Gottvergessen – was nun?Theologie in dürftiger Zeit

Die Kirche ringt mit sich selbst – und mit der Leere. Hüllt sich Gott in Schweigen? Oder wurde er von den Menschen zum Schweigen gebracht? Und gibt es Hoffnung auf ein neues, schöpferisches Wort?

Wüste
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Die 6. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung sorgt weiter für Kontroversen auf allen Ebenen: auf derjenigen von Kirchenleitungen ebenso wie in der Fachwelt, und zwar nicht nur zwischen Soziologen und Theologen, sondern auch innerhalb der Disziplinen wie auch unter den an der Studie Beteiligten. Zusätzlichen Schwung bekommt Debatte durch den katholischen Theologen Jan Loffeld und sein Buch "Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt", das auch für evangelische Leser eine lohnende Lektüre ist.

Zuletzt hat sich darüber bei COMMUNIO eine Diskussion zwischen Paul Michael Zulehner und Detlef Pollack entzündet. Der Wiener Pastoraltheologe unterstellt den Soziologen, ihre ernüchternden Befunde zur religiösen Lage der Gegenwart beruhten lediglich darauf, dass sie nicht gründlich genug nach Gott und seinen verborgenen religiösen Resonanzen in der säkularen Gesellschaft von heute suchen würden. Letztlich laufen Zulehners Argumente einmal mehr auf die Behauptung hinaus, die Säkularisierung sei nur ein Mythos.

Theologie in einer Zeit und Gesellschaft, in der ein Großteil der Menschen glaubhaft versichert, nicht religiös zu sein und für religiöse Frage schlicht nicht zu interessieren, weil sie weder an einen wie auch immer zu denkenden Gott noch sonst an ein höheres Wesen glauben, ist Theologie in dürftiger Zeit. Dürftig ist sie nicht etwa deshalb, weil Gott fehlt, sondern weil der vermeintliche Fehl Gottes für viele Menschen gar keiner ist. Das ist die theologische Herausforderung, der sich Loffeld in seinem Buch redlich stellt.

Dass Säkularisierung, Individualisierung und Pluralisierung von Religion kein Gegensatz sein müssen, hat Pollack in seiner Replik einmal mehr überzeugend widerlegt. Zulehners Ratschläge an die Soziologie kranken aber auch an einem fundamentalen theoretischen Mangel. Gott kann niemals Gegenstand empirischer Forschung sein, weder in der Soziologie noch in den Neurowissenschaften, weshalb auch die Idee einer Neurotheologie, die vor Jahren von sich reden machte, streng genommen ein Unding ist. Soziologie, die nach Gott fragt, ist eine Mixotheologicosociologia, bei der es sich gleichermaßen um schlechte Soziologie wie um schlechte Theologie handelt.

Theologie in einer Zeit und Gesellschaft, in der ein Großteil der Menschen glaubhaft versichert, nicht religiös zu sein und für religiöse Frage schlicht nicht zu interessieren, weil sie weder an einen wie auch immer zu denkenden Gott noch sonst an ein höheres Wesen glauben, ist Theologie in dürftiger Zeit. Dürftig ist sie nicht etwa deshalb, weil Gott fehlt, sondern weil der vermeintliche Fehl Gottes für viele Menschen gar keiner ist. Das ist die theologische Herausforderung, der sich Loffeld in seinem Buch redlich stellt. Seine theologischen Schlussfolgerungen berühren sich interessanterweise mit Einsichten der Dialektischen Theologie bzw. der protestantischen Wort-Gottes-Theologie im Gefolge Karl Barths. Darüber lohnt sich das ökumenische Gespräch.

Martin Walser, der sich in seinem Essay "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" (2012) und in seinem Roman "Das dreizehnte Kapitel" (2012) eingehend mit Karl Barth auseinandergesetzt hat, bekannte: "Gott fehlt. Mir." Zugleich stellte er fest, dass die von ihm empfundene Leere in der Welt der Atheisten keinen Platz habe. "Leere gibt es nur dort, wo Gott fehlt. Und wo er dann durch keinen -ismus ersetzt wird." Walser fügte hinzu: "Eine Welt ohne Leere ist eine zu arme Welt." Um zumindest im Modus negativer Theologie überhaupt noch Theologie im strengen Sinne des Wortes und nicht irgendwelche Religionsforschung treiben zu können, muss zumindest noch eine Ahnung von der Leere vorhanden sein, an der Walser gelitten hat.

