autonom. Zu beantworten bleibt freilich die Frage, wie dann mit dem lehramtlichen Anspruch umzugehen ist, in Zweifelsfällen die Erkenntnis moralischer Normen durch besonderen Geistbeistand garantieren und eine mehr als vernünftige Rechtfertigung leisten zu können. Wenn ein Papst sagt, er spreche als "Vertreter moralischer Vernunft", dann darf es keine Rolle spielen, dass er als Papst spricht.
Die Erkenntnisfähigkeit des Guten fällt also in die Zuständigkeit des sittlichen Subjekts. Wie steht es um die Begründung der Geltungskraft des Moralischen? Mit Herzberg gehe ich davon aus, dass es unbedingte moralische Ansprüche gibt und diese zu fundieren sind. Bei der Antwort auf die Geltungsfrage trennen sich die Wege. Eine lange katholische Tradition denkt an dieser Stelle theonom. Erst durch Rekurs auf Gott (seinen Willen oder sein Gesetz) könne begründet werden, warum es in der Welt des Moralischen Unverfügbares gibt. Doch diese Art der Letztbegründung ist nicht mehr zwingend. Die Alternative lautet: Unbedingtes sittliches Sollen gründet in der Unbedingtheit der Würde der menschlichen Person als Freiheitswesen. Ist es Zufall, dass davon im Text von Herzberg keine Rede ist?
Entscheidend ist der Wert der Person
Die Idee der Freiheit als Kern der menschlichen Natur muss dem Christentum nicht übergestülpt werden, wie philosophiehistorische Arbeiten zeigen (etwa Theo Kobusch, Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität, Darmstadt 2006). Das Unbedingte wird nicht über das göttliche Wollen oder sein Gesetz begründet, sondern geht von einem Wert aus, dem Wert der Person. So sieht es nicht erst die Autonome Moral (vgl. Bernhard Häring, Das Heilige und das Gute, München 1950). Diese Qualität des Personalen theologisch als Auszeichnung des Geschöpfes durch seinen Schöpfer zu deuten, bleibt unbenommen. Die Unverfügbarkeit von Würde aber leuchtet Menschen diesseits und jenseits von Glaubensgemeinschaften ein.
Sittlichkeit ist Selbstgesetzgebung – oder sie ist nicht. Ob dies mit dem Denken eines Augustinus oder eines Thomas in Übereinstimmung zu bringen ist, darüber mögen die Fachleute befinden. Es tut nichts zur Sache. Geltungsfragen lassen sich nicht durch Klassiker-Auslegungen beantworten.
Könnten wir den unbedingten Anspruch des Moralischen nicht vorgängig zum Glauben, das heißt autonom, vernehmen, hätten wir kein Kriterium, das wir an Aussagen religiöser Sprecher über einen göttlichen Willen oder ein göttliches Gesetz anlegen könnten. Stünde dieses Kriterium nicht auf eigenen Füßen, wäre uns am Ende versagt, mit Geboten, die uns religiös auferlegt werden sollen, auch nur zu hadern. Wie stünde es um den liebenden Gott, wenn wir uns seinen Geboten zu beugen hätten, weil es seine Gebote sind, selbst wenn sie menschlicher Reflexion nicht einleuchten? Kurz: Sittlichkeit ist Selbstgesetzgebung – oder sie ist nicht. Und hofft Gott nicht auf den ganz und gar freien Glaubensakt des Menschen? Ob dies mit dem Denken eines Augustinus oder eines Thomas in Übereinstimmung zu bringen ist, darüber mögen die Fachleute befinden. Es tut nichts zur Sache. Geltungsfragen lassen sich nicht durch Klassiker-Auslegungen beantworten.
Freiheit und Verantwortung
Moralische Ordnungen sind damit grundlegend als Freiheitsordnungen zu bestimmen. Für diese Position gibt es theologische Vorläufer, wie etwa Hermann Krings gezeigt hat (Woher kommt die Moderne? In: Zeitschrift für Philosophische Forschung 41 [1987] 3-18). Anthropologisch formuliert: Der Mensch ist von Natur aus dasjenige Lebewesen, das unter dem Gesetz der "natürlichen Künstlichkeit" (Helmuth Plessner) die Normen seiner Lebenswelt in Wahrnehmung seiner Verantwortung zu konstruieren hat. Als geoffenbart behauptete Vorgaben besitzen dabei keinen Sonderstatus. Es bleibt zu prüfen, ob sie überzeugen. Der thomanische Gedanke, den Herzberg stark macht, dass wir am Gesetz Gottes teilhaben, wenn wir uns human verhalten, ist eine nachlaufende religiöse Interpretation. Wir erfahren erst dann, was das für uns Menschen von Gott "vorgesehene" Gute ist, wenn wir danach suchen, ohne zuvor zu behaupten, es stünde bereits fest, was das ewige Gesetz von uns fordert.
