Der Advent steht vor der Tür – und damit die Zeit des Wartens. Dabei warten Christen schon seit rund 2.000 Jahren auf die Wiederkunft Christi. Warum verzögert sie sich? Und was folgt daraus für eine zeitgemäße christliche Lebensform?

Jan-Heiner Tück: Die Hoffnung auf Parusie, die für die frühen Christen zentral war, ist heute weithin verblasst. Wir bekennen zwar im Glaubensbekenntnis, dass Christus kommen wird, zu richten die Lebenden und die Toten, aber das Motiv der Parusie, das nach den biblischen Zeugnissen die Öffentlichkeit der Geschichte betreffen soll, ist dem Bewusstsein der Kirche beinahe entglitten. Damit ist auch die Hoffnung auf Vollendung berührt …

Kardinal Kasper: Die Himmelfahrt ist engstens verbunden mit der Hoffnung auf die Wiederkunft des zum Himmel erhöhen Christus: "Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel gehen sehen" (Apg 1,11). Davon sprechen auch die Gerichtsreden Jesu (Mk 13,26 par) sowie an vielen Stellen die Briefe des Apostels Paulus (1 Thess 4,15f. u.a.). Diese Hoffnung ist eingegangen in das Apostolische Glaubensbekenntnis "der kommen wird zu richten die Lebenden und der Toten" sowie in die Akklamation bei der Feier der Eucharistie "bis du kommst in Herrlichkeit." Die frühe Christenheit war von dieser Hoffnung erfüllt und wartete sehnsüchtig auf deren baldige Erfüllung. Flehentlich betete sie: "Maranatha", "Unser Herr, komme bald!" (1 Kor 16,22; Offb 22,20). Als sich die Erfüllung dieser Hoffnung verzögerte, kam die Naherwartung in eine Krise, und in der Neuzeit ist die Hoffnung auf die zweite Ankunft (Parusie) Jesu ganz allgemein im Bewusstsein vieler Christen kaum mehr lebendig. Einen Kontrapunkt dazu hat Karl Barth gesetzt: "Christentum, das nicht ganz und gar und restlos Eschatologie ist, hat mit Christus ganz und gar und restlos nichts zu tun."

Apokalyptische Bilder als Sehnsuchtsbilder

Tück: Wie kann es angesichts der epochalen Verschiebungen im Weltverständnis gelingen, die biblischen Aussagen von dem auf den Wolken wiederkommenden Jesus Christus samt den Vorzeichen, wonach die Sterne vom Himmel fallen, das ganze Weltenhaus gleichsam implodiert und die Engel die Auserwählten aus allen vier Windrichtungen zusammenführen, verständlich zu machen und neu zu verlebendigen?

Kardinal Kasper: Zunächst gilt es zu beachten, dass es sich bei den biblischen Aussagen zur Parusie um eine Bildersprache handelt, die aus der mit dem alttestamentlichen Daniel-Buch einsetzenden frühjüdischen Apokalyptik stammt. Sie suchte in der damaligen Notzeit, in der Israel von fremden Mächten beherrscht war, eine Hoffnungsperspektive zu entfalten. Dort hat die Rede vom kommenden Reich Gottes und von dem auf den Wolken des Himmels kommenden Menschensohn ihren Ursprung.

Karl Rahner hat Prinzipien für eine Hermeneutik entwickelt, um die uns heute schwer verständlichen apokalyptischen Aussagen zu verstehen. Er hat gezeigt, dass es sich dabei nicht um die antizipierte Reportage eines Zuschauers bei einem künftigen Ereignis handelt. Der Sitz im Leben der christlichen Apokalyptik ist vielmehr der Glaube an den irdischen und erhöhten Christus und unsere gegenwärtige, sich nach Vollendung des Heils sehnende Situation. Die apokalyptischen Bilder sind als Transposition unserer gegenwärtigen Heilssituation in den Modus der Vollendung zu verstehen.

