Die am 25. Januar 2024 vorgestellte ForuM-Studie zur Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und der Diakonie hat gezeigt, was jedem denkenden Menschen vorab klar sein musste: die evangelischen Landeskirchen stehen nicht besser da als die katholische Kirche – weder, was die Zahlen noch, was den Umgang mit den Fällen angeht. Die Studie nötigt zu theologischer Reflexion. Apologetische Kunststückchen sind fehl am Platz. Die ForuM-Studie sagt, dass die Kirche und ihr Selbstverständnis sexualisierte Gewalt in ihrem Gebiet ermöglicht hat. Diese Hinweise muss man ernst nehmen und reflektieren.
Die Untersuchung, die aufseiten der katholischen Kirche am ehesten zu vergleichen ist, ist die von den deutschen Bischöfen in Auftrag gegebene MGH-Studie von 2018. Sie fragt nach den strukturellen Bedingungen, die die Missbrauchstaten ermöglicht haben, nach den Mustern und Gründen des unangemessenen Umgangs mit ihnen, nach Präventionsmaßnahmen und nach der Etablierung von Strukturen, die zu einem angemessenen Umgang mit solchen Verbrechen führen konnten. Insbesondere interessierte sich die MHG-Studie für die spezifischen systemischen Strukturen, die sexuelle Gewalttaten ermöglicht und die Aufklärung und Prävention verhindert haben. Das ist auch das Interesse der ForuM-Studie.
Die Basis der Studie – sie besteht aus einem "Metaprojekt" einerseits und fünf von A bis E durchgezählten Teilprojekten – sind zum einen die einschlägigen Disziplinarakten der Landeskirchen, nicht aber, wie in den Studien und Gutachten zur katholischen Kirche, eine Durchsicht sämtlicher Personalakten. Zum anderen – und das ist die Hauptquelle – wurden methodisch unterschiedlich angelegte Interviews überwiegend mit Betroffenen geführt.
Es gibt im Metaprojekt ein Unterprojekt, das ich mit einem gewissen Stöhnen zu lesen begonnen habe: die Diskursanalyse bezüglich des Selbstbildes der evangelischen Kirche angesichts des Missbrauchs. Aber auf den zweiten Blick erwies sich dieses Kapitel als hochinteressant, weil es zeigt, wie sich die Kirche im Laufe weniger Jahrzehnte umpositionierte: von der Behauptung, dergleichen komme im Bereich der Kirche nicht oder nur in einer verschwindenden Zahl von Einzelfällen vor, über die Selbstverortung als (mit)geschädigte Partei oder, in einer leichten Seitwärtsbewegung: die Solidarisierung mit den Betroffenen, bis hin zu 2018, dem Jahr, in dem sich die EKD-Synode mit dem Thema befasste: hier wird das Eingeständnis greifbar, dass es strukturelle Gründe für das Auftreten von Missbrauchsfällen gerade in der Kirche geben könne, die Anlass sein könnten, sich radikal selbst infrage zu stellen (167-186). Dabei wird deutlich, wie immer wieder in unterschiedlicher Weise der Versuch unternommen wurde, die Kirche als souveränen Akteur zu etablieren. Das hörte auch nach 2018 nicht auf, wenn in den Stellungnahmen die vorbildliche Pflichterfüllung bei der Aufklärungsarbeit herausgestrichen wird.
Betroffene als Experten
Insgesamt integriert die Studie durchgängig Betroffene als Ko-Forschende und damit als Subjekte, nicht nur als Gegenstand der Analyse. Zwei der Teilprojekte (C und D) betrachten den Komplex der sexualisierten Gewalt und die Probleme ihrer Bearbeitung im Raum der Kirchen aus der Perspektive der Betroffenen; in allen Teilprojekte sind Betroffene als Ko-Forschende beteiligt und kommen auch in eigenen Statements zu Wort.
Speziell im Metaprojekt, hier im Unterprojekt "Betroffenen-Partizipation", werden schwerpunktmäßig Betroffene als Expertinnen und Experten interviewt. Das Projekt zielt darauf ab, das in Vollzügen und Haltungen implizite oder fluide Wissen der Betroffenen handhabbar zu machen – wobei man natürlich kritisch das Problem markieren muss, dass bei allem guten Willen der anschließende Vorgang der Verallgemeinerung und Konzeptualisierung den Wissenschaftlern eine hoch asymmetrische Deutungsposition zuweist – sicher unvermeidlich, aber ein Hinweis darauf, dass hier ein strukturelles Problem nur verschoben wird.
