Wenn ich im Folgenden von einer Dramatik der biblischen Glaubensentwicklung spreche, dann beziehe ich mich auf einen Prozess, in dem dieser Glaube im Dialog mit einer sich geschichtlich wandelnden Wirklichkeit immer neu um eine angemessene Gestalt ringt. Und wenn diese Entwicklung dabei von einem spezifischen Wahrheitsanspruch geleitet wird, dann ist dieser Terminus im Sinne eines genitivus subiectivus zu verstehen: als Beanspruchung durch eine Wahrheit, deren Spur dieser Glaube sich im Vollzug eines geschichtlichen Dialogprozesses immer wieder von Neuem unterwirft.
In seiner frühesten Gestalt begegnet der Glaube an den Gott Israels in der Gestalt der Monolatrie: der Alleinverehrung, die zwar andere Götter für existent hält, diesen aber die Verehrung verweigert, weil sie sich als unzuverlässig erweisen. Der Wahrheitsanspruch dieses Glaubens erweist sich darin, dass der verehrte Gott sein Volk aus der ägyptischen Gefangenschaft errettet, die verfolgenden Ägypter aber dem Untergang weiht. Der dabei leitende Wahrheitsbegriff – hebräisch emet – ist pragmatischer Natur und steht für Beständigkeit, Zuverlässigkeit und Treue. In unserem Sprachgebrauch hat er seine Spuren dort hinterlassen, wo wir einen Menschen einen wahren Freund nennen, weil man sich auf ihn auch in Stunden der Not verlassen kann.
Der brennenende Dornbusch
Vor allem ist dieser Gott dadurch gekennzeichnet, dass er empirisch nicht fassbar ist, was insbesondere im Gottesnamen zum Ausdruck kommt. Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, das mich mein ganzes berufliches Leben als Lehrer begleitet hat: Wenn ich eine Vertretungsstunde in einer mir unbekannten Klasse gegeben habe, habe ich zuerst einen Sitzplan anfertigen lassen, weil die "Namensanrufung" der jeweiligen Schüler eine elementare Voraussetzung darstellt, um auftretende Gruppenprozesse in den Griff zu bekommen. Entsprechend macht auch Rumpelstilzchen im gleichnamigen Märchen die Erfahrung, dass die Bekundung seines Namens ihm den Zauber der eigenen Unverfügbarkeit nimmt. Das Tetragramm "JHWH" muss dem gegenüber als eine zum Namen geronnene Namensverweigerung gelten. Dass der Gott Israels in der entsprechenden Begegnung mit Mose in Gestalt eines Dornbusch erscheint, der brennt und doch nicht verbrennt, macht deutlich, dass die Paradoxie ein Grundzug des angemessenen Redens von Gott ist. Insofern muss ein religiöses Sprechen, das zwangsläufig objektivierende Züge hat, sich ständig für seine eigene Überbietung offenhalten.
Eine Glaubensgestalt, die andere ausschließt und deren Wahrheitsanspruch nur zulasten anderer behauptet wird, kann nicht der wahre Glaube sein.
Dieses Bewusstsein hat den biblischen Glauben befähigt, auf geschichtliche Krisenerfahrungen in einer Weise zu reagieren, in der es sein Verständnis der Unfassbarkeit Gottes immer neu denjenigen Einschränkungen entwand, die das religiöse Bewusstsein ihm – und sei es noch so unbewusst – auferlegte. So wurde mit der monotheistischen Überbietung des ursprünglich monolatrischen Glaubens aus dem Nationalgott Israel der Gott aller Menschen. In weiteren Prozessen krisenhafter Erschütterung wurde aus dem Gott der Lebenden ein Gott, dessen Präsenz auch die Toten einbezog. Diese Glaubensentwicklung lässt sich auf die Formel bringen: Eine Glaubensgestalt, die andere ausschließt und deren Wahrheitsanspruch nur zulasten anderer behauptet wird, kann nicht der wahre Glaube sein.