Hans Urs von Balthasar hat diese Idee weitergeführt. Die eschatologische Vollendung ist nicht eine Verlängerung unserer irdischen Geschichte in die Zukunft. Das Eschaton ist nicht "etwas"; das Eschaton ist Gott selbst in seiner alles endgültig vollendenden Ankunft bei uns und in unserer Welt. Gottes Kommen ist einerseits die Krisis all dessen, was antigöttlich und zugleich antihuman ist, und andererseits die Vollendung alles dessen, was wahr, gut, gerecht und schön ist in der Welt. Da Gott größer ist als unser Herz (1 Joh 3,20), ist das Eschaton die je größere Erfüllung unserer tiefsten Sehnsüchte nach dem definitiven Ende des ganzen Schwindels und der Verlogenheit und zugleich die je größere, alle unsere Erwartungen überbietende Erfüllung unserer Sehnsucht nach Gerechtigkeit, die nicht nur für die gegenwärtig lebende Generation wichtig ist, sondern all die vielen unschuldigen Opfer der Geschichte mit umgreift. Sie ist die überbietende Erfüllung der Sehnsucht nach einer ganz anderen Welt und nach einem neuen Anfang, den allein Gott durch einen neuen schöpferischen Akt herbeiführen kann.

Meine Freude und mein Glück kann nicht vollkommen sein, wenn noch nicht alle anderen ebenfalls glückselig sind.

Tück: Oft wird diese Sicht der eschatologischen Vollendung umgedeutet und individualisiert. Symptomatisch dafür ist Karl Rahners Aussage, dass Christus kommt, indem wir bei ihm ankommen. Das klingt vernünftig. Aber ist mit dieser Rationalisierung nicht auch eine problematische Individualisierung und Spiritualisierung verbunden?

Kardinal Kasper: Wir haben diese Frage bereits angesprochen, als von der Auferstehung im Tod die Rede war. Hier möchte ich hinzufügen: Es geht beim Gericht wie bei der Vollendung zwar um jeden unvertretbaren einzelnen, aber um den einzelnen, der wesensmäßig nur in den Relationen von Ich-Du-Wir existiert. Darum kann aufgrund der mitmenschlichen Verfasstheit der einzelne als einzelner nur dann vollendet sein, wenn alle anderen mit zur Vollendung gelangt sind. Meine Freude und mein Glück kann nicht vollkommen sein, wenn noch nicht alle anderen ebenfalls glückselig sind. Wir müssen sogar noch einen Schritt weitergehen. Entsprechend dem christlichen Leibverständnis sind wir sowohl als einzelne wie als soziale Wesen in das Ganze der Natur und des Kosmos eingefügt. So kann der einzelne und die Menschheit als ganze nicht vollendet sein, ohne dass der Kosmos insgesamt vollendet sein wird. Die eschatologische Vollendung ist nur im Ganzen der neuen Schöpfung, des neuen Himmels und der neuen Erde möglich (Jes 65,17; 66,22; 2 Kor 5,17; Gal 5,15; 2 Petr 3,13). Dabei kommt das neue Jerusalem von oben, vom Himmel herab (Offb 21,1). Nicht wir kommen bei Gott an, Gott kommt bei uns an! Gott wird dann in unserer Mitte wohnen. Er wird alle Tränen von unseren Augen abwischen. Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, Keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. "Seht ich mache alles neu!" (Offb 21,3-5).

Wir dürfen uns das neue Jerusalem und die neue Schöpfung nicht als ein in der Zeit zu erwartendes, irdisches Paradies ausmalen. Wie es keine Zeit vor der Schöpfung, sondern nur mit der Schöpfung gibt, so auch keine Zeit nach dem Ende dieser Welt. Die neue Schöpfung ist darum eine transzendente Wirklichkeit, die wir aus vertrauendem Glauben an Gottes Treue glaubend erhoffen. "Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr hat es gehört, … das Große, das Gott denen bereitet hat, die ihn lieben" (1 Kor 2,6).

Jüdische und christliche Hoffnungen verbinden

Tück: "Der Messias kommt nicht" – heißt provokant ein neueres Buch. Doch fromme Juden beten täglich um das Kommen des Messias. Im Neuen Testament steht die Zusage: "Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen wurde, wird wiederkommen, wie ihr ihn habt zum Himmel gehen sehen" (Apg 1,11). Die Haltung der Wachsamkeit und des Wartens kann Juden und Christen verbinden – ist die Vorstellung zu kühn, dass mit dem zweiten Kommen Christi jüdische Messias-Erwartung und christliche Parusie-Hoffnung konvergieren könnten?

Kardinal Kasper: Die Konvergenzen zwischen jüdischer und christlicher Endzeiterwartung sind offenkundig. Das Hinschauen, Harren und Zugehen auf das Eschaton ist für Juden und Christen glaubens- und lebensbestimmend. Für beide ist Gott ein Gott auf Zukunft hin. Der Unterschied zwischen jüdischer und christlicher Endzeiterwartung besteht darin, dass die christliche Erwartung sich auf die Person des bereits gekommenen, irdischen und auferstandenen Jesus, die jüdische Erwartung sich auf einen noch unbekannten, erst kommenden Messias bezieht, wodurch die Erwartung eines persönlichen Messias oft in den Hintergrund oder ganz zurücktritt und irdischen Erwartungen und aktivem Einsatz für eine Erneuerung der Welt Platz macht.