Man kann diese Frage auch noch weiterdenken: Im Grunde macht sich die Studie selbst in allen Teilprojekten die Perspektive der Betroffenen zu eigen. Das wird besonders augenfällig da, wo Einschätzungen der Betroffenen bezüglich der Missbrauch fördernden Faktoren in der Kirche ohne weitere Reflexion übernommen werden. Das gilt beispielsweise für die Einschätzung, dass eine Abwertung der Sexualität oder frauen- und queerfeindliche Positionen den Missbrauch ermöglichen oder die Aufklärung verhindern (etwa 522-525). Diese Einschätzung ergibt sich aus einigen Betroffenenvoten (523f.), wird anschließend durch Bezüge zum Literaturbericht verifiziert und verallgemeinert (524f.) und findet sich dann in der Zusammenfassung am Schluss der Studie als feststehende Tatsache (809). Diese Diagnose wird aber nicht ins Verhältnis gesetzt zu dem gleich anschließend genannten, Missbrauch ermöglichenden Faktor des distanzlos-körperlichen Umgangs (810) und zu der in den Teilprojekten A und B diagnostizierten destruktiven Wirkung einer enttabuisierenden, permissiven Sexualmoral (802, 807). Diese Unausgeglichenheit zeigt nach meinem Eindruck, dass die Verfasser der Studie die Betroffenenperspektive nicht nur einbeziehen, sondern sich zu ihrem Anwalt machen. Das ist nachvollziehbar, führt aber in diesem Fall dazu, dass die Ergebnisse der Studie an Wert verlieren: Es müsste doch gefragt und wissenschaftlich reflektiert werden, unter welchen Bedingungen und in welcher Weise die negative Wertung und Abwehr der Sexualität in bestimmten kirchlichen Kontexten und ihre permissive "Akzeptanz" in anderen kirchlichen Kontexten jeweils zu Ursachen sexualisierter Gewalt werden. Woran genau liegt das?
Integration der Betroffenenperspektive in die kirchliche Aufklärung
Zugleich ist die Integration der Betroffenenperspektive eine inhaltliche Forderung an die Kirchen im Ungang mit sexualisierter Gewalt. Allerdings hängt vermutlich ein Teil der bestenfalls hilflosen Reaktionen der Kirchenverantwortlichen genau damit zusammen, dass die an vielen Stellen der Studie erhobene Forderung, den Betroffenen zu glauben, subjektiv gut nachvollziehbar ist; als Forderung an ein amtliches, das heißt rechtlichen Grundsätzen genügendes Verfahren ist dieses Anliegen aber schwer einlösbar: Stichwort Unschuldsvermutung.
In vielen Fällen steht eben Aussage gegen Aussage. Das ist ein strukturelles Problem der meisten Fälle sexueller Gewalt. Es lässt sich nicht dadurch lösen, dass die Vertreter der Institutionen, die für die Beschuldigten Vorgesetztenfunktion haben, die Perspektive der Betroffenen einfach übernehmen. Die Schutzverpflichtung einer (Kirchen-)Behörde gegenüber den eigenen Beschäftigten ist an diesem Ende juristisch vermutlich nicht verhandelbar, und die Forderung, dass Kindern und Jugendlichen, die von Erfahrungen sexueller Gewalt berichten, "grundsätzlich geglaubt" werden solle, lösen auch die Verfasser der Studie nicht ein, wenn sie überwiegend von "Beschuldigten" und seltener von "Tätern" sprechen.
Dass hier ein schwerwiegendes und für die Betroffenen extrem belastendes Problem bei allen Sexualdelikten liegt, ist damit nicht bestritten, sondern unterstrichen. Es lässt sich aber in institutionellen Kontexten, so scheint mir, nur lösen, wenn man die Klärung der Fälle nicht in die Hand der Dienstvorgesetzten legt, sondern sie einer unabhängigen, mit entsprechend ausgebildeten Personen besetzten Stelle überträgt. Dann muss aber auch unmissverständlich sein, dass die kirchliche Institution damit das Thema der sexualisierten Gewalt nicht abschiebt, sondern sich ihm gerade als Kirche stellt.
