Gott als Freund?Thomas von Aquin und die radikale Idee der Freundschaft mit Gott

"Ich habe euch meine Freunde genannt": Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn, der in diesen Tagen von seiner Erzdiözese Abschied nimmt, hat sein Wirken unter diesen Wahlspruch gestellt. Er meint: Wie kein anderer Theologe hat Thomas von Aquin in seiner "Summa theologiae" gezeigt, wie Gottes Liebe die Menschen in echte Freundschaft einlädt: gegenseitig, frei und tief.

Christoph Schönborn
© Erzdiözese Wien/Stephan Schönlaub

Das eine Wesentliche, das im Herzen jedes glücklichen menschlichen und christlichen Lebens liegt, ist die Freundschaft. Ich habe in meinem Leben erfahren, dass Freundschaft das kostbarste aller Güter ist, und ich bin überzeugt, dass der heilige Thomas von Aquin (gest. 1274) die Freundschaft geradezu zum Angelpunkt seines ganzen theologischen Werkes gemacht hat, indem er die Liebe, die zweifellos der Inbegriff des Christlichen ist, als Freundschaft definiert hat.

Seit vielen Jahren bewegen mich diese Gedanken. Ich halte den Traktat über die Liebe in der Secunda Secundae (dem zweiten Teil des zweiten Buches) der "Summa theologiae" gewissermaßen für den Schlüssel zu diesem ganzen Werk. Ich glaube, dass in diesem Traktat wie in einem Brennpunkt alle großen Themen und Anliegen des Aquinaten versammelt sind. Natürlich ist es unmöglich, in der Kürze dieses Beitrags den ganzen Traktat darzulegen. Doch möchte ich wenigstens versuchen, einige der Kerngedanken der Quaestio 23, die dem Wesen der Liebe gewidmet ist, darzustellen.

Ist die Liebe Freundschaft?

Der heilige Thomas beginnt seinen Traktat über die Liebe unmittelbar mit der Frage, ob diese eine Freundschaft sei. Nach seiner gewohnten Methode beginnt er zuerst mit Einwänden gegen diese Annahme. Sie sind gewichtig, wie immer, wenn der heilige Thomas ein wesentliches Thema anschneidet. Er will bewusst die Gegenargumente besonders stark machen, um dann seine Aussage umso deutlicher und besser begründet vorzustellen. Diese Methode macht den Gegner nicht schlecht und klein, sondern hebt seine Argumente möglichst stark und prägnant hervor, um damit den Ernst des Ringens um die Wahrheit zu unterstreichen. Der heilige Thomas hat es nie nötig, Andersdenkende schlecht und gering zu machen, denn er ist überzeugt, dass das Licht der Wahrheit stark genug leuchtet, um sich selber durchzusetzen.

Dass die Liebe die Mitte und der Inbegriff des christlichen Lebens ist, stellt für Thomas eine Selbstverständlichkeit dar, gilt doch das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe als der Inbegriff des Gesetzes und somit des Willens Gottes. Aber dass die Liebe eine Freundschaft sei, ist alles eher als selbstverständlich. Kann es zwischen Gott und Mensch Freundschaft geben, wenn es der Freundschaft eigen ist, mit dem Freunde zusammen zu leben? Wir sollen Gott lieben. Aber mit Gott freundschaftliche Gemeinschaft zu haben, ist nicht einfach gegeben und selbstverständlich.

Der zweite Einwand hält die Freundschaft ebenfalls für einen engeren Begriff als den der Liebe. Jesus hat uns die Liebe zu unseren Feinden aufgetragen. Man kann sie also lieben, aber Freundschaft kann mit den Feinden nicht gelebt werden. Auch der dritte Einwand geht in diese Richtung: Ich kann wohl die Sünder lieben mit der Liebe Gottes. Kann ich deshalb auch schon mit ihnen Freundschaft haben?

Die Einwände scheinen also darauf abzuzielen, dass Freundschaft etwas Eingeschränkteres ist als die Liebe. Die Liebe kennt keine Grenzen, sie erstreckt sich auf Gott und auf alle Menschen. Freundschaft ist hingegen nur möglich mit seinesgleichen und mit denen, mit denen wir im Wohlwollen verbunden sind.

Die Argumentation gehört für mich zu den größten und schönsten Texten der ganzen theologischen "Summa". Mit wenigen Strichen wird hier nicht nur eine Lehre von der Freundschaft skizziert, sondern auch das letzte Ziel aller Heilswege Gottes im Aufbauen einer Freundschaft zwischen Gott und Mensch gesehen. 