Paulus verbindet die jüdische und die christliche Vorstellung miteinander. Nach Paulus findet die christliche Hoffnung ihre Erfüllung, wenn die Vollzahl der Heiden das Heil erreicht hat und ganz Israel gerettet wird, indem es Jesus als den Messias anerkennt (Röm 12,26). Wann und wie das geschieht, ist allein Gottes Sache. Er allein bestimmt den Tag und die Stunde (Mt 24,36 f). Beide, Juden und Christen müssen deshalb lernen und anerkennen, dass wir das Eschaton weder zelotisch herbeidrängen noch durch Bekehrung des anderen erzwingen können. Doch in der gegenseitigen Anerkennung des Andersseins des anderen können wir als Juden und Christen dem Eschaton entgegen gemeinsam den Weg in die Zukunft gehen und die Enderfüllung der Geschichte als Gottes Geschenk erwarten.

Wir dürfen die Parusie nicht futurisch enggeführt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausschieben und vertagen. Nach dem vierten Evangelium ist jeder Tag und jede Stunde ein eschatologischer Tag und eine eschatologische Stunde.

Tück: Der Ruf um das Kommen des Herrn ist oft Ausdruck des Leidens. Die bedrängte, von Verfolgungen heimgesuchte Gemeinde ist es, die "Maranatha – Komm, Herr Jesu!" schreit. Johann Baptist Metz hat daher die Naherwartung in politisch-praktischer Absicht zu revitalisieren versucht. Nachfolge im Horizont befristeter Zeit duldet keinen Aufschub.

Kardinal Kasper: Es ist die Stärke der neuen politischen Theologie, so wie Johann Baptist Metz sie verstanden hat, abstrakte theologische Aussagen im Blick auf die politische Situation zu aktualisieren. Dabei geht es ihm darum, dass das Warten auf das Kommen Gottes und auf die Vollendung seines Reiches keine rein passive Haltung sein darf, so als ob wir im Wartesaal zu sitzen und nur darauf zu warten haben, bis die Tür zur messianischen Welt aufgeht. Wir dürfen die Parusie nicht futurisch enggeführt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag hinausschieben und vertagen. Nach dem vierten Evangelium ist jeder Tag und jede Stunde ein eschatologischer Tag und eine eschatologische Stunde. Zwar können wir die messianische Welt nicht hier und heute "machen" und den Himmel auf Erden bauen. Aber wir können durch unseren Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden hier und heute das Ziel in den uns geschichtlich möglichen Maßen im Dienst an einer besseren und menschlicheren Welt aktiv vorwegnehmen und dabei hoffen, dass unser Einsatz, auch dann, wenn er momentan scheitert, schlussendlich dennoch nicht vergebens ist. Er ist aufgrund der Treue Gottes in einer nicht im Voraus berechenbaren Weise in das kommende Reich der Gerechtigkeit und des Friedens eingestiftet. Da die Liebe für immer bleibt (1 Kor 13,8.13), werden auch die Werke der Liebe immer bleiben und endgültig Bestand haben.

Die Kirche lebt zwischen den Zeiten, zwischen erster und zweiter Ankunft Christi, zwischen altem und neuen Äon.

Tück: In den Dystopien der Gegenwart – gläserne Gesellschaft, atomares Inferno, Klima-Apokalypse – findet sich eine Naherwartung unter negativem Vorzeichen. "Last generation" nennt sich eine Bewegung von Klima-Aktivisten, die durch das Beschwören der Krise nicht nur das Sensorium für das Problem steigern, sondern auch den praktischen und politischen Handlungsdruck erhöhen will, allerdings ohne dass eine erlösende und befreiende Perspektive mit eröffnet würde.

