Offene KirchePerspektiven für eine synodale Erneuerung

Das Christentum hat die einzigartige Aufgabe, der kenotischen Mission Christi zu folgen und den Versuchungen der Selbstbespiegelung, der Selbstbezogenheit, des kollektiven Narzissmus und des ideologischen Imperialismus zu widerstehen. Ein Impuls zum Abschluss des Treffens von europäischen Delegierten der Weltsynode am 31. August 2024 in Linz.

Tomas Halik
© Björn Steinz/KNA

Die Zeit, in der die ersten Schritte der synodalen Erneuerung gegangen werden, erinnert an das biblische Buch Hiob, in dem eine katastrophale Bedrängnis auf die andere folgt. Wir sind konfrontiert mit Klimawandel, Umweltzerstörung, Pandemien, Massenauswanderung, sehr gefährlichen Kriegen, dem politischen Erfolg von Populisten und Nationalisten, der Ansteckung durch Fake News und Verschwörungstheorien und mit dem Verlust von viel Sozialkapital, nicht zuletzt des Vertrauens in Behörden und Institutionen.

Auch die Kirche in Europa wird von schlechten Nachrichten heimgesucht. Die Polarisierung vertieft sich, alte und neue Sex- und Finanzskandale tauchen auf. In mehreren europäischen Ländern treten viele Menschen aus den Kirchen aus, die Zahl der Gottesdienstbesucher geht zurück, und auch die Zahl der Priester- und Ordensberufe ist rückläufig.

Als Hiobs Freunde kamen, um ihn zu trösten, saßen sie zunächst lange mit ihm auf dem Boden und schwiegen, weil sie sahen, dass sein Schmerz so groß war. Vielleicht hätten sie noch länger schweigen und zuhören sollen. Stattdessen überhäuften sie Hiob mit ihren theologischen Spekulationen und moralischen Belehrungen. Wahrscheinlich wollten sie vor allem ihre eigenen Gewissheiten und religiösen Annahmen vor den Erschütterungen und Krisen schützen, die durch die Konfrontation mit dem Leid, dem Bösen und den Paradoxien des Lebens verursacht wurden. 

Der synodale Prozess kann nur dann gute Früchte tragen, wenn wir bereit sind, unsere Vorurteile und unsere gedanklichen Stereotypen einzuklammern.

Die Phasen der Stille, die zu unseren Arbeitssitzungen gehören, sind eine der wertvollsten Erfahrungen auf dem Weg zur Synode. Der synodale Prozess kann nur dann gute Früchte tragen, wenn wir bereit sind, unsere Vorurteile und unsere gedanklichen Stereotypen einzuklammern. Es ist gut, aufmerksam zuzuhören; es ist wichtig zu verstehen zu versuchen, was der Geist uns durch die Worte der anderen sagt, wie er in den Tiefen unserer Herzen und unseres Gewissens spricht, wie er uns lehrt, wahrzunehmen, was er den Kirchen heute sagt. Zu einer Kultur des Zuhörens gehört der Mut, alles zu hören: auch das, was wir nicht gerne hören, weil es unsere Gewissheiten infrage stellt und uns manchmal sogar zwingt, unsere derzeitigen Vorstellungen von der Welt, von der Kirche und sogar von Gott zu überdenken.

Lokal handeln, global denken

Wir sollten Orte der Stille und des Nachdenkens schaffen. Sie sind Studienräume, in denen wir uns der Wirklichkeit kontemplativ nähern: Schulen der geistlichen Unterscheidung, Observatorien, in denen wir die Zeichen der Zeit lesen, und Laboratorien, in denen wir verantwortungsvoll Experimente durchführen. Diese geistlichen Zentren sollen Orte sein, an denen "Gespräche im Geist" geführt und fortgesetzt werden. Die Treffen synodaler Gruppen dürfen nicht bloß als Vorbereitung auf die Synode von 2024 verstanden werden, als Aufbewahrungsorte von Vorschlägen und als Wartezimmer, bis "höhere Instanzen" institutionelle Veränderungen vornehmem. Vielmehr sollen sie dauerhaft zugängliche "Fitnesszentren" sein, in denen Ausdauer trainiert wird; sie sollen die Hirn- und Herzensstützen des permanenten synodalen Prozesses, der permanenten Erneuerung der Kirche sein.

Es ist notwendig, Ämter in der Kirche zu etablieren, die keine Ordination erfordern, einschließlich des Amtes der geistlichen Begleitung. Dieser Dienst erfordert sowohl ein persönliches Charisma als auch eine besondere Ausbildung: Schulung und Supervision. Er ist eines von vielen Ämtern in der Kirche, für deren Ausübung Gott nicht zuletzt Frauen viele Charismen gegeben hat.