Das tragende Argument für die These des heiligen Thomas ist den Abschiedsreden Jesu im Abendmahlssaal entnommen, da der Herr zu den Zwölf sagt: "Ich nenne euch nicht mehr Knechte [...] Vielmehr habe ich euch meine Freunde genannt" (Joh 15,15). Dieses Wort Jesu habe ich mir zu meiner Bischofsweihe als Motto gewählt: Vos autem dixi amicos. Der Grund, warum der Herr seine Apostel Freunde nennt, ist nach Thomas einzig und allein seine Liebe. Also erweist sich Liebe, wie Jesus sie seinen Jüngern geschenkt hat, als Freundschaft.

Die nun folgende Argumentation im Hauptteil des ersten Artikels gehört für mich zu den größten und schönsten Texten der ganzen theologischen Summa. Mit wenigen Strichen wird hier nicht nur eine Lehre von der Freundschaft skizziert, sondern auch das letzte Ziel aller Heilswege Gottes im Aufbauen einer Freundschaft zwischen Gott und Mensch gesehen. Sehen wir uns die Argumentationslinien ein wenig an.

Thomas hatte bereits früher die Frage gestellt, ob die Liebe (amor) zu Recht und in angemessener Weise in die Freundschaftsliebe (amor amicitiae) und die Liebe des Begehrens (amor concupiscentiae) eingeteilt wird. Denn die Liebe wird von Thomas zuerst unter dem Aspekt der Leidenschaft (passio) behandelt, als die Grundform der Leidenschaft des Begehrens (concupiscibilis). Schon dort (Summa theologiae I-Il, Quaestio 26, art. 4) hatte er klargestellt, dass die Liebe, die Freundschaft ist, zweifellos höher steht als die Liebe, die Begehren ist. Denn im Begehren geht es um etwas, das ICH haben möchte. In der Freundschaftsliebe aber geht es um das Gute, das ich dem anderen will. Liebe aber ist mehr dort verwirklicht, wo ich dem anderen Gutes will, als dort, wo es um mein eigenes Gut geht.

Die Freundschaft aufbauen

Von dieser Fragestellung geht nun auch unser Artikel 1 der 23. Frage aus. Thomas beginnt mit dem Zitat aus den Abschiedsreden: "Ich nenne euch nicht mehr Knechte, sondern meine Freunde" (Joh 15,15). Welcher Art aber ist die Freundschaft, von der Jesus spricht und die er seinen Jüngern gewährt? "Der Philosoph", das heißt Aristoteles, gibt hier das Stichwort. Nicht jede Liebe, so sagt er, hat die Eigenschaft der Freundschaft. Denn damit Liebe Freundschaft wird, gehört zu ihr das Wohlwollen (benevolentia). Solange wir etwas nur für uns wollen, ist es die Liebe der Begehrlichkeit. Wenn gesagt wird, jemand liebe den Wein, so wäre es lächerlich zu behaupten, hier bestehe eine Freundschaft. Der Wein wird nicht um seiner selbst willen geliebt, sondern um der Freude willen, die er mir bereitet. In diesem Sinne schließt Thomas auch die Möglichkeit aus, dass es zwischen Mensch und Pferd eine Freundschaft geben kann. Er konnte die "Narnia"-Bücher von C. S. Lewis nicht gelesen haben, sonst würde er wohl anders über Freundschaft von Buben und Pferden gesprochen haben. Das entscheidende Element ist aber nicht nur das Wohlwollen. Freundschaft gibt es nur dort, wo es gegenseitiges Wohlwollen gibt, denn "nur der Freund ist dem Freunde Freund", wie Aristoteles sagt. Es muss also die Gegenseitigkeit geben, und die setzt eine wirkliche Kommunikation zwischen den Freunden voraus. Wir kennen alle die schmerzliche Erfahrung, dass Freundschaften verblassen können, wenn sie nicht ständig vom gegenseitigen Austausch, von Gespräch und Begegnung genährt sind.

Es ist die tiefste Überzeugung des christlichen Glaubens, dass Gott uns wirklich etwas von sich selber mitteilt, mehr noch, dass er sich selber uns in seinem Sohn und im Heiligen Geist geschenkt hat. Gott teilt uns sein Leben mit, deshalb gibt es eine wahre gegenseitige Gemeinschaft.