Kardinal Kasper: Es kann in drängenden Situationen durchaus hilfreich sein, in angemessener Weise Handlungsdruck zu erzeugen. Doch aus dem Malum lässt sich das Bonum nicht ableiten; umgekehrt ergeben sich aus dem Bonum, theologisch: von Christus her, Maßstäbe, Perspektiven, Energie und Ermutigung für Verbesserung, Reform und Erneuerung. Der Blick in die Finsternis des Abgrunds macht schwindelig und schwach in den Beinen, der Blick nach oben zu den Sternen erfüllt mit Bewunderung und Hoffnung und zeigt dem Schiffer auf dem Meer wie dem Wanderer in der Wüste die Richtung und den Weg. Jeder Bergwanderer weiß, wenn man im Nebel das Ziel nicht mehr vor Augen hat, ist man in der Gefahr im Kreis herumzulaufen oder unversehens an einem Abgrund anzukommen. Ohne Zukunftsperspektive keine Hoffnungsperspektive.

Vom großen Aufhalter (Katechon) in der Geschichte

Tück: Gegen eine futurische Engführung des Parusiegedankens hat schon im Mittelalter der Zisterzienser Bernhard von Clairvaux vom adventus medius gesprochen. Zwischen dem ersten Kommen in Schwachheit und dem zweiten Kommen in Herrlichkeit gebe es das mittlere Kommen im Wort und in den Sakramenten, vor allem in der Eucharistie. Hier gewähre Christus seine verborgene Gegenwart, der ein Verheißungsüberschuss innewohne …

Kardinal Kasper: Die vermittelnde Lösung des Bernhard von Clairvaux zwischen schwärmerischer Nah- und vertröstender Fernerwartung ist die zur kirchlichen Lehre gewordene Antwort geworden. Die Kirche lebt zwischen den Zeiten, zwischen erster und zweiter Ankunft Christi, zwischen altem und neuen Äon. Thomas von Aquin hat in seiner Sakramententheologie von einer dreifachen Zeichenhaftigkeit und Wirkmächtigkeit der Sakramente gesprochen: Sie weisen als signum rememorativum zurück und erinnern an den Erlösungstod Christi, als signum demonstrativum schenken sie uns durch liturgische Symbolhandlungen schon jetzt im Hl. Geist Anteil an dem neuen Leben, das Jesus Christus uns durch seinen Tod am Kreuz verdient hat, und als signum prognosticum weisen sie in antizipatorischer Weise auf die eschatologische Erfüllung des Heilsgeschehens voraus. Besonders bei der Feier der Eucharistie nehmen wir schon jetzt an der himmlischen Liturgie teil. Der auf Thomas von Aquin zurückgehende eucharistische Hymnus Adoro te devote schließt mit den Versen: "O Jesu, den verhüllt jetzt nur mein Auge sieht; / Wann stillst das Sehnen du, das in der Brust mir glüht: / Dass ich enthüllet dich anschau‘ von Angesicht / und ewig selig sei in deiner Glorie Licht."

Ähnliches ist von der Verkündigung des Wortes Gottes zu sagen: Sie erinnert an das im Alten und Neuen Bund ergangene Wort Gottes, proklamiert es im Heute und verweist auf seine eschatologische Gültigkeit und Erfüllung. So ragt und wirkt das Eschaton durch Wort und Sakrament schon jetzt in unsere Welt herein. Die künstlerische Ausgestaltung des Kirchenraums, besonders die Musik, auch die liturgischen Gewänder sowie die Feierlichkeit des liturgischen Vollzugs sollen die eschatologische Dimension der Eucharistie zeichenhaft sichtbar und erfahrbar zum Ausdruck bringen und sie, wie Edith Stein von der Liturgie bei den Benediktinern in Beuron gesagt hat, gleichsam zum Vorhof des Himmels machen.

Bleibend gültig ist die Mahnung: "Seid wachsam!" Denn die Zwischenzeit der Kirche zwischen der ersten und der endgültigen Parusie ist gekennzeichnet durch die immer wieder neue dramatische Auseinandersetzung zwischen der Parusie Christi und der Anti-Parusie des Antichristen.
Tück: Im Zusammenhang mit der Wiederkunft ist die Lehre vom "Aufhalter" des Antichristen, vom "Katechon", aufgekommen (vgl. 2 Thess 2,6f.). Sie dient als Erklärung dafür, warum die Parusie bis jetzt nicht stattgefunden hat. Welche Bedeutung würden Sie dieser in der Eschatologie wenig behandelten Lehre zuschreiben?

