In den Ländern Westeuropas sind wir mit einer wachsenden Erosion an Glaubenswissen konfrontiert. Die zentralen Fragen, sofern sie überhaupt gestellt werden, versickern nicht selten in einem Pluralismus an Meinungen, der den provokanten Wahrheitsanspruch des Christentums oftmals eher niederhält. "Das Wesen des Christlichen ist für viele innerhalb und außerhalb der Kirche sehr undeutlich geworden", und heute möglicherweise noch undeutlicher als 1969, als Walter Kasper diese Einschätzung in einer Rezension zu Ratzingers Einführung in das Christentum formulierte. Auch heute "ist das Christentum so fundamental infrage gestellt, dass eine solche Einführung für alle dringend nötig wäre." Wie Joseph Ratzinger damals, so möchte Manfred Lütz heute – angeregt durch Volker Resing – dieser Erklärungsnot begegnen. Nicht auf eine andere Weise oder mit anderen Worten, sondern mit Ratzingers Werk selbst, das an Aktualität nichts eingebüßt habe.
Lütz’ Ansinnen ist es, das Werk Ratzingers in seiner Klarheit neu vorzulegen, um grundlegende Glaubensinhalte des Christentums darzulegen und einem interessierten Publikum zu vermitteln. Mit der Zustimmung des inzwischen verstorbenen, emeritierten Papstes hat Lütz das Buch, das ursprünglich an ein akademisch gebildetes Publikum gerichtet war, "für alle" aufbereitet, wie es im leicht adaptierten Titel Kurze Einführung in das Christentum für alle heißt. Ohne die stringente Gedankenführung Ratzingers zu verändern, hat Lütz dessen Einführung in das Christentum gestrafft und terminologisch vereinfacht. Bemerkungen zu wissenschaftlichen Debatten hat er weggelassen und theologische Fachbegriffe übersetzt. So leuchtet die "Hauptstraße" umso deutlicher auf, wie er selbst in seinem Vorwort schreibt. Um zum Kerngedanken des jeweiligen Kapitels hinzuführen, setzt Lütz neue Überschriften und stellt jedem Kapitel einen pointierten und mitunter provokanten Einleitungssatz voraus, der zur Lektüre des folgenden Textes anregen soll.
Ermöglichung wahren Menschseins
Auch Ratzingers Intention war es 1967, wie Karl Adam ein halbes Jahrhundert vor ihm, den christlichen Glauben umfassend und verständlich darzulegen. In Vorlesungen, die nur ein Jahr danach unter dem Titel Einführung in das Christentum veröffentlicht werden, vermittelt er wesentliche Inhalte und geht auf grundlegende Fragen ein. Der Theologe will "helfen, den Glauben als Ermöglichung des wahren Menschseins in unserer heutigen Welt neu zu verstehen" (Einführung, 10). Zu diesem Zweck legt Ratzinger anhand des Apostolischen Glaubensbekenntnisses die Kerninhalte des Christentums dar.
Beinahe Wort für Wort erörtert er das Wesen des christlichen Glaubens, den er dialogisch als Anruf Gottes an den Menschen interpretiert.
Ratzinger verfolgt damit einen anthropologischen Ansatz, der auf die Christologie hin zuläuft und die Berufung des Menschen in Christus darstellt. Auf diese Weise entfaltet er nicht nur den Heilsplan Gottes, die Eröffnung der persönlichen Beziehung Gottes mit dem Menschen, sondern er verdeutlicht ebenso die Offenbarung des trinitarischen Gottes in der Geschichte.
"Eine gültige Neuinterpretation des christologischen Dogmas"
Ausgehend von der Situation des Menschen heute, der durch Glauben und Zweifel gleichermaßen herausgefordert ist, führt Ratzinger den Leser in der latenten Spannung zwischen dem "Primat des Unsichtbaren" einerseits und dem "Positivismus" des christlichen Glaubens, dem Einbrechen Gottes in die Geschichte, andererseits über die Gottesfrage hin zur Gotteserfahrung des sich dem Volk Israel offenbarenden Gottes. Dies bringt ihm die Kritik Kaspers ein, der in einem platonisierenden Ausgangspunkt die Ursache für dessen "latenten Idealismus und Säkularismus" begründet sieht, "durch den das eigentliche christliche Skandalum des 'Logos sarx egeneto' (Joh 1,14) (…) immer wieder unter die Vorherrschaft und unter die Gesetzlichkeiten des Wirklichkeitsbegriffs der griechischen Philosophie gerät." Einerseits wird man diesem Vorwurf zustimmen können und andererseits entgegenhalten, dass auch das frühe Christentum bestrebt war, wie Ratzinger 1969, die biblische Offenbarung mithilfe der griechischen Philosophie zu erhellen und zu kommunizieren.
Mit der Überarbeitung der Einführung in das Christentum von Joseph Ratzinger ist es Manfred Lütz gelungen, wesentliche Gehalte des christlichen Glaubens pointiert zur Sprache zu bringen.
Ratzinger fährt fort, den Glauben an den trinitarischen Gott, der Beziehung, Liebe, ist, darzulegen und erörtert von hier aus den Personbegriff sowie dessen Entwicklung und Bedeutung für das Christentum und darüber hinaus. In weiterer Folge entfaltet der spätere Papst die Christologie, mit der ihm "eine gültige Neuinterpretation des christologischen Dogmas der alten Kirche gelungen ist", so Kasper: "In der untrennbaren Einheit der zwei Worte 'Jesus Christus' verbirgt sich die Erfahrung der Identität von Existenz und Sendung" und erlaubt, von "funktionaler", das ganze Sein Jesu als Funktion des "Für uns", Christologie zu sprechen (vgl. Einführung, 163). Von "ontologischer" Christologie darf gesprochen werden, weil das Sohn-Sein Jesu als totale Relativität mit dem Absoluten in eins fällt (vgl. Einführung, 182).
Blick auf das Eschaton
Die pneumatologischen, ekklesiologischen und eschatologischen Grundzüge werden im dritten Hauptteil vorgestellt. Damit geht Ratzinger nicht nur der Begründung des Christentums nach, sondern eröffnet auch den Blick auf das Eschaton: Die Einung und Einheit der Menschheit und des Menschen in Christus.
Aber Ratzinger bereitet nicht nur die theologischen Themen des Glaubensbekenntnisses auf, auch versucht er, mit seiner werbenden Diktion Menschen für den Glauben zu gewinnen. Walter Kaspar bemerkt dazu: "Viele Interpretationen Ratzingers wirken geradezu befreiend; man stimmt ihnen umso lieber zu, als sie nicht zu einem seichten Liberalismus, sondern in wirklich spirituelle Tiefen führen und damit sowohl christlich wie theologisch bereichernd sind."
Mit der Überarbeitung der Einführung in das Christentum von Joseph Ratzinger ist es Manfred Lütz gelungen, wesentliche Gehalte des christlichen Glaubens pointiert zur Sprache zu bringen. Auch den spirituell Suchenden und intellektuell Fragenden wird so Nahrung gegeben. Die Kurze Einführung in das Christentum für alle ist zwar nicht kurz, aber ein Angebot für alle Glaubenden, Suchenden und Agnostiker, die den christlichen Glauben besser kennenlernen möchten.