Zwischen Erbe und ErwartungPapstwahl unter neuen Vorzeichen

Noch vor wenigen Tagen wurde an die Wahl Benedikt XVI. vor 20 Jahren erinnert. Nun ist sein Nachfolger Franziskus gestorben. Joseph Ratzinger hat eine Generation von Katholiken geistlich, theologisch und intellektuell geprägt, die heute immer stärker die Geschicke in den Händen hält. Heute erscheint die Lage unübersichtlicher als 2005. Zwar hat Franziskus in seinem Pontifikat Akzente gesetzt, doch die Kirche erscheint fragmentierter als nach dem langen Pontifikat Johannes Paul II. Zudem hat Franziskus ein Kardinalskollegium geschaffen, das weit verstreut erscheint. Viele Kardinäle kennen einander kaum, die wenigen Konsistorien seit 2013 boten keine ausreichende Gelegenheit zur Aussprache. Die Vernetzung verlagert sich in kleinere Zirkel, informelle Treffen, akademische Konferenzen – und in Sprachgemeinschaften.

Strukturverlust und neue Koalitionen

Das Franziskus-Pontifikat hat institutionelle Gewichte verschoben. Der Stil der Leitung war weniger kollegial als vielfach angenommen, mitunter deutlich autoritär. Kirchenrechtliche Verfahren wurden umgangen oder im laufenden Betrieb angepasst. Die Form der Synodalität blieb vielfach prozedural. Manche Kurienabteilungen beklagen mangelnde Rücksprache, auch vatikanisches Staatsrecht wurde zuletzt kurzfristig modifiziert. Eine Folge davon: wachsendes Bedürfnis nach Ordnung, auch unter Kardinälen, die dem Reformkurs zunächst offen gegenüberstanden.

Die Konstellationen vor dem nächsten Konklave folgen keiner einfachen reformerisch-konservativen Logik mehr. Vielmehr zeigt sich eine Verschränkung verschiedener Tendenzen

Auffällig ist zudem die veränderte Zusammensetzung des Kardinalskollegiums. Die geografische Diversifizierung durch Franziskus ist offenkundig, sie verstärkte die Stimmen der Peripherie im Zentrum der Kirche – etwa aus Bangladesch, Osttimor oder der Mongolei. Prominente Diözesen wie Mailand, Paris oder Los Angeles wurden übergangen, während andere in den Kardinalsstand erhoben wurden, deren Stimmen in Rom bislang kaum Gewicht hatten.

Typen und Optionen

Die Konstellationen vor dem nächsten Konklave folgen darum keiner einfachen reformerisch-konservativen Logik mehr. Vielmehr zeigt sich eine Verschränkung verschiedener Tendenzen. Einige Kardinäle treten als Typen hervor, die bestimmte Optionen repräsentieren – theologisch, spirituell oder institutionell. Manche treten als juristisch versierte Reformer auf, andere als geistlich geerdete Visionäre. Und wieder andere wirken vor allem durch ihre moralische Glaubwürdigkeit.

Ordnung als Gegenmodell zur Improvisation

Der ungarische Kardinal Péter Erdő, Erzbischof von Esztergom-Budapest, gilt als ein europäischer Purpurträger mit kirchenrechtlichem Format. Seine Rolle als Generalrelator der Familiensynode 2014 machte ihn international sichtbar als Verteidiger orthodoxer Positionen. In einer Kirche, die vielfach den Verlust institutioneller Berechenbarkeit beklagt, könnte Erdő als Option wahrgenommen werden. Auch geopolitisch bringt Erdő ein Profil mit: als Osteuropäer stünde er in der Tradition Johannes Paul II, doch kommt er aus einem Land mit einer Sonderrolle innerhalb der EU und könnte ein potenzieller Vermittler zwischen West und Ost in einer Weltkirche sein, die sich im Schatten des Ukraine-Kriegs neu sortieren muss. Doch scheint sich Erdő in der letzten Zeit aus der kirchlichen Öffentlichkeit eher zurückzuziehen.

Reform in globaler Sprache

Als Generalrelator der Weltsynode zur Synodalität ist der Luxemburger Jesuit Jean-Claude Hollerich eine der exponiertesten Figuren des gegenwärtigen Kurses. Er spricht die Sprache multilateraler Institutionen, ist europäisch vernetzt und tritt für eine Öffnung der kirchlichen Diskurse ein – auch mit Blick auf Anthropologie und Moral. Hollerich repräsentiert eine theologische Linie, die das 2. Vatikanische Konzil als Startpunkt eines dynamischen Prozesses versteht. Seine Verortung im Franziskus-Lager ist deutlich. Für viele gilt er als "Franziskus II", für andere als zu spät gekommen – in einer Welt, die sich von globalistischen Denkfiguren entfernt.

