Die Herz-Jesu-Verehrung hatte von Beginn an eine politische Dimension: Sie war die Reaktion auf eine Gesellschaft, die sich immer mehr von Gott abzuwenden schien. Im 20. Jahrhundert, als die Kirche sich zur modernen Welt hin öffnen wollte, war das nicht mehr plausibel. Mit seinem Lehrschreiben "Dilexit nos" bemüht sich Papst Franziskus um eine Wiederbelebung. Dabei greift er auf eine theologische Vorstellung zurück, von der Katholiken länger nichts gehört haben: die Sühne.

Paray-le-Monial, im Jahr 1675. Während in der Klosterkirche das Allerheiligste ausgesetzt ist, hat die Nonne Marguerite-Marie Alacoque eine Vision:

"Mir erschien Jesus Christus, mein geliebter Meister, im Glanz seiner Verherrlichung, mit seinen fünf Wundmalen, die wie fünf Sonnen leuchteten. Überall aus dieser seiner heiligen Menschheit drangen Flammen hervor, besonders aus seiner anbetungswürdigen Brust, die einem Glutmeer glich. Er zeigte mir sein liebevolles und liebenswertes Herz, das der Quell dieser Flammen war."

Jesus spricht sodann zu Marguerite-Marie über seine Liebe zu den Menschen und darüber, wie sehr es ihn betrübt, von den ihnen "Kälte und Abweisung" zu erfahren. Er fordert sie auf, für die Undankbarkeit der Menschen Sühne zu leisten. Es ist nicht die erste Vision, die Marguerite-Marie erlebt. Begonnen hatten die Offenbarungen am 27. Dezember 1673. Mehrere Visionen folgten, in denen Jesus Christus der Nonne mitteilt, er wolle im Bild eines menschlichen Herzens verehrt werden und verlangt, dass ein eigenes Fest zur Verehrung seines Herzens eingesetzt wird, an dem ihm "durch feierliche Abbitte Ehrenersatz" geleistet werden soll, "um die Verunehrungen zu sühnen, die dem Allerheiligsten Sakrament während der Aussetzung auf den Altären zugefügt werden".

Paray-le-Monial, im Jahr 1689. Wieder erlebt Marguerite-Marie Alacoque Offenbarungen. Jesus Christus verlangt, dass der König von Frankreich, Ludwig XIV., das Land dem Herzen Jesu weihen soll, dass er ein Heiligtum zur Verehrung seines Herzens errichten soll und dass ein Bild seines Herzens auf den königlichen Fahnen und Waffen angebracht werden soll. Es ist eine Zeit der politischen Unsicherheit. Frankreich führt gerade den Pfälzischen Erbfolgekrieg; der königliche Hof wird von ungeheuerlichen Skandalen heimgesucht. Doch der Versuch, den Appell an den König weiterzugeben, bleibt erfolglos.

Marseille, im Jahr 1720. In der Stadt wütet die Pest. Die Nonne Anne-Madeleine Rémusat hört in einer Offenbarung Jesus Christus sagen, er wünsche die Einführung eines Festes zur Ehre seines Herzens. Der Bischof der Stadt, Henri François-Xavier de Belsunce-Castelmoron, ein Jesuit, kommt der Aufforderung nach. Im Oktober 1720 durchquert er, angetan mit einem Büßergewand und einem Strick um den Hals, in einer Prozession die Stadt, spricht an einem öffentlichen Altar ein Bußgebet und weiht die Stadt dem Herzen Jesu. Im Juni 1721 wird die Stadt unter Anwesenheit von Bußbruderschaften, Klerikern und dem ganzen Volk nochmals dem Herzen Jesu geweiht. Die Pest verschwindet langsam. Als die Seuche 1722 noch einmal aufflammt, fordert der Bischof eine Vertiefung des Glaubens und der Buße. Es folgt wiederum eine Weihe an das Herz Jesu, diesmal durch die weltlichen Autoritäten. Nun verschwindet die Pest endgültig. Anne-Madeleine Rémusat wird im Nachhinein als Prophet Jeremia dargestellt, der die Stadt vor dem drohenden Unheil warnt, aber nicht beachtet wird. Die Ereignisse in Marseille werden später zum festen Topos in der Herz-Jesu-Literatur und der Kultpropaganda.