Unbeschadet dessen aber ist nachdrücklich zu unterstreichen, dass diese Wahrnehmung der Betroffenenperspektive ein kirchliches Desiderat ist. Insbesondere die Passagen, in denen die biografischen Auswirkungen der Missbrauchserfahrungen und des anschließenden Umgangs mit den Betroffenen nachgezeichnet werden, sollten zur Pflichtlektüre für künftige Inhaberinnen und Inhaber von Leitungsämtern in der Kirche werden (470-484).
Die Leser werden aufmerksam gemacht auf die Gefährdungspotenziale, die in scheinbar selbstverständlichen und auch in positiv bewerteten Situationen liegen können.
Insgesamt muss man sagen, dass die Studie gerade in der Beschreibung der Ankerfälle in den Teilprojekten A und B eine Orientierungsleistung erbringt, die nicht zu unterschätzen ist: Die Leser werden aufmerksam gemacht auf die Gefährdungspotenziale, die in scheinbar selbstverständlichen und auch in positiv bewerteten Situationen liegen können. Dass beispielsweise eine offenbar gelingende Jugendarbeit auf Augenhöhe mit den Jugendlichen zugleich eine erhöhte Aufmerksamkeit aller Beteiligten verlangt, wird hier nicht theoretisch vermittelt, sondern geradezu erfahrbar (253-300; 324-337). Es wäre zu fragen, ob nicht in die Schulung von Personen, die in anfälligen Bereichen eine Aufsichtspflicht haben, die Schilderung derartiger Fälle als Sensibilisierungshilfe integriert werden sollte.
Gibt es "typisch evangelische" Formen sexualisierter Gewalt?
Alle Studien zur sexualisierten Gewalt sowohl im Bereich der katholischen Kirche als auch im Bereich der evangelischen Kirchen fragen nach den institutionell spezifischen Faktoren, die sexualisierte Gewalt befördern, indem sie Gelegenheiten für die Täter schaffen, und nach Faktoren, die die Aufklärung und die Zuwendung zu den Opfern erschweren. Diese religions- bzw. konfessionsspezifischen Bedingungen sind das eigentlich Weiterführende an den Studien, weil sie die jeweiligen Kirchen meistens an sehr zentralen Punkten infrage stellen. Im Falle der katholischen Kirche wurde in den unterschiedlichen Studien der Zölibat und das exklusive Verständnis des Weiheamtes und ein daran aufgehängtes institutionelles Schutzinteresse namhaft gemacht: Der Gedanke der Heiligkeit des Amtes ermögliche einerseits Missbrauch und etabliere andererseits ein Standesbewusstsein, das die Aufarbeitung am Täter orientiere und damit die Betroffenen nicht in den Blick bekomme.
Auch in der ForuM-Studie wird das Amtsverständnis als Faktor identifiziert. Die funktionale Auszeichnung der Geistlichen und der Nimbus der Heiligkeit, der mit dem Pfarrberuf verbunden ist, stelle eine Machtkonstellation dar, die sich mit sexueller Gewalt verbinden und die Aufklärung und die Bearbeitung verhindern könne. Im evangelischen Kontext erwiesen sich dabei gerade die Verhältnisse einer individuellen seelsorgerlichen Betreuung und Begleitung von Jugendlichen als anfällig für eine sexuelle Ausbeutung (vgl. etwa 230-252).
Das Aufgeben eines traditionellen Amtsverständnisses bietet nicht eo ipso Schutz vor sexuellem Missbrauch.
Auf der anderen Seite weisen die Verfasser aber immer wieder darauf hin, dass sich die Fälle sexualisierter Gewalt gerade in den Siebzigerjahren mit einem Abbau traditioneller Grenzen zwischen Erwachsenen und Jugendlichen verbunden hätten, der gerade in der Jugendarbeit die Schwelle zu sexuellen Übergriffen gesenkt und in einem egalitär angelegten Gemeindemilieu die Unterscheidung von erwünschter Nähe und sexueller Ausbeutung deutlich erschwert habe. Das wird durch einen Fallkomplex deutlich, der in Teilprojekt A als Ankerfall im Blick auf die Bedingungen der Anbahnung des Missbrauchs (253-300) und in Teilprojekt B im Blick auf die Probleme bei der Aufarbeitung (324-337) analysiert wird: ein offenbar progressiver, antiautoritärer und gegenüber traditionellen Rollenzuweisungen und Sexualitätskonzepten kritischer, in der Jugendarbeit enorm erfolgreicher Pfarrer hat sich sukzessive in drei Gemeinden schwerer sexualisierter Gewalt gegenüber Konfirmandinnen schuldig gemacht.