Die Überwindung der Rivalität
Von dieser Gefahr ist auch der Monotheismus in seinem Universalitätsanspruch nicht frei. Ausgerechnet die Psalmen 104 und 139, die die universale Gottespräsenz rühmen, münden nämlich in die Verfluchung derer, die dieser Erkenntnis die gebotene Einsicht verweigern. Sie nehmen auf ihre Weise diejenige "Dialektik der Aufklärung" vorweg, die sich mehr als 2000 Jahre später in Mozarts "Zauberflöte" ausspricht, wo das Humanitätspathos des weisen Sarastro denjenigen das Recht auf ihr Menschsein abspricht, die seinen Idealen nicht die fällige Gefolgschaft schenken.
Der Jude Jesus vertritt nun in seiner Position nichts anderes als den universalistischen Anspruch des Monotheismus, befreit ihn aber aus der genannten Zweideutigkeit, in der er wider seinen Willen in Partikularismus abgleitet. In seinem Auftreten wendet Jesus sich nämlich an diejenigen, "die von ihrer eigenen Gerechtigkeit überzeugt sind und die anderen verachten" (Lk 18,9). Auf diese Weise zieht er freilich die tödliche Ablehnung derer auf sich, die ihre partikulare Gestalt der Identität weiterhin auf Kosten anderer pflegen. Jesus kann darum die Grenzenlosigkeit einer göttlichen Liebe gegenüber denen, die ihre Identität stets zulasten anderer behaupten, nur so bezeugen, dass er sterbend auch für diejenigen um Vergebung bittet, die seine Hinrichtung betreiben.
Im Leben und Sterben Jesu vollzieht sich eine Aufklärung über die Gewaltaffinität religiösen Bewusstseins. In diesem Sinne möchte ich in Umkehrung eines Satzes von Joseph Ratzinger feststellen: Im Christentum ist Religion Aufklärung geworden.
Damit vollzieht sich im Leben und Sterben Jesu eine Aufklärung über die Gewaltaffinität religiösen Bewusstseins. In diesem Sinne möchte ich in Umkehrung eines Satzes von Joseph Ratzinger feststellen: Im Christentum ist Religion Aufklärung geworden. Freilich gerät aber auch diese Aufklärung in eine Dialektik, welche sich partikularisierend in der Herabsetzung und dem Ausschluss anderer äußert. Denn diejenigen Mechanismen, die im Leben und in der Botschaft Jesu überwunden sind, tauchen schon im idolisierenden Bekenntnis der Jünger zu Jesus wieder auf. Diese streiten sich, wer von ihnen der Größte sei (vgl. Mk 9,33–37), und Jakobus und Johannes ziehen den Ärger der anderen zehn Jünger auf sich, weil sie beim himmlischen Gastmahl die Ehrenplätze zur Rechten und zur Linken Jesu einnehmen wollen (vgl. Mk 10,35–45). Am deutlichsten wird dieser Rückfall in Partikularismus und Rivalität dort, wo die Jünger einen fremden Wundertäter an seinem Wirken hindern, "weil er uns nicht nachfolgt" (Mk 9,38–41). Die Pikanterie des zuletzt genannten Vorgangs wird noch einmal besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass – nach einem Wort Gisbert Greshakes – die Wunder Jesu Kommunikation herstellen, wo Exkommunikation herrschte. Denn der weitaus größte Anteil der überlieferten Wundererzählungen berichtet bis hin zum "Aussatz" von der Heilung derjenigen Organe, über die sich die menschliche Kommunikation mit der Außenwelt vollzieht. Dann wäre der genannte Wundertäter gerade wegen dieser kommunikativen Tätigkeit seitens der Jesusjünger exkommuniziert werden.
