Der Papst wünscht sich eine "echte historische Sensibilität" bei Theologiestudenten. Zurecht: Denn das ist die Voraussetzung für einen Dialog der Kirche mit ihrer säkularen, post-christlichen Umwelt.

Auch jenseits des für Deutschland so prägenden 9. November scheinen manche Tage im elften Monat des Kalenders richtungsweisend für den Verlauf anderer Bezugsgrößen zu sein, etwa der Kirchengeschichte. Am 21. November hat Papst Franziskus ein Schreiben zur Erneuerung des kirchengeschichtlichen Studiums veröffentlicht, "gegeben zu Rom, bei Sankt Johannes im Lateran", jenem Ort, der bis heute mit der Aura großer Papstnamen wie Leo III., Innozenz III. und Bonifatius VIII. verbunden ist.

Während ich den Brief und die Vorstellung im Bolletino kurz nach dem Mittagessen lese, kommt mir ein anderer Novembertag in den Sinn, 148 Jahre früher. Über diesen Novembertag im Jahr 1876 schreibt der Priester, Archäologe und Wissenschaftsmanager Anton de Waal (1837-1917):

"Der Heilige Vater hatte am 27. November 1876 die Gründung einer eigenen, Seinen Erlauchten Namen tragenden Kaplanei in Campo santo genehmigt, deren jedesmaliger Inhaber sich mit dem Studium der Kirchengeschichte, der christlichen Alterthumskunde und der Forschung zumal in der vatikanischen Bibliothek beschäftigen sollte."

Bei Pius IX. wird 1876 dasselbe Ziel sichtbar, wie bei Franziskus 2024: den kirchlichen Nachwuchs zu ermutigen, die Aufgabe des Zeugnisses und der Verkündigung des ihnen anvertrauten Glaubens mithilfe der Kirchengeschichte in ihrer Gesamtheit anzugehen, das heißt, sie zu studieren und zu erforschen. In der für beide Pontifikate charakteristischen Betonung der Gefühle und der Filiation wird die Kirchengeschichte als Weg zur Liebe zur Mutterkirche präsentiert; Pius IX. sprach häufig zu seinen figlioli und Bergoglio evoziert gerne die mamma.

Natürlich gibt es große Unterschiede zwischen Pius IX. und Franziskus. Ersterer dachte noch ganz in den Kategorien der vormodernen Apologetik, während Letzterer die Notwendigkeit einer gründlichen Kenntnis auch der dunklen Seiten der Kirche betont. So erteilt der Brief vom 21. November 2024 einer Kirchengeschichtsschreibung eine Absage, die nur triumphalistische Positionen verteidigt. Pius IX. erließ nur ein juristisch klares Breve, in dem er ein bestehendes Priesterkollegium (das bis heute bestehende Priesterkolleg am Campo Santo Teutonico) im Vatikan genehmigte, während Bergoglio sich an die ganze Welt mit alcuni pensieri, mit Gedanken wendet.

Franziskus betont die Notwendigkeit, Priesteramtskandidaten zu einem Geschichtsbewusstsein als Gegenmittel zum modernen Individualismus zu erziehen. Das erinnert an das, was Kardinal Luis Tagle 2022 anlässlich der 400-Jahr-Feier der Gründung der "Propaganda Fide", dem heutigen Dikasterium für die Evangelisierung, sagte. Der philippinische Kardinal sprach, übrigens auch an einem Novembertag, von einer "Geschichte aus Geschichten". Franziskus erinnert in seinem Brief an die Beziehung der Kirche zu den verschiedenen Völkern – das Thema schlechthin der Geschichte der "Propaganda Fide": egal, ob es um die Versöhnung von Angehörigen byzantinischer Kirchen mit Rom, den Umgang mit der Reformation, die Jurisdiktion an den Enden des spanischen Weltreiches oder die heiklen Fragen von Imperialismus, Kolonialismus und Mission im 19. Jahrhundert geht. Über die Geschichte kommen die überindividuellen Strukturen zum Tragen; das gilt unabhängig davon, ob man die Theorien von Gehlen oder von Bourdieu präferiert.