Kann es aber zwischen Gott und Mensch eine wirkliche Gegenseitigkeit geben? Ist nicht der Abstand zwischen Gott und Mensch unendlich, und somit letztlich unüberbrückbar? Es ist die tiefste Überzeugung des christlichen Glaubens, dass Gott uns wirklich etwas von sich selber mitteilt, mehr noch, dass er sich selber uns in seinem Sohn und im Heiligen Geist geschenkt hat. Gott teilt uns sein Leben mit, deshalb gibt es eine wahre gegenseitige Gemeinschaft. Genauer: Deshalb ist es möglich, auf diesem Geschenk der Selbstmitteilung Gottes eine Freundschaft aufzubauen. Wenn es ein Wort gibt, das nach meiner Überzeugung die ganze Summa theologiae zusammenfasst, so ist es fundari amicitiam. Gott will mit seinem Geschöpf "eine Freundschaft aufbauen". Der ganze Weg des menschlichen und christlichen Lebens hat seinen tiefsten Sinn darin, Freundschaft mit Gott aufzubauen. Und die ganze Ethik zwischenmenschlicher Kommunikation ist zusammengefasst in diesem einen Wort: Freundschaft aufbauen.

Der Prolog zum zweiten Buch der Summa ist sehr wichtig. Dort wird der ganze Weg des Menschen unter dem Aspekt der Gottebenbildlichkeit dargestellt. Der Mensch ist nach Gottes Ebenbild geschaffen und deshalb dazu berufen, dieses Bild zu verwirklichen, indem er sich frei auf sein Ziel hinbewegt. Wir können den Sinn dieses Prologs nun dahingehend präzisieren, dass der ganze Sinn des menschlichen Lebens darin besteht, die Gottebenbildlichkeit in der Gottesfreundschaft zu verwirklichen. Und Thomas macht deutlich, dass dieses Aufbauen einer Freundschaft auch einen ganz konkreten Platz hat: die Gemeinschaft und damit die Freundschaft mit Jesus Christus. In ihm hat Gott sich uns Menschen vollkommen mitgeteilt. Deshalb gilt es, die Freundschaft mit Gott konkret als Freundschaft mit Jesus Christus aufzubauen, der gekommen ist, uns zu seinen Freunden zu machen.

Schauen wir auf die Antworten, die der heilige Thomas auf die drei Einwände gibt:

Zu 1: Es stimmt, dass es, zumindest im leiblichen Leben, keine direkte Gemeinschaft mit Gott gibt. Wohl aber gibt es sie im geistigen Leben. Denn schon jetzt ist unser Leben mit Christus in Gott verborgen, wie der Apostel sagt (Kol 3,3). Daher haben wir schon jetzt eine wirkliche, wenn auch unvollkommene Gemeinschaft mit Gott, die in der seligen Gottesschau vollendet werden wird.

Zu 2: Sehr schön begründet der heilige Thomas hier die Möglichkeit der Feindesliebe. Freundschaft zum Feind kann es nicht geben; die ist nur zwischen Freunden möglich. Aber die Freunde meiner Freunde werden dennoch in gewisser Weise auch mir zu Freunden, auch wenn sie mir direkt nicht sympathisch sind. Wenn uns Freundschaft mit Gott verbindet, dann lieben wir aus dieser Freundschaft heraus auch jene, für die Gott nicht gezögert hat, seinen Sohn zu schenken, auch wenn sie unsere Feinde sind.

Zu 3: Dasselbe gilt auch von der Liebe zu den Sündern. Auch wenn Freundschaft zu ihnen direkt nicht angebracht scheint, so ist doch die Liebe, die Gott zu ihnen (und auch zu uns, die wir selber Sünder sind) hat, Grund genug, sie mit der Liebe Gottes zu betrachten und in diesem Licht sie auch mit der Freundschaftsliebe zu lieben.

Dieser erste und grundlegende Artikel des Traktats über die Liebe hat uns das entscheidende Stichwort geliefert: fundari amicitiam. Nun geht es darum, näher anzusehen, wie diese Freundschaft zwischen Gott und uns beschaffen sein soll, wie sie wachsen und sich voll entfalten kann.