Stimme des Südens

Als Präsident der afrikanischen Bischofskonferenzen und Erzbischof von Kinshasa ist Kardinal Fridolin Ambongo Besondere Vertreter eines Katholizismus, der wächst, aber mit gewaltigen Spannungen lebt. Er verkörpert eine Kirche der Option für die Armen, spricht jedoch zugleich mit klarer Stimme zu Fragen der Liturgie, der kirchlichen Disziplin und der Sittlichkeit. In Rom wird Ambongo geschätzt für seine Kombination aus geistlicher Erdung und politischer Klugheit. Seine Einwände gegen das römische Dokument "Fiducia supplicans" über Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare formulierte er in konzilianter, aber entschlossener Weise. Für viele Kardinäle aus Afrika, Asien und auch Teilen Osteuropas wurde Ambongo damit zur Stimme eines sensus fidei, der sich gegen eine pastorale Überdehnung des Lehrgebäudes stellt. Seine Rolle im Konklave könnte größer sein, als es die eurozentrischen Beobachter annehmen.

Verwaltungskompetenz ohne Vision?

Der vatikanische Staatssekretär Pietro Parolin verfügt über enorme Erfahrung, sowohl in innerkirchlichen wie in diplomatischen Fragen. Seine Rolle beim Abkommen mit China über Bischofsernennungen bleibt umstritten, wurde aber kirchenpolitisch als Versuch gewertet, eine Jahrzehnte währende Blockade zu überwinden. Parolin stünde für ein eher technokratisches Pontifikat, das wird als Stärke wie als Schwäche gelesen. Seine Nähe zum Netzwerk Kardinal Achille Silvestrinis, dem "Architekten" der Ostpolitik unter Paul VI., dessen Schüler auch in der italienischen Innenpolitik links der Mitte eine Rolle spielten, steht auch für andere Persönlichkeiten aus der Diplomatie wie Kardinal Claudio Gugerotti, dem Präfekten des Dikasteriums für die Ostkirchen.

Die Rückkehr der Doktrin

Eine deutlich anders gelagerte Sicht nimmt Kardinal Robert Sarah ein. Er sieht in der gegenwärtigen Lage der Kirche nicht in erster Linie eine kirchenpolitische oder pastorale Herausforderung, sondern eine geistliche Krise, der mit einer Hinwendung zur lehramtlichen und geistlichen Tradition und geistlichem Kampf zu begegnen ist. Sarah plädiert für eine Rückbesinnung auf die Eucharistie, die Liturgie und die Stille als Quelle geistlicher Erneuerung. Seine Bücher, etwa Gott oder nichts, fanden international Verbreitung. Ähnlich, aber konfrontativer, wird Kardinal Raymond Burke wahrgenommen. Seine öffentlichen Interventionen gegen eine Zulassung von wiederverheiratet Geschiedenen zur Kommunion, die weitgehenden Einschränkung der traditionellen römische Liturgie oder die Schaffung alternativer synodaler Strukturen machten ihn zur Symbolfigur der ansonsten weniger sichtbaren Opposition, mit einer erheblichen medialen Wirkung vor allem in der englischsprachigen Welt. Beide Kardinäle stehen für einen Katholizismus, der sich seiner Wurzeln besinnt, und entschlossen einer säkularen, entchristlichten Welt entgegentritt.

Glaubwürdigkeit als Kategorie

Weniger als Programmatiker denn als Seelsorger treten Jean-Marc Aveline (Marseille) und François-Xavier Bustillo (Ajaccio) in Erscheinung. Aveline ist Theologe des interreligiösen Dialogs und kennt die Spannungen einer multireligiösen Gesellschaft aus dem französischen Süden. Der heutige Vorsitzende der französischen Bischofskonferenz gilt als Gewährsmann von Franziskus, zugleich aber auch als ausgleichend gegenüber traditionellen und klassischen Bewegungen. Für letzteres steht auch Bustillo, Franziskaner. Ein Mann geistlicher Authentizität und der Erneuerung des Ordenslebens. Seine Bücher ("Zeugen, keine Funktionäre") wurden auch in Rom beachtet. Ihre Bedeutung speist sich aus einem Phänomen, das vielfach übersehen wird: die Kirche in Frankreich ist arm, aber erlebt einen Frühling. Allein zu Ostern 2025 gab es über 10.000 Erwachsenentaufen – viele davon unter 25-Jährigen. Ein Ausdruck spiritueller Neugier inmitten kirchlicher Krise, die sich auch in vergleichsweise zahlreichen Berufungen zeigt, während andere europäische Ortskirchen in den vergangenen zehn Jahren zwar Reformeifer mit Berufung auf Franziskus predigten, die Krise sich jedoch trotz erheblicher materieller Mittel in einem allgemeinen Zusammenbruch zuspitzte. Aveline und Bustillo wirken in diesem Kontext wie glaubwürdige Zeugen für einen geistlichen Neuanfang, nicht als Strategen, die sich in einer bloßen Angleichung der Kirche an einen säkularen Humanismus verschreiben.