Kirchengeschichte als actus religiosus

Das Papstschreiben lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die historische Sensibilität führt zur Erkenntnis der ganzen Wahrheit (verità intera). Daran knüpft die rhetorische Frage nach einem primären Gegenstand der Kirchengeschichte an:

"Ist nicht gerade dies für den Kirchenhistoriker ein vorrangiges Forschungsgebiet, das gewöhnliche Gesicht der Letzten so weit wie möglich ans Licht zu bringen und die Geschichte ihrer Niederlagen und der Unterdrückung, die sie erlitten haben, aber auch ihres menschlichen und geistlichen Reichtums zu rekonstruieren, und damit Mittel zum Verständnis der heutigen Phänomene der Marginalisierung und Ausgrenzung zur Verfügung zu stellen?"

Das Erbe der Annales-Schule ist in diesen Sätzen unverkennbar; Perlen der religiösen Alltagsgeschichte und der Mentalitätsgeschichte wie Carlo Ginzburgs "Il formaggio e i vermi" von 1976 und Arnold Eschs Studie über die Protokolle der Heiligsprechung von Francesca Romana (1384-1440) von 1973 erklingen als Hintergrundmusik zum päpstlichen Schreiben, auch wenn sie nicht direkt erwähnt werden. Das sehr menschliche Schicksal der kleinen Leute in Menocchio und die "Freude und Hoffnung, Trauer und Angst des Volkes" zwischen dem Trastevere und dem Campo Vaccino im Rom des späten Mittelalters spiegeln die ganze Menschheit wider und machen den entscheidenden Unterschied deutlich, den die Kirchengeschichte zum actus religiosus werden lässt.

Bruno Forte, italienischer Theologe und Erzbischof von Chieti, kommentiert im Avvenire: Bei der Beschäftigung mit der Kirchengeschichte kommt es auf die Haltung gegenüber dem Jenseits an: "Die Anerkennung der eigenen Begrenztheit wird für das Geschöpf zum offenen Raum für die Anerkennung der Transzendenz, die die Geschichte trägt und lenkt".

Durch die Erforschung und hermeneutische Deutung der Vergangenheit sollte der Historiker der Liebe Gottes näherkommen, wie es bereits die kirchenhistorische Schule der Mauriner vor gut 400 Jahren praktiziert hat.

Es bleibt der erste Impuls des kirchlichen Historiografen, die Offenbarung Gottes und dessen Wirken in der Welt zu ergründen.

Angehende Geistliche – "und auch andere pastorale Mitarbeiter", wie Franziskus ergänzt – sollen durch die Kenntnis der Geschichte besser in der Lage sein, den Menschen in der Liebe Gottes zu begegnen. Im Gegensatz zu den Debatten der spanischen Humanisten Antonio de Nebrija (1444-1522) und Lucio Marineo Siculo (1444-1533), die vor 500 Jahren über den Beruf des Historikers im Kampf um die königliche Gunst philosophierten und die Darstellung der ruhmreichen Taten des Monarchen als primäre Aufgabe identifizierten, bleibt der erste Impuls des kirchlichen Historiografen, die Offenbarung Gottes und dessen Wirken in der Welt zu ergründen.

Licht und Schatten

Von hier aus ist die Wahrnehmung der "ganzen Wahrheit" im Sinne des Papstes möglich, zu der alle Licht- und Schattenseiten der Glieder der Kirche gehören. Wie oft schreiben wir nicht über ehebrecherische Priester und mörderische Bischöfe, wenn wir zum Beispiel Material aus der Apostolischen Pönitentiarie auswerten. Aber gerade der Ausgangspunkt bei der Offenbarung macht es erträglich, über solche Verbrechen zu lesen, die trotz der wissenschaftlich gebotenen Distanz zum Untersuchungsgegenstand unweigerlich die Gemüter erhitzen. Umgekehrt: Wie oft sehen wir Priester, die sich buchstäblich in Christus überwinden, um schmutzige Bettler zu trösten und aggressive Bürgermeister sanft, aber bestimmt zur Rede zu stellen (natürlich nicht wie in der Karikatur des Don Camillo!).

War die Geschichte mit der Fleischwerdung am Ende? Eben nicht! Und darum lohnt es sich, mit Passion der Geschichte zu begegnen und dabei auch kleinere Endzeitmomente – von Joachim von Fiore (1135-1202) bis Francis Fukuyama – kommen und gehen zu sehen.