Hier wird deutlich, dass das Aufgeben eines traditionellen Amtsverständnisses nicht eo ipso Schutz vor sexuellem Missbrauch bietet und umgekehrt eine auf Distanz bedachte Amtsführung (264) in diesem Fall für die Jugendlichen in der Gemeinde einen Schutz darstellte. Denn hier wurde die Anbahnung sexueller Kontakte mit Jugendlichen gerade durch eine Enttabuisierung der Sexualität und durch das Aufbrechen traditionaler Rollenvorgaben erleichtert. Damit fielen nämlich zugleich Schutzmechanismen weg; die Unterscheidung des Zulässigen von Grenzüberschreitungen wurde für die Jugendlichen und für die übrigen Gemeindeglieder erheblich erschwert (253-300).
Wenn die Verfasser des Teilprojekts A die Analyse des Falls so zusammenfassen: "Die institutionelle, durch die eigene Glaubensüberzeugung begründete Selbstüberhöhung kann damit als ermöglichend für die Ausübung sexualisierter Gewalt verstanden werden" (315), dann ist das sicher richtig, aber nur eine Seite der Medaille. Man wird das zumindest ergänzen müssen durch den (in der Studie durchaus auch thematisierten) Faktor, dass die plakative Durchbrechung hierarchischer Verhältnisse und Amtsverständnisse im Verhältnis zu Jugendlichen ebenfalls sexuelle Gewalt und deren Anbahnung ermöglicht hat. Die Verfasser der Studie versuchen der damit sich andeutenden Komplexität und Pluralität der Kontexte sexualisierter Gewalt so zu begegnen, dass sie "scheinbar gegensätzliche" Typen des Jugendleiters und deren Gefährdungspotenzial unterscheiden; mindestens den "Revolutionär" und den "Missionar" (430f.).
Der schwierige Weg von der Analyse zur Handlungsanweisung
Gerade im Vergleich mit der MGH-Studie und anderen, stärker fallorientierten Studien im Bereich der katholischen Kirche wird das Problem deutlich: die Identifikation von strukturellen Faktoren, die Missbrauch ermöglichen, ergeben sich aus den Fallkonstellationen und den Interviews mit Betroffenen, lassen sich aber eigentlich nicht eindeutig in institutionelle Handlungsanweisungen übersetzen: auch der Verzicht auf ein traditionelles Verständnis des geistlichen Amtes (das in den Studien zur Katholischen Kirche als Problem markiert wurde) ist kein struktureller Schutz vor sexuellen Übergriffen – genau dies zeigen die Beispiele aus dem Bereich der evangelischen Kirchen: der Aufbau eines egalitären Selbstverständnisses und die in der Studie mehrfach für den Bereich der evangelischen Kirchen diagnostizierte Distanzlosigkeit und Gleichmacherei ("Geschwisterlichkeit": 525-527; 785-791) eröffnet vielmehr weitere Möglichkeiten der Ausübung und Verdeckung sexualisierter Gewalt und des unangemessenen Umgangs mit den Betroffenen.
Als zweiten Faktor identifiziert die Studie immer wieder die "Deutungsmacht" als zentrale Kompetenz, die einerseits die Kirche im Umgang mit den Betroffenen zu erhalten sucht, und die andererseits die Pfarrerinnen und Pfarrer auszeichnet und die ein wesentliches Element bei der Etablierung asymmetrischer Verhältnisse darstellt (422-435).
Diese Konzentration auf die Deutungskompetenz als Proprium eines evangelischen Amts- und Kirchenverständnisses wird in der vorliegenden Studie nach meinem Eindruck aus einer Beschreibung der erforderlichen Qualifikationen für das Pfarramt gewonnen, ein Katalog von Kompetenzen, die die Verfasserinnen auf der Homepage der EKD gefunden haben (422f.); die Deutungskompetenz steht dort an erster Stelle. Dieses kompetenzorientierte Verständnis des Pfarramts und der Ausbildung dazu ist von den entsprechenden Debatten der Neunzigerjahre bestimmt. Das ist übrigens einer der Punkte, an dem man sich gewünscht hätte, dass die Verfasser doch auch eine permanente beratende Teilnahme von Theologinnen oder Theologen vorgesehen hätten, die sie offenbar als externe Ressource betrachtet und nur fallweise herangezogen haben (413).