Kardinal Kasper: Die Aussagen des 2. Briefes an die Thessalonicher haben in der Geschichte schon die unterschiedlichsten Auslegungen gefunden. Die Reihe der Kandidaten für die Position des Katechon, der die Parusie Jesu Christi und damit das Kommen des Reiches Gottes aufhält, ist lang und könnte angesichts der gegenwärtig florierenden Verschwörungstheorien bald noch länger werden. Der meist genannte Aufhalter ist oder war das römische Reich, das wegen der Christenverfolgungen in der Offenbarung des Johannes als "Hure Babylon" bezeichnet wird. In anderen Texten wird das römische Reich als Ordnungsmacht verstanden, welche die chaotischen Vorzeichen der Parusie zurückhält und damit das Kommen des Reiches Gottes aufhält. Im Mittelalter wurden die Skandale in der römischen Kirche zum Katechon. Bei Martin Luther dann wurde das Papsttum zum Antichristen, der sich der Verkündigung des Evangeliums entgegenstellt – eine Vorstellung, die heute aufgrund der ökumenischen Annäherung außer in fundamentalistischen Kreisen und Sekten praktisch verstummt ist und sogar ausdrücklich widerrufen wurde.

Tück: Welchen Beitrag leistet die wissenschaftliche Exegese, um diese zunächst schwer verständliche Stelle vom "Katechon" einzuordnen und zu verstehen?

Kardinal Kasper: In der Exegese besteht heute ein Konsens, wonach der 2. Thessalonicher-Brief zwar mit der Autorität des Apostels Paulus auftritt, aber wohl nicht von ihm, sondern von einem seiner Schüler in der Spätzeit der frühen Kirche stammt. Die Aussagen über den Katechon werden verständlich im Kontext der Enttäuschung über das Ausbleiben der frühchristlichen eschatologischen Naherwartung, was die Frage aufwarf: Warum bleibt die Parusie aus? Angesichts dieser Situation mahnt der Brief: Lasst euch nicht aus der Fassung bringen und in Schrecken jagen. Alles geschieht nach dem von Gott festgesetzten Plan. Zuerst muss der vorausgesagte große Abfall kommen und die geheime Macht der Gesetzlosigkeit, d. h. des Antichristen allen offenbar werden. Dann erst wird der kommende Christus bei seiner Ankunft alle Feinde mit dem Hauch seines Mundes töten. Doch was auffällt, ist, dass der Brief dem Aufhalter bzw. dem Antichristen keinen Namen gibt. Daraus folgt: Keine der vielen geschichtlichen Deutungen kann für sich kanonische, biblische Autorität beanspruchen. Bleibend gültig ist jedoch die Mahnung: "Seid wachsam!" Denn die Zwischenzeit der Kirche zwischen der ersten und der endgültigen Parusie ist gekennzeichnet durch die immer wieder neue dramatische Auseinandersetzung zwischen der Parusie Christi und der Anti-Parusie des Antichristen. Sie kann unterschiedliche Formen annehmen, durchzieht aber die ganze Geschichte der Kirche bis heute. Darum: Seid nicht naiv, seid wachsam!

Unterwegs zur eschatologischen Vollendung

Tück: Erik Peterson hat in der Weigerung der Juden, den Messias anzuerkennen, das retardierende Moment der Heilsgeschichte gesehen. Das Reich könne erst kommen, wenn sich ganz Israel zu Christus bekehre. Mit wacher Witterung für die Zeichen der Zeit hätte Peterson wahrscheinlich das Aufkommen und Wachsen der messianisch-jüdischen Bewegung heute als leises Vorzeichen des baldigen Kommens gedeutet …

Kardinal Kasper: Erik Peterson ist ein bedeutender, scharfsinniger, leider lange vergessener, doch bis heute einflussreicher Theologe, Religionswissenschaftler, Exeget und Fachmann für die Frühgeschichte der Kirche. Ihn bewegten vor allem die Kapitel 9–11 des Römerbriefs, in dem es Paulus um das Ur-Schisma der Kirchengeschichte, die Spaltung zwischen Juden und Christen, geht. Paulus führt aus, es gehöre zur alles vollendenden Endgeschichte, dass die Vollzahl der Heidenchristen erreicht wird und "ganz Israel" sich bekehrt (Röm 11,26). Der "Unglaube" der Mehrzahl der Juden wirkt sich darum nach der Überzeugung von Erik Peterson retardierend auf die Parusie als zweite Ankunft Christi in Herrlichkeit aus.