Wir haben die Frage vergessen

Theologische Apologetik unterstellt herkömmlicherweise, dass die Frage nach Gott überhaupt immer schon oder immer noch gestellt wird. Diese Grundannahme von den Anfängen der Kirche bis in die Gegenwart ist empirisch fragwürdig. Die Rede von Gott ist ebenso wenig unabdingbar wie die Frage nach ihm. Wohl mag es sein, dass der Mensch nicht umhin kann, nach Sinn zu fragen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist aber nicht einfach mit der Gottesfrage identisch. Und nicht alle Antworten auf die Sinnfrage lassen sich als religiös bezeichnen. Religion ist eine Möglichkeit neben anderen, aber nicht die einzige, Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnwidrigkeiten zu bearbeiten.

Heutige Theologie kann nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass der biblische Gott zumindest noch im Modus einer offenen und offengehaltenen Frage präsent ist. Der hermeneutische Zirkel von Frage und Antwort wird dadurch gestört, um nicht zu sagen zerbrochen, dass die Gottesfrage in der Moderne nachchristliche Antworten gefunden hat, durch welche sogar die ursprüngliche Frage verdeckt wird. Aus der Überzeugung, bessere Antworten auf die falsch gestellten Fragen des Christentums gefunden zu haben, speist sich das Selbstbewusstsein der Neuzeit. Nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst scheint in Vergessenheit zu geraten. Dass ist die Signatur von Theologie in dürftiger Zeit.

Der evangelische Berliner Systematiker Wolf Krötke hat diesen Befund als Gottesvergessenheit bezeichnet. Günter Thomas ist diesem Begriff in einer umfassenden Würdigung Krötkes nachgegangen (Gottesvergessenheit. Analyse eines Schlüsselbegriffs Wolf Krötkes, in: ZThK 121 (2024), 480–506) Anders als Friedrich Schleiermacher versteht Krötke unter Gottesvergessenheit nicht einen Mangel, dessen sich der gottvergessene Mensch noch zumindest ahnungsvoll bewusst ist, sondern radikaler als eine Fehlanzeige ohne jedes Verlust- oder Mangelgefühl. Das Vergessen hat vergessen, was es vergessen hat.

Wo noch eine Erinnerung an die biblische und christliche Rede von Gott vorhanden ist, kann sich die Erfahrung des Schweigens einstellen. Bei aller Beredtheit, mit welcher in der Kirche auf Gott die Sprache kommt, gibt es doch die Erfahrung, dass die Sprache schweigt, statt zu sprechen. Wie sich auch in der Kirche Phänomene der Gottvergessenheit zeigen, so auch das Phänomen der schweigenden Sprache, deren Schweigen durch routinisiertes Sprechen noch vermehrt wird.

Es gibt ein Schweigen Gottes, das Resultat menschlicher Schuld ist.

Fraglich ist nun, wie solches Schweigen theologisch zu deuten ist. Ist es mit einem Schweigen Gottes gleichzusetzen? Hüllt sich Gott in Schweigen, je lauter und fragloser von ihm die Rede ist? Oder verstummt Gott, wenn von ihm nicht mehr gesprochen wird? Wolf Krötke sagt es tatsächlich so: "Wenn die Worte für Gott verstummen, verstummt […] auch Gott selbst." Gegen diese Schlussfolgerung erhebt Günter Thomas berechtigen Einspruch. Nun könnte man argumentieren, das Schweigen Gottes sei die äußerste Konsequenz von Inkarnation und Kreuzestod Christi. Man könnte in Anlehnung an Johann Baptist Metz und Hans Urs von Balthasar auch vom Karsamstagsmoment christlicher Theologie sprechen, der auch in Loffelds Analyse eine wichtige Rolle spielt. Mit dem Gekreuzigten wird Gott, der in Christus war, zum Verstummen gebracht. Thomas verweist nun aber auf die Auferweckung des Gekreuzigten, auf der die Gewissheit gründet, dass Gott auch dann spricht, wenn die Menschen von ihm schweigen.