Wir müssen aufhören, Gott durch unsere Ignoranz gegenüber seiner Freiheit und Großzügigkeit zu beleidigen. Der Dienst der Kirche in einem globalen Zeitalter kann nicht auf territoriale Gemeinden beschränkt werden. Auch für die Kirche in einem globalen Zeitalter gilt die Regel: lokal handeln, global denken.

Lokal zu handeln, bedeutet, immer den Kontext zu respektieren. Dies erfordert eine Dezentralisierung der Kirche; es gilt, das Subsidiaritätsprinzip anzuwenden, aber auch Solidarität zu üben: im Respekt vor denen, die anders sind als wir. Der Dienst der Seelsorger in Krankenhäusern, in der Armee, in Gefängnissen usw. ist die Avantgarde dieses Dienstes der Kirche, der allen offensteht, nicht nur den eigenen Mitgliedern.

Global zu denken, bedeutet, die Katholizität und die Ökumene ständig zu vertiefen: die universale Offenheit der Kirche, die ein Sakrament, d.h. ein Zeichen und ein Werkzeug der Einheit der ganzen Menschheit ist. Diese Einigung ist ein eschatologisches Ziel, das die Kirche nur in den Armen Gottes voll erreichen wird, für das wir aber ständig arbeiten müssen, indem wir den Horizont erweitern, wie wir unsere Welt und das Handeln Gottes in ihr sehen. Die katholische Einheit der Kirche muss eine organische Einheit in der Vielfalt sein, nicht die Uniformität und Konformität totalitärer Systeme.

"Fahrt hinaus auf die Tiefe"

Vielen scheint die europäische Christenheit heute schwach und müde zu sein. Viele europäische Christen und insbesondere die "Menschenfischer" unter uns habe ähnliche Gefühle heute, wie die galiläischen Fischer an den Ufern des Sees Genezareth, als sie Jesus zum ersten Mal sahen: "Wir sind müde, wir haben leere Hände und leere Netze, wir haben die ganz Nacht gearbeitet und nichts gefangen." Aber für Jesus war genau dieser Moment der Kairos, um ein Gespräch mit denen zu beginnen, die seine Apostel werden sollten. Jesus sagt uns heute dasselbe wie das, was er den erschöpften Fischern damals gesagt hat: "Versucht es erneut. Fahrt hinaus auf die Tiefe." Es erneut zu versuchen, heißt nicht, die alten Fehler zu wiederholen. Es erfordert Ausdauer und Mut, um die flachen Gewässer zu verlassen und hinaus auf die Tiefe zu fahren.

Die europäische Christenheit befindet sich in einer paradoxalen Situation. Wir sind eine Minderheit in einer stark entkirchlichten Gesellschaft, die gleichwohl zweitausend Jahre unauslöschlicher Erfahrungen mit vielen Formen des christlichen Glaubens in ihren Genen hat. Dieses Erbe ist reich – und belastend. Der europäische Säkularismus und Atheismus gehören gleichfalls zu diesem Erbe, gibt es doch einige Atheisten, die "katholische" und "evangelische" Atheisten sind. Unsere Mutter, die europäische Kirche, hat viele unbekannte Nachkommen und viele "verlorene Söhne und Töchter". Ein tieferes Verständnis der europäischen Kultur beschert uns viele überraschende Begegnungen mit unseren unbekannten Geschwistern. Allerdings müssen wir damit rechnen, dass die Entdeckung unserer gemeinsamen Genealogie für viele keine freudige Überraschung ist. Wir müssen damit rechnen, dass für viele unsere synodale Einladung zu einem Familientreffen eher auf Misstrauen als auf Gegenliebe stößt.

Wir sind Zeugen für Christus, aber wir haben kein Monopol auf Christus; Christus kann auch durch "andere" zu uns sprechen.

Um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es Geduld und glaubwürdige Zeugnisse. Das Europa von Heute ist Missionsgebiet. Aber die heutigen Missionare in Europa befinden sich in einer ganz anderen Situation als jene Missionare, die an der Schwelle zur Moderne die europäischen Kolonisatoren begleitet haben. Mission im nachchristlichen Europa kann weder eine "Reconquista" noch eine archäologische Ausgrabung sein, die von der Sehnsucht nach einer verlorenen Vergangenheit angetrieben wird. Mission ist kein Proselytismus; der Versuch, Neuankömmlinge in unsere bestehenden institutionellen und mentalen Strukturen zu zwingen, wäre kontraproduktiv. Die Begegnung mit Suchenden ist eine Gelegenheit, diese Grenzen zu erweitern und die Kirche durch ihre Erfahrungen zu bereichern. Mission im Kontext der Synodalität ist keine einseitige Tätigkeit. Es geht um Begleitung, Dialog, Respekt und gegenseitige Bereicherung. Wir sind Zeugen für Christus, aber wir haben kein Monopol auf Christus; Christus kann auch durch "andere" zu uns sprechen.