Hier geht es um mehr als einen Appell zur pastoralen Nähe. Es geht um Christus, die schöpferische Ewigkeit, die aus Liebe für einige Jahre Endlichkeit wurde, der uns nicht zuletzt in den Armen begegnet – aber nicht nur in der Gegenwart, sondern auch jenen mittlerweile (fast!) 2025 Jahren, die seit dem größten Ereignis der Weltgeschichte verflossen sind. War die Geschichte mit der Fleischwerdung am Ende? Eben nicht! Und darum lohnt es sich, mit Passion der Geschichte zu begegnen und dabei auch kleinere Endzeitmomente – von Joachim von Fiore (1135-1202) bis Francis Fukuyama – kommen und gehen zu sehen.

Priester zwischen Archiv und Beichtstuhl

Ein paar Tage später, auf der Rückfahrt von einer zeithistorischen Jahrestagung im Ruhrgebiet, fallen mir die Namen von Priestern ein, die, wie Cesare Baronius (1538-1607) – den der Doyen der italienischen Kirchengeschichte, Andrea Riccardi, in der offiziellen Vorstellung des Schreibens erwähnte – abwechselnd in den Archiven und im Beichtstuhl tätig waren. Was wäre mit unzähligen Seelen geschehen, wenn Lorenzo Cardella (1734-1822) – der legendäre Seelenhüter des römischen Rione Regola – nicht am Ende des Pontifikats von Pius VI. seine zehnbändigen "Memorie storiche de cardinali della Santa romana chiesa" geschrieben hätte? Wie wäre das Leben von Giovanni Battista Palma (1791-1848) weitergegangen, wenn er während der Revolution am Quirinal nicht von einer verirrten Kugel in der Nähe des Fensters getroffen worden wäre?

Die Durchsagen von Zügen in Richtung Limburg erinnern mich an Philipp Müller (1804-1870), Priester des ersten Weihejahrgangs im neu errichteten Bistum Limburg, dessen jahrelange Bemühungen um die Neuevangelisierung Westdeutschlands und Ostfrankreichs in einem 17-bändigen Werk über die Geschichte der Päpste gipfelte, bevor er im Sommer 1870 im Ospedale di Santo Spirito in Sassia starb, während draußen der Kanonendonner der Belagerung Roms zu hören war.

Auch Johannes Janssen (1829-1891), bis heute als Stifter in einem Seitenaltar am Frankfurter Kaiserdoms verewigt, erlangte als (Priester-)Schüler von Johann Friedrich Böhmer (1795-1863) die Reife, in der dem Katholizismus gegenüber ablehnenden Universitätslandschaft des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Kaiserreichs selbstständig zu wirken.

Hier zeigt sich: Die zunehmende Säkularisierung macht die Vertrautheit mit der Geschichte, die vom Papst geforderte sensibilità storica, umso zwingender. Das gilt auch heute, und zwar nicht für eine ungebildete Apologetik auf der Basis historischer "Fakten" von Instagram, sondern gerade auch für den Dialog zwischen der christlich-katholischen Tradition mit ihrer Umwelt.

Leider ist die Kirchengeschichtsschreibung bald 13 Jahre nach dem Tod des prägenden Kirchenhistorikers der Gregoriana und wahrscheinlich besten Kenner des Pontifikats Pius' IX., sowie Vorreiter im Denken über die kuriale Wahrnehmung von Geschichte, Giacomo Martina (1924-2012), selbst im ewigen Rom und trotz der wirtschaftlichen Bedeutung des Heiligen Jahres keine führende Kraft mehr. In Zeiten, in denen Studenten Seminararbeiten mit ChatGPT verfassen (und wie!), gewinnt der Aufruf des Papstes eine unerhörte Aktualität. Ich bin überzeugt, dass KI in der historischen Forschung überaus gewinnbringend eingesetzt werden kann, aber ein naiver Gebrauch führt wirklich in die Verblödung – diplomatischer lässt es sich bedauerlicherweise nicht sagen.

Man kann nur hoffen, dass der Brief nachhaltige Früchte trägt, damit Seminaristen, Priester und alle angehenden Theologen auch in nachchristlichen Zeiten ein glaubwürdiges Zeugnis ihrer Berufung für das Heil ihrer Mitmenschen geben können.

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