Freundschaft mit Gott

Im zweiten Artikel der 23. Frage erhält die Lehre von der Liebe als Freundschaft zwischen Gott und Mensch nochmals eine entscheidende Vertiefung. Ausgangspunkt ist die Aussage des Petrus Lombardus (gest. 1160), des Meisters der Sentenzen, die Liebe sei nicht etwas Geschaffenes, sondern der Heilige Geist selbst, der unserer Seele einwohnt. Anders gesagt: Gott selber ist die Liebe in uns. Wegen ihrer Größe und überragenden Bedeutung könne die Liebe nicht etwas Geschaffenes sein, sie muss unmittelbar göttlich, ja Gott selber sein. Aufs Erste gesehen klingt das sehr fromm und erhaben. Thomas aber macht deutlich, dass damit die Liebe nicht größer, sondern im Grunde kleiner gemacht würde. Inwiefern?

Die Liebe wäre nicht Liebe und könnte nicht Freundschaft sein, wenn sie nicht auch von Seiten des Menschen ein echter menschlicher, und das heißt willentlicher und vernünftiger Akt wäre.

Wäre der Heilige Geist selbst in uns die Liebe, so wäre sie nicht ein Akt bzw. eine Haltung (habitus) des Menschen. Denn es läge nicht in unserer Hand, an unserem Willen, zu lieben. Wir würden nicht selber lieben, sondern Gott liebte in uns sich selber. Hier stoßen wir auf einen zentralen Punkt des Menschenbildes des heiligen Thomas, von dem aus sich Linien in alle Lebensbereiche des Menschen zeichnen lassen. Die Liebe wäre nicht Liebe und könnte nicht Freundschaft sein, wenn sie nicht auch vonseiten des Menschen ein echter menschlicher, und das heißt willentlicher und vernünftiger Akt wäre. Würden wir gewissermaßen passiv wie ein Werkzeug in der Hand des Handwerkers zur Liebe bewegt werden, dann wäre es nicht Liebe, denn – dies hat der erste Artikel gezeigt – wenn Liebe Freundschaft ist, gehört zu ihr wesentlich die Gegenseitigkeit.

Eben dazu aber befähigt uns Gott durch die Mitteilung seiner selbst, durch die er uns fähig macht, eine Freundschaft mit ihm aufzubauen. Thomas formuliert dies in seiner Sprache: Um Gott in Freundschaft lieben zu können, bedürfen wir einer Befähigung, die über unsere natürlichen Kräfte hinausgeht, die uns mit Gott gewissermaßen "konnatural" macht, die es uns ermöglicht, Gott wirklich zu lieben und ihm in Freundschaft verbunden zu sein.

Die Darlegungen des heiligen Thomas im zweiten Artikel sind auch ein Musterbeispiel seiner Methode, von der wir viel lernen können. In den allerseltensten Fällen wird man bei Thomas Polemik finden. Immer ist er bemüht, die Argumente jener, deren Sicht er nicht teilt, stark zu machen. Da es ihm in großer Objektivität um die Wahrheit geht, ist er bemüht, den Anteil an Wahrheit auch in noch so anderen Positionen hervorzuheben. Gerade in diesem Artikel wird das deutlich.

Als junger Professor hat er die Sentenzen des Magister Petrus Lombardus, das damals übliche Lehrbuch an der Universität, kommentiert. Daher stellt er auch die These des Magisters respektvoll dar. Ebenso respektvoll ist die Art, wie er dessen Position korrigiert: "Wenn jemand die Sache richtig betrachtet, dann folgt (aus der Position des Magisters) eher ein Schaden für die Liebe." Und bezüglich Augustinus, in dessen Tradition der Magister steht, sagt Thomas behutsam, diese Art zu sprechen (nämlich die Liebe im Menschen mit Gott selbst zu identifizieren) sei die bei den Platonikern übliche Art zu sprechen, und Augustinus sei von den platonischen Lehren getränkt gewesen (imbutus). Das habe zu manchen Irrtümern geführt, die Thomas hier behutsam und deutlich korrigiert.