Man kann das Gleiche aber auch positiv formulieren und sagen, dass der Annäherung von Juden und Christen – zum einen nach und trotz dem furchtbaren und unerhörten Geschehen der Shoah, zum anderen angestoßen durch den Paradigmenwechsel des Zweiten Vatikanischen Konzils (vgl. NA 4) – eine eschatologische Dimension innewohnen und ein Schritt auf dem Weg zur eschatologischen Vollendung sein kann. Auf jeden Fall haben wir trotz vielen aktuellen neuen Problemen allen Grund, den eingeschlagenen Weg des Dialogs und der Zusammenarbeit entschlossen weiterzugehen.

Tück: Petersons zeitweiliger Weggefährte und spätere Antipode, der wegen seiner NS-Vergangenheit umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt, hat in der Idee des christlichen Reiches den heimlichen "Aufhalter" von Parusie und Gericht gesehen. In seinen posthum veröffentlichten Tagebüchern hat er am 19. Dezember 1947 notiert: "Ich glaube an den Katechon: er ist für mich die einzige Möglichkeit, als Christ Geschichte zu verstehen und sinnvoll zu finden." Und später fügte er hinzu: "Man muss für jede Epoche der letzten 1948 Jahre den Katechon nennen können. Der Platz war niemals unbesetzt, sonst wären wir nicht mehr vorhanden." Was halten Sie von dieser kühnen Form von Geschichtstheologie, die die alte Reichstheologie unter modernen Bedingungen wieder aufzunehmen sucht?

Kardinal Kasper: Carl Schmitt gilt trotz seiner wandlungsreichen eigenen Geschichte auch bei bedeutenden christlichen Vertretern des Staats- und Verfassungsrechts wie der Philosophie als ein herausragender Jurist und als scharfsinniger und ernstzunehmender Zeitanalytiker. Er teilte mit Ernst-Wolfgang Böckenförde, einem seiner bekanntesten Schüler, dessen vielzitiertes Diktum: "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann." Der freiheitliche moderne Staat setzt vor allem die Anerkennung der gleichen Würde jedes Menschen und die darauf basierenden Menschenrechte voraus. Diese haben ihre Wurzel nicht erst in der Philosophie von Immanuel Kant und in der Aufklärung, sondern leiten sich aus der viel älteren griechisch-römischen und christlichen Tradition ab. Das christliche Reich, das seit Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert bis zu den Nachwirkungen der Französischen Revolution fast 1500 Jahre bestanden hat, war trotz aller inneren Konflikten die entscheidende Ordnungsmacht des Abendlands und Europas. Es hat das Chaos selbst der Völkerwanderung und des Dreißigjährigen Kriegs überlebt und aufgehalten. Noch im 20. Jahrhundert und in der Nachkriegszeit waren die Kirchen mit ihrer Sozial- und Staatslehre institutionelle Repräsentanten dieser Tradition.

Es bedarf einer in die Tiefe und aufs Ganze gehenden Bekehrung. Evangelisierung ist darum das Gebot der Stunde.

Tück: Wie beurteilen Sie die schleichende Erosion dieser Tradition, das politische Gemeinwesen im Gottesgedanken zu fundieren? Oder um Martin Walser zu zitieren: "Was fehlt, wenn Gott fehlt?"

Kardinal Kasper: Diese Frage ist in der Tat von grundstürzender Bedeutung nicht nur für die Kirchen, sondern auch für die Grundlagen und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Diese Grundlagenkrise kommt mehr und mehr zum Vorschein in der bürgerlichen Gesellschaft, die primär auf Wirtschaftswachstum, Wohlstand und äußere Sicherheit setzt und zugleich die tieferen Grundlagen dem Belieben des einzelnen überlässt. Wenn heutige Politiker und Juristen die christlichen Grundlagen Europas in Erinnerung rufen, dann meinen sie selbstverständlich nicht eine naive Rückkehr ins Mittelalter, sondern eine Neubesinnung auf das, was für Europa, in anderer Weise auch für die Vereinigten Staaten von Amerika und die gesamte globale westliche Welt Voraussetzung und Grundlage war und für deren Zukunft auch allein sein kann. Die bürgerliche, allein auf Wirtschaft und Wohlstand bedachte globale westliche Welt ist darum sowohl für Erik Peterson wie für Carl Schmitt – übrigens auch für Alfred Delp SJ und andere – die wahrhaft antichristliche Bedrohung heute. Wir können Europa nicht durch immer mehr und immer neue Waffen mit Unsummen von Geld verteidigen, welche für Abermillionen notleidender Menschen besser angelegt wären. Es bedarf einer in die Tiefe und aufs Ganze gehenden Bekehrung. Evangelisierung ist darum das Gebot der Stunde.

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