Dass – wie soeben festgestellt – im Bekenntnis der Jünger zu Jesus diejenigen Exklusionsmechanismen wieder auftauchen, die in Jesus überwunden sind, macht auch ein Jesuswort verständlich, das im Johannesevangelium überliefert ist. Frei formuliert lautet dieses: Es sei gut für die Jünger, wenn Jesus fortgehe, denn nur dann könne sein Geist zu ihrem Geist werden. Oder in der wörtlichen Gestalt der Einheitsübersetzung: "Es ist gut für euch, dass ich fortgehe. Denn wenn ich nicht fortgehe, wird der Beistand nicht zu euch kommen" (Joh 16,7). Im griechischen Urtext heißt dieser Beistand parakleitos – in deutscher Transformation der "Paraklet" – und dieser ist der Verteidiger eines Angeklagten in einem Gerichtsprozess. Zuvor hat Jesus den Parakleten als den "Geist der Wahrheit" bezeichnet, "den ich euch vom Vater aus senden werde" und "der vom Vater ausgeht" (Joh 15,26).
Wesen und Unwesen der Kirche
Insofern bestünde die Jesusnachfolge darin, dass sein Geist zu unserem Geist wird und die vertikale Inkarnation, die in Jesus Christus geschieht, sich horizontal in seiner Nachfolge fortsetzt. Der Begriff der Kirche als "Leib Christi" ist in diesem Sinne hier vorgebildet, wobei angesichts der partikularisierenden Neigung des Menschen das genannte Wesen der Kirche nur in ihrem geschichtlich-gesellschaftlichen Unwesen verwirklicht ist. Darum hat sich in der Theologie der Kirchenväter die Metapher der Kirche als "Braut Christi" zum Bild der "Hure" verschärft, die heilig ist kraft der heiligenden Liebe Gottes.
Die Kirche kann sich nur so zu dieser Wahrheit bekennen, dass sie ihr eigenes Versagen davor mit bekennt. Gerade darin leistet dieser Wahrheitsanspruch eine Aufklärung über die Gefahren jeglicher religiöser Bewusstseinsbildung.
Was bedeuten die bis hierhin vorgetragenen Überlegungen nun für den spezifischen Wahrheitsanspruch des Christentums? Dieser muss zunächst – wie eingangs schon formuliert – grammatisch als genitivus subiectivus gelesen werden: als Beanspruchung der Kirche durch eine Wahrheit, die ihr fordernd vorauseilt. Die Kirche kann sich nur so zu dieser Wahrheit bekennen, dass sie ihr eigenes Versagen davor mit bekennt. Gerade darin leistet dieser Wahrheitsanspruch eine Aufklärung über die Gefahren jeglicher religiöser Bewusstseinsbildung.
Die Heilsmöglichkeit derjenigen Menschen, die anderen Religionen angehören, wird damit nicht bestritten. Aber die Aufklärungsleistung, die der Kirche in ihrem Zeugnis von Jesus aufgegeben ist, formuliert ihnen gegenüber das Angebot, zu überprüfen, inwieweit ihre jeweilige Glaubensgestalt sich in der Spur der Wahrheit aufhält.
Kein Geringerer als der Vorgänger des jetzigen Papstes erwartete in dieser Hinsicht
"die Ehrfurcht vor dem Glauben des anderen und die Bereitschaft, in dem, was mir als das Fremde begegnet, Wahrheit zu suchen, die mich angeht und die mich korrigieren, mich weiterführen kann. Es ist zu fordern die Bereitschaft, hinter den vielleicht befremdlichen Erscheinungsformen das Tiefere zu suchen, das sich in ihnen verbirgt. Es ist des weiteren die Bereitschaft zu fordern, die Verengungen meines Verstehens von Wahrheit aufbrechen zu lassen, mein Eigenes besser zu erlernen, indem ich den anderen verstehe und so mich auf den Weg zum größeren Gott bringen lasse – in der Gewißheit, daß ich die Wahrheit über Gott nie ganz in Händen habe und vor ihr immer ein Lernender, auf sie hin immer ein Pilger bin, dessen Weg nie zu Ende ist." (Joseph Ratzinger, Der Dialog der Religionen und das jüdisch-christliche Verhältnis, in: Communio 26 [1997], 419-429)