Dass diese Deutungskompetenz einen Machtfaktor darstellt, wurde uns allen mit der Kritik am "Herrschaftswissen" seit Jahrzehnten eingeschärft und in der Gegenwart in einer Vielzahl von Kontexten, gerade auch in der akademischen Theologie, als Zusammenhang von Deutung und Macht kritisch zur Diskussion gestellt. Der Faktor "Deutungsmacht" ist dabei aber kein spezifisches Problem der evangelischen Kirchen oder ihres Amtsverständnisses, sondern ein Problem des diskursiv begründeten Handelns in der Gesellschaft überhaupt.
Zweifellos aber ist damit ein Ort für eine notwendige theologische Weiterarbeit markiert: man wird fragen müssen, wie die in den reformatorischen Kirchen verbreitete theoretische Einsicht, dass Religion Selbstständigkeit im Verhältnis zu Gott und nicht Abhängigkeit von Geistlichen bedeutet, in ein (Selbst-)Verständnis der Geistlichen ebenso wie der Gemeindeglieder und in kirchliches Handeln umzusetzen ist. Diese Einsicht müsste sich in eine gemeindliche Sicht und ein Selbstverständnis der Geistlichen und ihrer Aufgaben übersetzen lassen, die in der Hinführung zur Selbstständigkeit bestehen muss.
Die geistliche Deutungskompetenz stellt nur eine Form in einer Fülle von asymmetrischen Verhältnissen dar, denen ein Mensch im Laufe seiner Bildungsbiografie zwangsläufig ausgesetzt ist und die alle geeignet sind, sexuell konnotiert und gewaltförmig zu werden.
Aber genau im Begriff der "Hinführung" liegt eben auch das unentrinnbare Moment einer – freilich zur Aufhebung bestimmten – Asymmetrie: Die Selbstständigkeit ist Produkt eines Bildungsprozesses, der sich nicht autonom vollzieht, sondern unvermeidlich außengelenkt ist. In manchen Passagen weist die Studie durchaus darauf hin, dass das Problem nicht die Asymmetrie an sich ist, sondern die Verdeckung und Leugnung faktischer Asymmetrien (542f.), oder eben der Versuch, sie etwa in der Struktur von Seelsorgeverhältnissen auf Dauer zu stellen, und in beiden Fällen auszubeuten.
Damit wird aber zugleich deutlich, dass die geistliche Deutungskompetenz nur eine Form in einer Fülle von asymmetrischen Verhältnissen darstellt, denen ein Mensch im Laufe seiner Bildungsbiografie zwangsläufig ausgesetzt ist und die alle geeignet sind, sexuell konnotiert und gewaltförmig zu werden. Zu diesen unentrinnbar asymmetrischen Verhältnissen gehören neben der Kirche die Familie, die Schule bzw. die Universität und der Sport – nach meinem Eindruck die Orte, an denen es zu sexuellem Missbrauch kommt. Wenn das richtig ist, gilt: Die spezifische Gefährdungskultur in den Kirchen wird man durch eine Einzelbetrachtung der kirchlichen Fälle nur ungenau erheben können. Man wird sie vielmehr vergleichend in den Kontext der Frage nach den Strukturen stellen müssen, die in Bildungs- und Erziehungseinrichtungen generell zu sexualisierter Gewalt führen.
Es steht zu vermuten, dass sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen nicht spezifisch religiös oder kirchlich ist und an spezifisch kirchliche Bedingungen gebunden ist, sondern sich überall dort einstellt, wo im weitesten Sinne Erziehungs- und Bildungsarbeit geleistet wird und damit unvermeidlich asymmetrische Verhältnisse bestehen.
Evangelische Logiken
Zwei spezifisch theologische Faktoren werden in der Studie benannt. Der erste ist eine theologische Abwertung der Sexualität, der Körperlichkeit und der Frau (522-525). Das ist nun eine Aussage, bei der man es bedauert, dass nicht erschlossen wird, auf welche Zeit sich die hier ausgewerteten Zitate beziehen. Denn diese Abwertung ist in landeskirchlichen Kontexten – Ausnahmen bestätigen die Regel – inzwischen (!) nicht mehr virulent. Zudem wird aus den geschilderten Fällen und Analysen deutlich, dass eine kirchliche Kultur sexueller Toleranz und "akzeptierter" Sexualität keinen Schutz vor sexuellen Übergriffen darstellt.