Erwartungen und Grenzen

Der Münchner Kardinal Reinhard Marx fordert einen Papst, der "das Interesse aller Menschen" artikuliert – und bezieht sich damit auf eine Vorstellung von Kirche als moralischer Mittler in einer globalisierten Welt. Doch diese Vision steht inzwischen in Spannung zu einer wachsenden Erwartung, dass die Kirche nicht nur universale Impulse gibt, sondern auch innerlich fassbar bleibt: als moralisch klar, als glaubensstark, als geistlich geerdet. Gerade das progressive Projekt, das auf Öffnung, Beteiligung und Dezentralisierung setzte, wird vielerorts nicht mehr als Aufbruch, sondern als Zerstreuung gelesen.

"Rückkehr" der Generation Benedikt?

Dafür steht auch eine im Vergleich zu 2013 grundsätzlich veränderte politische Lage. Damals war der liberale Demokrat Barack Obama im Weißen Haus, US-Vize-Präsident der in der Nachkonzilszeit geprägte Katholik Joe Biden, in Italien schickte sich die politische Linke mit Rückendeckung auch kirchlicher Kreise an, die politische Macht zu unternehmen. Shareholder Value war die Losung in der Wirtschaftswelt nach der Finanzkrise. Die Vorzeichen haben sich nun vertauscht: in den USA ist mit J.D. Vance ein konservativer Katholik an zentraler Stelle, in Italien regiert Giorgia Meloni. Beide stehen für eine Haltung, die sich explizit auf das katholische Erbe bezieht. Beide beziehen sich immer wieder auf Johannes Paul II. Vance beruft sich auf Augustinus und ist inspiriert von der postliberalen politischen Philosophie Patrick Deneens. Ihre Sprache ist keine administrative, sondern eine existenzielle: Familie, Tugend, Nation – und Glaube.

Für die "Generation Benedikt" bedeutet Kirche nicht Prozess, sondern Identität. Sie erwarten von der Kirche Orientierung durch ihre Lehre und Zeugnis aus dem Glauben an Jesus Christus in einer nach Sinn suchenden westlichen Welt. 

Mit ihnen tritt auch jene Generation auf die Bühne, die seit 2005 von Benedikt XVI. geprägt wurde. Für sie bedeutet Kirche nicht Prozess, sondern Identität. Sie erwarten von der Kirche Orientierung durch ihre Lehre und Zeugnis aus dem Glauben an Jesus Christus in einer nach Sinn suchenden westlichen Welt. Die progressive Kirchenpolitik der 2010er-Jahre erscheint aus dieser Perspektive als Übergangsphase. Die Frage könnte daher nicht lauten, ob der neue Papst Franziskus kopieren oder korrigieren soll – sondern ob er fähig ist, das zerrissene Gefüge einer Kirche zwischen Tradition und notwendigen Reformen in eine neue geistliche Konzentration zu führen.

Das könnte Kardinal Anders Arborelius verkörpern. Der skandinavische Karmelit und Konvertit ist ein kontemplativer Seelsorger mit weltkirchlichem Blick. Seine Biografie macht ihn zu einer Gestalt jenseits der kirchenpolitischen Schablonen. Sein Profil zielt auf das Wesentliche: Christus in der Mitte, das Evangelium als Maß.

Dass Papst Franziskus Arborelius 2021 mit einer schwierigen apostolischen Mission in das zerrüttete Erzbistum Köln beauftragte, verweist auf ein tragfähiges Vertrauen in seine Integrität und sein geistliches Unterscheidungsvermögen – auch, ohne dass öffentlich viel über seine Rolle bekannt wurde. Arborelius ist kein Mann der Polarisierung, sondern einer geistlichen Nüchternheit, die Orientierung nicht durch Schlagworte, sondern durch gelebte Tiefe schafft. Er steht für eine Kirche, die nicht primär neue Strukturen schafft, sondern klare Konturen im Glauben sucht.

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