Am Vorabend des Zweiten Vatikanischen Konzils wandten sich die Vertreter der "Nouvelle Théologie" den historischen Glaubensautoritäten zu und fanden dort den Ausgangspunkt für eine Erneuerung von Theologie und Kirche. Nach dem Konzil kam die Bewegung unter die Räder der kirchlichen Avantgarde. Zeit für eine Wiederentdeckung.

Erneuerung ist eines der großen Schlagwörter des innerkirchlichen Diskurses. Die Unruhe in der Kirche ist groß und ebenso die Sehnsucht nach einem Aufbruch aus der gefühlten Agonie. In der Sehnsucht mag Einigkeit bestehen. Worin eine Erneuerung aber bestehen soll und was sie im Kern ausmacht, darüber wird bisweilen unversöhnlich gestritten. Ein Blick auf die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts zeigt jedenfalls eines: Wirkliche Erneuerung lässt sich nicht produzieren, sie ist vielmehr das Ergebnis einer geistig-intellektuellen Vertiefung in die Quellen – eines Ressourcements.

Die Theologie und der Fortschritt

Im Säkularisierungsprozess des 18. Jahrhunderts bahnte sich die Idee Raum, Geschichte und Zukunft seien machbar. Man fühlte sich nicht länger der Passivität des Weltlaufs ausgeliefert, die kein anderes relevantes Ziel außer dem göttlichen Gericht haben könne. Der Lauf der Dinge sollte fortan in den Händen eines zu neuem Selbstbewusstsein erwachten Menschen liegen. Zum ersten großen Experiment des zukunftsgestaltenden Geistes wurde die Französische Revolution. Karl Jaspers zufolge war diese getragen vom Bestreben nach Erneuerung eines als schlecht empfundenen historischen Zustandes des Menschen durch eine Neukonzeption von der Wurzel her.

Dass diese – vielleicht sogar logische – Folge des neuzeitlichen Fortschrittsoptimismus in jakobinischer Barbarei endete, bildete das aufklärerische Trauma schlechthin. Die Sehnsucht eines neuen, sich humanistisch verstehenden Geistes nach einer Veränderung zum Besseren jedoch blieb bestehen. Kein anderes Thema nahm die Philosophie des 19. Jahrhunderts so sehr in Anspruch wie das Denken des Fortschritts.

Die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wird eher nicht durch das Prisma der Revolutionsgeschichte betrachtet. Dabei hat die Revolution mehr mit dem kirchengeschichtlichen Kernereignis dieser Epoche, dem Zweiten Vatikanischen Konzil, zu tun, als man vordergründig vermuten mag. "Ressourcement" lautet eines der programmatischen Schlüsselbegriffe katholisch-theologischen Denkens am Vorabend des Konzils. Es drückt die neu entflammte intellektuelle Zuwendung zu den historischen Glaubensautoritäten aus, die programmatisch für die Vertreter der "Nouvelle Théologie" war. Klangvolle Namen wie Henri de Lubac, Yves Congar, Marie-Dominique Chenu oder Hans Urs von Balthasar repräsentieren diese wegweisende Phase theologischen Denkens und Schaffens.

Der Begriff "Ressourcement", also ein "Wider-Schöpfen aus den Quellen" hat seinen Erwähnungsursprung allerdings an einer ganz anderen Stelle. Charles Péguy gilt als Vater dieses Begriffs. Als Katholik und Sozialist – einst eine kontroversere Mélange denn heute – ist der Literat eine der intellektuellen Schlüsselgestalten modernen katholischen Denkens am Beginn des letzten Jahrhunderts.

Besinnung auf die Wurzel statt Umsturz an der Wurzel

Péguy verstand unter Ressourcement kein akademisches Quellenstudium, sondern eine revolutionäre Bewegung. Péguy nahm das revolutionistische Anliegen einer Transformation der Gesellschaft im Sinne ihrer Humanisierung ernst. Doch brach er mit der Vorstellung eines Umsturzes an der Wurzel zugunsten einer vertiefenden Besinnung auf die Wurzel. In seiner poetisch-kryptischen Sprache beschreibt er Revolution als einen "Ruf aus einer weniger vollkommenen Tradition zu einer vollkommeneren Tradition, aus einer weniger tiefen zu einer tieferen Tradition". Die kritisch gewordene Tradition soll nicht durch die Konstruktion von Neuem ersetzt werden, sondern durch den Gang zu den Quellen, die der Tradition voraus liegen. Diese Quellen bilden die Ressource, aus der sich die Transformation speist.