Neben den Neuankömmlingen treffen wir in Europa auch auf "Ex-Katholiken", die eine tiefe Erschütterung ihres Glaubens erfahren haben und zurückkehren wolle. Sie sagen: Heute glaube ich wieder, was ich in meiner Kindheit geglaubt habe, aber ich glaube es anders. Wir müssen Raum für einen erwachsenen Glauben schaffen.

Die Säkularisierung und der Zusammenbruch vieler Formen von Kirche können als Teilhabe am Mysterium von Karfreitag und Karsamstag verstanden und so neu als Kairos, als Geschenk, Prüfung und Herausforderung Gottes, gedeutet werden.

Der Prozess der Säkularisierung war eine wichtige Etappe in der Reifung des christlichen Glaubens. Nicht nur die persönlichen "dunklen Nächte", von denen die Mystiker schrieben, sondern auch die kollektiven dunklen Nächte bewirken eine entscheidende Verwandlung (metanoia), eine Ostererfahrung, Teilhabe am Kreuz und Auferstehung. Die Säkularisierung und der Zusammenbruch vieler Formen von Kirche können als Teilhabe am Mysterium von Karfreitag und Karsamstag verstanden und so neu als Kairos, als Geschenk, Prüfung und Herausforderung Gottes, gedeutet werden. Die synodale Erneuerung ist eine Gelegenheit, in eine neue Epoche der Geschichte des Christentums einzutreten und die verwandelnde Kraft des Auferstandenen durch die Verwandlung von "Leib und Seele" der Kirche, ihrer Mentalität und ihrer Strukturen, zu erfahren.

Gegen ein identitäres Christentum

Ostern war keine Rückkehr in einen früheren Zustand, sondern ist ein Zugang zu Gott in der dynamischen Gegenwart des auferstandenen Christus durch den Geist im Leben der Kirche. In gleicher Weise sind auch die Erneuerungen und Verwandlungen der Kirche immer überraschend neu, eine Manifestation der sich vertiefenden Gegenwart Christi in der Kirche, aber auch, in einer anonymen Form, jenseits ihrer sichtbaren Grenzen. Vielleicht wird eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Etappe der synodalen Reise genau darin bestehen, die Gegenwart Christi auch jenseits der sichtbaren Grenzen der Kirche zu entdecken – der ganze Kosmos, die Natur und die Kultur, die Frucht der Erde und die Frucht der menschlichen Arbeit sind aus sich heraus offen für die eucharistische Allgegenwart Christi. Die Katholizität (Universalität) und Ökumene des Christentums sind das Gegenteil der totalitären Tendenzen geschlossener Gesellschaften und sektiererischer Religionen.

In der heutigen Welt sind viele Religionen (und einige Formen des Christentums) zu politischen Instrumenten geworden, die der Verteidigung ethnischer oder zivilisatorischer Identität dienen sollen, zu Instrumenten des Kulturkrieges der einen gegen die anderen. Das Christentum hat aber die einzigartige Aufgabe, der kenotischen Mission Christi zu folgen und den Versuchungen der Selbstbespiegelung, der Selbstbezogenheit, des kollektiven Narzissmus und des ideologischen Imperialismus zu widerstehen. Das Christentum darf nicht eine der identitären Religionen sein. Unsere Identität ist nicht etwas Statisches und Abgeschlossenes; unsere Identität ist der lebendige Christus und sein Geist. Wir müssen unsere Identität nicht ängstlich verteidigen, sondern dürfen sie immer wieder neu entdecken, um sie tiefer zu verstehen und zu interpretieren.

"Unser Reich ist nicht von dieser Welt" (Joh 18,36). Dies ist kein Aufruf zur Flucht vor der Welt, sondern eine Verpflichtung, in der Kirche und in der Welt die Offenheit für das ständige Kommen Gottes zu bewahren, der immer größer ist als alle unsere Vorstellungen von ihm. Lassen Sie uns in der Kirche und in der Welt Orte der Offenheit und der Wachsamkeit schaffen und erhalten.

Auf die oft gestellte Frage, was das Ziel und was die Grenzen der synodalen Reise sind, müssen wir demütig antworten: Wir wissen es nicht. Wir folgen dem Vater des Glaubens, Abraham, der dem Ruf Gottes folgte und sich auf den Weg machte, ohne zu wissen, wohin er gehen würde. Wir müssen immer wieder fragen, wie der Apostel Thomas: "Herr, wir wissen nicht, wohin du gehst, wie könnten wir den Weg kennen?" (Joh 14,5). Jesus hat keine detaillierte Wegbeschreibung vorgelegt, sondern geantwortet: "Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). Diese Antwort ist das Licht für unsere Reise.

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