Sie nehme aus der Veranstaltung mit, dass es beim Thema Abtreibung in der katholischen Moraltheologie keine "reine Auslegung", sondern vielmehr "Spielräume" gebe. So lautete das Fazit von Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) zum Abschluss einer Diskussion über den Abtreibungsparagrafen 218 beim Katholikentag in Erfurt. Das kommt natürlich darauf an, welchen Moraltheologen man fragt. In Erfurt saß Stephan Goertz von der Universität Mainz auf dem Podium. Von Moderatorin Christiane Florin auf die Aussage des Katechismus angesprochen, bei der Abtreibung handle es sich um ein "schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz", meinte Goertz: Die offizielle kirchliche Lehre beantworte die Frage einseitig zulasten von Frauen. Doch das Problem lasse sich nicht "glatt lösen", da unterschiedliche Güter involviert seien. Es handle sich um ein Dilemma, das sich nur durch Kompromisse befrieden lasse. Papst Johannes Paul II. sei bei dem Thema "rigoros" gewesen und habe einen "Kampf gegen Freiheitsrechte" geführt. Was die Ausstellung von Beratungsscheinen betrifft, die laut derzeitiger Rechtslage für eine straffreie Abtreibung nötig sind, seien die Bischöfe "in der Pflicht, ihre Position zu ändern", wenn sie überhaupt "glaubwürdig in der Debatte mitreden" wollten.
Die Debatte um die Schwangerschaftskonfliktberatung, die vor 25 Jahren die katholische Kirche bewegte, spielte in Erfurt nur noch als historische Reminiszenz eine Rolle.
Auf dem Podium, das bereits im Vorfeld für Aufmerksamkeit gesorgt hatte, saßen neben Paus und Goertz noch die Rechtwissenschaftlerin Laura-Anna Klein, Verfasserin einer Promotionsarbeit zum Thema "reproduktive Freiheiten", die ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp, sowie Kornelia Schmidt, Mitarbeiterin einer "Donum Vitae"-Beratungsstelle. Der Verein "Donum Vitae" war 1999 von katholischen Laien gegründet worden, nachdem die Bischöfe auf Weisung des Papstes entschieden hatten, dass kirchliche Beratungsstellen im Rahmen der Schwangerschaftskonfliktberatung keinen Beratungsschein mehr ausstellen durften.
Die Debatte, die vor 25 Jahren die katholische Kirche bewegte, spielte in Erfurt nur noch als historische Reminiszenz eine Rolle. Ein Vertreter der "römischen" Position war auf dem Podium nicht anwesend, auch kein katholischer Bischof. Stetter-Karp vertrat den Standpunkt des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, das sich für eine Beibehaltung der derzeitigen Regelung ausspricht. Mit einer Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch wäre, so fürchtet man, auch die bisher verpflichtende Beratung der Schwangeren obsolet. Deutschlandweit gibt es rund 200 "Donum Vitae"-Beratungsstellen. Ohne dazu verpflichtet zu sein, meinte Kornelia Schmidt, würden aber nur die wenigsten Frauen eine Beratung aufsuchen. Paus verwies auf die Einschätzung der von ihr eingesetzten "Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin", dass die Politik auch bei einer Streichung des Paragrafen 218 aus dem Strafgesetzbuch eine Beratung weiterhin verpflichtend vorschreiben könne.
Die Historikerin Isabel Heinemann, die über "health feminism" forscht, hatte die Aufgabe, zu Beginn der Veranstaltung die Entwicklung der Abtreibungsdebatte in Deutschland zu schildern, tat dies aber nicht wertungsfrei: Für Heinemann war in der Bundesrepublik die "Vorstellung der patriarchalen Familie" in der Abtreibungsfrage "wirkmächtig" und stand einer "volle Gleichberechtigung der Frauen" entgegen.
Immerhin bekannte sich die Familienministerin im Grundsatz zum "Lebensrecht des Ungeborenen". Das ist freilich auch nicht schwer, wenn daraus nichts folgt, was weiteren Liberalisierungen entgegensteht. Das Lebensrecht habe eine hohe Bedeutung, es lasse sich aber nicht gegen den Willen der Schwangere schützen, so Paus. Deswegen müsse das Thema außerhalb des Strafrechts geregelt werden. Auf die Frage, warum eigentlich keine Kirchenvertreter an der Kommission beteiligt waren, antwortete Paus, sie habe um der Versachlichung der Debatte willen eine "Kommission allein aus Wissenschaftlern" haben wollen; die Kirchen hätten sich aber auf dem Wege der Anhörung einbringen können.
Kein Diskussionsteilnehmer widersprach der Frage aus dem Publikum, ob es sich beim Embryo "von Anfang an" um menschliches Leben handle. Irme Stetter-Karp stellte indes die Preisfrage: "Von Anfang an, aber was heißt das dann?"
Bemerkenswert war die Beobachtung der Rechtswissenschaftlerin Klein (einer Fürsprecherin "reproduktiver Selbstbestimmung"): Das Bundesverfassungsgericht habe in seinen einschlägigen Urteilen einen "absoluten Lebensschutz" des Ungeborenen vertreten, sei aber im Ergebnis nicht konsistent gewesen, weil daraus eigentlich ein "komplettes Verbot" hätte folgen müssen.
Die Ministerin kann sich jedenfalls notieren: Die Katholiken wünschen sich, dass die Schwangerschaftskonfliktberatung beibehalten bleibt (etwas, das für Papst Johannes Paul II. noch als Mitwirkung an einem moralischen Übel galt), ein grundsätzlicher Widerstand in der Frage, gar rigorose Forderungen, sind von der katholischen Kirche aber nicht mehr zu erwarten.