Es gibt ein Schweigen Gottes, das Resultat menschlicher Schuld ist. Gott schweigt, weil er von den Menschen zu Schweigen gebracht wird. Gerade wenn Jesus von Nazareth im Neuen Testament als Gottes Wort in Person bekannt wird, muss in diesem kreuzestheologischen Sinne auch von einem Schweigen Gottes die Rede sein. Nicht weil er abwesend wäre, sondern im Gegenteil, weil er ganz gegenwärtig ist, verstummt Gott. Seine Macht ist die Macht der Liebe, die in Jesus von Nazareth menschliche Gestalt angenommen hat. Es ist dies eine ohnmächtige Macht, nicht unwiderstehlich, sondern widerstehlich, verletzbar und zerbrechlich.

Beredtes Schweigen

Christologisch bedacht ist Gottes Schweigen wie das Schweigen Jesu höchst beredt. Es ist und bleibt erfüllt von all den befreienden und umstürzenden Worten, die Jesus zuvor gesprochen hat, von all den Taten, die er im Namen Gottes begangen hat. Gottes Schweigen bleibt erfüllt vom Evangelium. Das Schicksal Jesu ist freilich mit seinem Verstummen und Gottes Schweigen nicht endgültig besiegelt. Der Tod macht stumm. Doch mitten im Tod bricht Gottes schöpferisches Wort neu hervor. Es ruft den neu ins Leben, der dem Tod preisgegeben war, und verwandelt diejenigen, die von diesem Wort ergriffen werden, so dass sie von Liebe, von Vertrauen und Hoffnung erfüllt werden. Jesu Auferweckung von den Toten ist die Auferstehung des göttlichen Wortes.

"Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann", so Ludwig Wittgenstein, "kann man auch die Frage nicht aussprechen." Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert.

Unter neuzeitlichen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern von der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung. Ludwig Wittgensteins grundsätzliche philosophische Feststellung trifft auch auf den biblisch bezeugten Gott zu: "Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann", so Ludwig Wittgenstein, "kann man auch die Frage nicht aussprechen." Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird allererst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen.

Im Licht der Christusbotschaft erweist sich Gott, um mit Jan Loffeld zu sprechen, als "der nicht notwendige Gott", der um seiner selbst willen interessant ist, um den der Mensch sich nicht zu sorgen braucht, der aber hingegen für den Menschen sorgt. So gesehen ist der Glaube keine Notwendigkeit, wohl aber eine unverfügbare Möglichkeit, wie übrigens nicht nur Charles Taylor und Hans Joas argumentieren, auf die Loffeld verweist, sondern auch der evangelische Theologe Eberhard Jüngel und sein Schüler Ingolf U. Dalferth.

Menschliche Rede von Gott, die seine Offenbarung bezeugen möchte, kann freilich misslingen. Aus dem Misslingen des Gotteswortes entsteht im besten Fall neu die Frage nach Gott; so der evangelische Theologe Ernst Fuchs. Es kann aber auch dazu führen, dass sich die Suchenden und Fragen abwenden. Es ist solches Misslingen, dass Theologie und Kirche beunruhigen muss. Denn das erschüttert beide bis ins Mark.

Gottes Frage

Auch nimmt die sogenannte Gottesfrage aus biblischer Perspektive eine völlig neue Wendung, weil das menschliche Subjekt der Frage nach Gott zum Objekt der Frage Gottes nach dem Menschen wird. Gottes Suche und Frage nach dem sündigen Menschen ist die eigentliche Gottesfrage und des Menschen Erlösung die Antwort auf diese Frage.

Was Theologie und Kirche zur Erneuerung des christlichen Glaubens in dürftiger Zeit beitragen können, ist tätiges Warten. Eine erwartungsvolle Kirche "wartet, indem sie arbeitet" (Dietrich Bonhoeffer) und das Erbe des biblischen Zeugnisses hütet, getragen von der Hoffnung, dass es neu zu sprechen beginnt. Wartende Theologie dient der Einübung in ein Christsein, das, wie Bonhoeffer gesagt hat, in dreierlei besteht, nämlich nicht nur im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen, sondern auch im Warten auf Gottes Zeit.

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