Ein Wort zur von Herzberg geteilten Skepsis gegenüber Revisionen römischer Sexualmoral. Es stimmt: Diese seit gut einem Jahrhundert in unseren Breiten eher abseitige Morallehre auf klerikale Machtinteressen zu reduzieren, greift zu kurz. Aber dass die moraltheologische Kritik den "vermeintlich wahren Interessen aller Menschen", wie Herzberg schreibt, auf den Leim geht, ist ebenfalls eine Verkürzung. In der Ethik ist fraglos Rücksicht zu nehmen auf natürliche Phänomene. So ist die Sexualität Teil der menschlichen Natur und zugleich Thema menschlichen Handelns nach normativen Prinzipien, die nicht aus dem Natürlichen unmittelbar abzuleiten sind. Sozialanthropologisch betrachtet ist der Mensch ein in Kultur und Geschichte verstricktes Wesen. Was braucht es uns heute zu kümmern, was frühere Zeiten, auch christliche, über das eherne Gesetz der subalternen Stellung der Frau oder über den erbsündenbedingten Status der Sklaverei verkündet haben, wenn wir über das Geschlechterverhältnis oder eine menschenrechtliche Ordnung nachdenken? Die Kritik an katholischer Sexualmoral als modische Anpassung zu deuten, übersieht deren sittlichen Ernst.
Oder, ein anderes Beispiel, kann für uns verbindlich sein, was in der Vergangenheit über den menschlichen Makel sexueller Unreinheit gedacht wurde? Was machen wir, wenn wir erkennen, dass Moralvorstellungen aus der archaischen Welt der Befleckung bis in die Gegenwart des Katholizismus hineinreichen? Werden wir uns nicht davon lösen und unsere Sexualität nach den ethischen Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und Liebe gestalten wollen (vgl. Paul Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, Freiburg/München 21988, 33-38)?
Christliche Moral darf nicht Unterwerfungsbedürfnissen dienen
Mit dem Prinzip der sexuellen Selbstbestimmung steht uns ein alles andere als inhaltleeres Prinzip zur Verfügung. Gibt es ein besseres? Kollisionen mit überlieferten Moralvorstellungen sind vorhersehbar, aber kein schlagendes Gegenargument. Kein Christ ist moralisch verpflichtet, sich den sogenannten traditionellen (oder: patriarchalen) Werten zu verschreiben, die so allergisch auf die Anerkennungskämpfe sexueller Minderheiten reagieren. Im Gegenteil: Sind nicht die zahllosen Verbrechen sexueller Gewalt und die permanenten sexuellen Grenzverletzungen Grund genug für eine Anerkennung des Rechtsgutes der sexuellen Selbstbestimmung, wie es im staatlichen Bereich längst etabliert ist?
Sittliche Autonomie, man wird müde, es zu betonen, meint nicht, blanken Individualismus für sakrosankt zu erklären. Es geht ihr um gemeinsame Freiheit.
Von daher ist schwer nachvollziehbar, weshalb in katholischen Kreisen Selbstbestimmung oft pauschal negativ konnotiert wird. Und auch Herzberg lässt wenig Wertschätzung für die Idee der Selbstbestimmung erkennen. Dass nicht jede im Namen von Autonomie erhobene Forderung kritiklos zu übernehmen ist, versteht sich von selbst. Sittliche Autonomie, man wird müde, es zu betonen, meint nicht, blanken Individualismus für sakrosankt zu erklären. Es geht ihr um gemeinsame Freiheit. Mit den Worten von Thomas Pröpper: "Freiheit trägt Verantwortung für eine Welt, durch deren Verhältnisse die Bestimmung aller Menschen zur Freiheit gefördert wird und ihre Anerkennung eine gemeinsame Darstellung findet" (Autonomie und Solidarität, in: JCSW 36 [1995] 11-26, 18). In einer Zeit, in der weltweit liberale Demokratien durch autoritäre Theorien bekämpft werden, ist aus Sicht des Konzeptes der Autonomen Moral entschieden, wie sich das katholische Christentum moralpolitisch zu positionieren hätte. Die lange Epoche, in der christliche Moral eher Unterwerfungsbedürfnissen als Emanzipationsbestrebungen entgegenkam, sollte vorüber sein.