Péguy formuliert damit ein für heutige Ohren kontraintuitives Verständnis des Revolutionsbegriffs. Doch er beschreibt damit eben jene Denk- und Existenzbewegung, die einen Kern der Nouvelle Théologie ausmacht, welche entscheidende Erneuerungsimpulse für das Konzil gesetzt hat.

Ganz im Sinne Péguys standen die Vertreter der Nouvelle Theólogie (die dieses Label entschieden ablehnten, weil der Begriff zunächst als Polemik gegen sie verwendet wurde) sowohl in der Tradition und waren zugleich traditionskritisch. Sie brachen sehr wohl mit der Tradition, die sie vorfanden, namentlich mit einer als inspirationsarm empfundenen Handbuchneuscholastik. Ihr Bruch ist allerdings kein avantgardistischer, keiner, der das "Neue" beschwört. Der Bruch kommt vielmehr zustande, weil die Tradition von ihren Quellen her neu aufgerollt wird. Das ist programmatischer Antitraditionalismus, der die intellektuelle und spirituelle Transformationskraft der Quellen wieder freilegt und der Gegenwart zugänglich macht.

Dieser paradox anmutende Wesenskern des Ressourcements wurde seinen Vertretern gleich doppelt zum Verhängnis: Im Vorfeld des Konzils sahen sie sich dem Verdacht einer modernistischen Entstellung der Theologie ausgesetzt. Im Anschluss an das Konzil verzieh ihnen die selbst ernannte Avantgarde nicht, dass sie sich dem liturgischen und kirchlichen Jakobinismus verweigerten.

Weder der Traditionalismus noch der emanzipative Aktionismus konnten aus jeweils gegensätzlichen Gründen etwas mit ihrer Theologie anfangen. Mehr noch: Die Ressourcement-Bewegung entzieht sich radikal den politischen Kategorien, in denen theologische und kirchliche Entwicklungen seitdem allzu gerne verhandelt werden.

Eine Kirche, die die jeweilige Zeit lediglich affirmiert, ohne sie spirituell und intellektuell transformieren zu wollen, erneuert gar nichts.

Das Ganze hat Konsequenzen für einen weiteren Schlüsselbegriff des Konzils, das "Aggiornamento". Hartnäckig hält sich das Missverständnis, Aggiornamento habe das Ankommen im Heute zum Ziel. Sich dem Konzil verpflichtet fühlen bedeute demnach, in der je aktuellen Zeit anzukommen, ihren Bedürfnissen nachzukommen und – bisweilen gar – sich ihr zu beugen. Der protestantische Theologe und Konzilsbeobachter Oscar Cullmann stellte einst schon prägnant richtig: "Aggiornamento ist das Ziel, nicht aber der Ausgangspunkt."

Indem sich Kirche und Theologie den Quellen ihres Glaubens mit intellektueller Offenheit und geistlichem Ernst stellt, entsteht unausweichlich Neues, spricht die Kirche automatisch in die Zeit hinein. Kirche kann und darf sich nicht an der Zeit vorbei selbstvollziehen, das käme einer Selbstidiotisierung gleich. Sie hat aber auch – das wird leider allzu oft in der Erneuerungsrhetorik unterschlagen – einen Verkündigungs- und Erneuerungsauftrag nicht nur in, sondern auch gegenüber der Zeit. Eine Kirche, die die jeweilige Zeit lediglich affirmiert, ohne sie spirituell und intellektuell transformieren zu wollen, erneuert gar nichts.

Wir leben zweifelsohne in Zeiten eines zusammenbrechenden Fortschrittsoptimismus. Fragil sind der Glaube an eine ökologisch heile Zukunft, an das Wohlstandsversprechen des freien Marktes, an die Überlegenheit der freien Demokratie. Vielleicht lehrt diese Zeit, deren Fortlauf uns mit großer Sorge erfüllen muss, dass Erneuerung nicht den Einklang mit der Zeit, sondern die Alternative verlangt – eine "revolutionäre" Alternative, die es nach frühchristlichem Vorbild intellektuell zu erschließen und in eine attraktive, transformative Lebensform umzusetzen gilt.

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