Geschenkte Freiheit

Wir sind dem heiligen Thomas nicht dadurch besonders treu, dass wir möglichst polemisch seine Ansichten gegen alle möglichen anderen Sichtweisen verteidigen. Seinem Denken und seinen Tugenden kommen wir in dem Maße nahe, in dem uns die Suche nach der Wahrheit dazu bewegt, sie überall auf ihre Spuren hin zu befragen. Niemals hätte der heilige Thomas Aristoteles so stark integrieren können, wenn er nicht von der Überzeugung getragen gewesen wäre, dass Christus, das ewige Wort, jene Wahrheit ist, die jeden Menschen erleuchtet. Wo immer ein Lichtstrahl der Wahrheit zu finden ist, dort gilt es nachzufragen, hinzuhören, um freudig die Wahrheit, die sich zeigt, zu begrüßen. Dazu gehört freilich auch die stete Bereitschaft, um der Wahrheit willen auch Irrtümer bloßzulegen und zu widerlegen. Beides aber, das Begrüßen der Wahrheit und das Widerlegen des Irrtums, erfordert eine große Gesprächsbereitschaft. Der heilige Thomas hat in unvergleichlicher Weise den Dialog mit allen Meistern der Vergangenheit und der Gegenwart geführt. Es gibt wohl keinen sichereren Führer zu einer christlichen Kultur des Dialogs als den heilige Thomas.

Das Große am Gottesbild des heiligen Thomas ist, dass er Gott nicht nur als die erste Ursache von allem sieht, sondern auch als so mächtig und groß, dass er seinen Geschöpfen die Macht geschenkt hat, selber Ursachen sein, aus Eigenem wirken zu können und nicht nur passiv vom höchsten Prinzip, von der Erstursache, bewegt zu werden.

Die Quaestio 23 gibt gewissermaßen das anthropologische und theologische Fundament an, auf dem diese wahrhaft christlich-humanistische Haltung des heilige Thomas basiert: sein Gottes- und Menschenbild. Freundschaft kann es nur geben, wenn es echte Gegenseitigkeit in Freiheit gibt: mutuus amor, mutua inhaesio, ein wirkliches Miteinander und Ineinander.

Das Große am Gottesbild des heiligen Thomas ist, dass er Gott nicht nur als die erste Ursache von allem sieht, sondern auch als so mächtig und groß, dass er seinen Geschöpfen die Macht geschenkt hat, selber Ursachen sein, aus Eigenem wirken zu können und nicht nur passiv vom höchsten Prinzip, von der Erstursache, bewegt zu werden.

Es wäre gerade heute hochaktuell und wichtig, die Auseinandersetzung des heiligen Thomas mit der islamischen Philosophie, besonders des Averroes, aufmerksam zu studieren. Gegen die Lehre des Averroes von der Alleinursächlichkeit Gottes hat Thomas mit der ganzen Kraft seines Geistes gekämpft. Gott wird nicht dadurch groß, dass die Geschöpfe klein gehalten werden. Seine wahre Größe zeigt sich nicht in der völligen Ohnmacht der Geschöpfe, sondern in deren Ermächtigung, selber wirken und verursachen zu können.

Es ließe sich meines Erachtens zeigen, dass die wissenschaftliche Kultur der christlich geprägten Länder mit dieser Sicht der Eigenwirksamkeit der Geschöpfe zu tun hat. Es wäre weiters zu zeigen, wie das abendländische Verständnis von Partizipation und Demokratie aus dieser Sicht erwachsen ist. Besonders deutlich werden die Auswirkungen des christlichen Humanismus im Bereich der Menschenwürde und der Menschenrechte.

Die Folge dieser Sicht ist die ganze Weite der katholischen Auffassung von den Zweitursachen, von der relativen Autonomie der weltlichen Tätigkeitsbereiche. Es ließe sich meines Erachtens zeigen, dass die wissenschaftliche Kultur der christlich geprägten Länder mit dieser Sicht der Eigenwirksamkeit der Geschöpfe zu tun hat. Es wäre weiters zu zeigen, wie das abendländische Verständnis von Partizipation und Demokratie aus dieser Sicht erwachsen ist. Besonders deutlich werden die Auswirkungen des christlichen Humanismus im Bereich der Menschenwürde und der Menschenrechte.

Freilich wäre auch zu besprechen, worin die Gefahren dieses Humanismus liegen, die dort zutage treten, wo die Abhängigkeit der Zweitursachen von der Erstursache geleugnet wird, wo die Autonomie der Welt und des Menschen die Geschöpflichkeit vergisst und sich eine Eigenständigkeit anmaßt, die sie tatsächlich nicht besitzt.

Es gibt wohl keinen besseren Ort, um dieses Paradox zu studieren und mit dem Herzen zu erfassen, als den Traktat des heiligen Thomas über die Liebe als Freundschaft: das Paradox einer dem Menschen von Gott geschenkten Freiheit, einer von Gott ermöglichten Gegenseitigkeit zwischen dem Ewigen und uns, einer wirklichen Freundschaft zwischen Ihm, dem Unendlichen, und uns, seinen sterblichen Geschöpfen.

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