Das "Tafelsilber des Protestantismus", die Rede von Schuld und Vergebung oder von "Versöhnung", ist weithin banalisiert zu einer Methode der Herstellung vorgeblich gedeihlicher zwischenmenschlicher Verhältnisse.
Als ein weiteres spezifisch theologisches Element, das die Aufklärung und die Einnahme der Betroffenenperspektive erschwert, identifizieren die Verfasser der Studie "evangelische Logiken", insbesondere die Rechtfertigungslehre und die damit verbundene kurzschlüssige und harmoniesüchtige Verbindung von Schuld und Vergebung (412f.): Diese Verbindung führt dazu, dass das Identifizieren von Schuld sofort die Betroffenen vor die Erwartung stellt, Vergebung zuzusprechen (758-762).
Das ist in der Tat ein Problem des protestantischen Selbstverständnisses in der Gegenwart: dass das "Tafelsilber des Protestantismus", die Rede von Schuld und Vergebung oder von "Versöhnung", weithin banalisiert ist zu einer Methode der Herstellung vorgeblich gedeihlicher zwischenmenschlicher Verhältnisse. Das stellt zugleich eine Über- und eine Unterforderung der christlichen Rede von der Vergebung dar, und diese Feststellung ist nicht konfessionsspezifisch: Wer zwischenmenschlich Vergebung oder Versöhnung als spezifisch christliches Handeln oder als christliche Haltung einfordert, übersetzt den Begriff in eine moralische Maxime. Er identifiziert zudem unter der Hand das Vergeben mit dem Vergessen oder Beschweigen. Das stellt dadurch eine Überforderung dar, dass ein Betroffener (im Unterschied zum Bystander) zum Beschweigen meistens nicht und zum Vergessen sicher nicht fähig ist.
Auf der anderen Seite ist das als moralische Aufforderung zum Vergessen interpretierte Vergeben eine Unterforderung des Begriffs: Nach klassischem christlichem Verständnis ist das Vergeben begründet im Umgang Gottes mit der Schuld – theologisch im Kreuz Christi. Dieser Hinweis ist auslegungsbedürftig, aber wie immer man das Kreuz im Einzelnen interpretiert: Genau damit wird die Schwere der Tat betont – und das Vergeben und Versöhnen wird den Charakter einer die Schuld ignorierenden und überspringenden Naivität ("alle sollen sich wieder lieb haben") verlieren.
Die ForuM-Studie muss zum Anlass genommen werden, sich darauf zu besinnen, dass der christliche Glaube zur Rechtfertigung der Untat verkommt, wenn die Rede von der Vergebung nicht mehr in den Kontext der Christologie gestellt und die Unselbstverständlichkeit der Vergebung betont wird. Hier liegt unbedingt eine Bringschuld der akademischen Theologie und Ausbildung.
Es braucht auch die Zuwendung zu den Tätern
Aber hier wiederhole ich das, was ich andernorts mit Bezug auf die Studien zur katholischen Kirche geschrieben habe: Unbeschadet des unzweifelhaft absolut notwendigen Umdenkens zur Berücksichtigung der Perspektive der Betroffenen muss man ergänzen, dass der christliche Glaube aller Konfessionen ohne die Zuwendung auch zu den Tätern nicht zu haben ist. Die "Zöllner und Sünder", denen sich Jesus nach dem Zeugnis der Evangelien zuwendet, sind nicht Sympathieträger oder marginalisierte Gestalten, denen grundsätzlich unsere Zuneigung gilt, sondern wirklich diejenigen, die abscheuliche Untaten begangen haben. Die Zuwendung zu ihnen steht nicht unter der Bedingung der Reue, sondern sie führt, wenn es gut geht, den Täter zur Reue, zum Bekenntnis und zum Versuch der Wiedergutmachung. Die Kirchen haben, unbeschadet der Durchsetzung der Konsequenzen der Tat, die Aufgabe der seelsorgerlichen Betreuung auch der Täter. Das muss festgehalten werden auch dann, wenn diese Feststellung keine Freunde macht.