Département Vendée, im Jahr 1793. Die royalistisch gesinnte Landbevölkerung erhebt sich gegen die Truppen der Ersten Französischen Republik. Als Zeichen ihrer Treue zu Kirche und König tragen die Bauern der Vendée ein Herz-Jesu-Abzeichen.

Tirol, im Jahr 1796. Die Truppen Napoleons sind im Anmarsch. Der Tiroler Landtag weiht das Land dem Herzen Jesu und gelobt ein jährliches Herz-Jesu-Fest. Den Tiroler Truppen gelingt es überraschend, die Franzosen zu besiegen.

Paris, im Jahr 1875. Die Nationalversammlung der Dritten Französischen Republik beschließt die Errichtung einer Kirche auf dem Montmartre. 1871 hatte Frankreich den Deutsch-Französischen Krieg verloren. Als Frankreich wegen des Krieges 1870 seine Schutztruppen aus Rom abziehen musste, eroberten die italienischen Truppen den Kirchenstaat. Der Papst wird zum Gefangenen im Vatikan. Zwischen 1875 und 1914 wird die Basilika "Sacré-Cœur de Montmartre" errichtet. Eine Inschrift in der Basilika gibt ein vom Schriftsteller Alexandre Legentil 1871 initiiertes "Nationales Gelübde" wieder: 

"Angesichts des Unglücks, das Frankreich heimsucht, und des vielleicht noch größeren Unglücks, das ihm droht, angesichts der frevelhaften Anschläge, die in Rom gegen die Rechte der Kirche und des Heiligen Stuhls und gegen die heilige Person des Stellvertreters Jesu Christi verübt wurden, demütigen wir uns vor Gott und vereinen in unserer Liebe die Kirche und unser Vaterland und erkennen an, dass wir schuldig waren und gerecht bestraft wurden. Um unsere Sünden wiedergutzumachen und von der unendlichen Barmherzigkeit des Heiligen Herzens unseres Herrn Jesus Christus die Vergebung unserer Fehler zu erlangen, sowie die außerordentliche Hilfe, die allein den Papst aus seiner Gefangenschaft befreien und das Unglück Frankreichs beenden kann, versprechen wir, zur Errichtung eines Heiligtums in Paris beizutragen, das dem Heiligen Herzen Jesu gewidmet wird."

Vom Sühnekult zur Liebesfrömmigkeit ...

Die Herz-Jesu-Verehrung gilt als affektiv, innerlich, mystisch – und das alles nicht ohne Grund. Sie ist aber gleichzeitig von Anfang an eminent politisch. Alttestamentliche Vorstellungen von einem Volk, das sich von Gott abwendet, von Propheten, die zur Umkehr und Buße aufrufen, spielen eine Rolle. Im Zentrum steht der Sühnegedanke: Insbesondere Sünden mit öffentlichem Charakter gelten als Beleidigung, Undankbarkeit und Treulosigkeit gegenüber dem göttlichen Souverän. Die Aufgabe der Beter ist es, diese Übertretungen wiedergutzumachen. Der Kult ist defensiv, sind es doch oftmals die Sünden der "Anderen", für die Abbitte und Genugtuung geleitet werden soll. Im 20. Jahrhundert haben Historiker die Herz-Jesu-Verehrung darum als den antimodernistischen Kult schlechthin bezeichnet.

Tatsächlich verlor der defensive Zug der Devotion nach dem Zweiten Weltkrieg an Plausibilität, als die Kirche sich die Öffnung zur modernen Welt hin auf die Fahnen geschrieben hatte. In der Enzylika "Haurietis Aquas" Pius' XII. von 1956 rückt die Dimension der Sühne in den Hintergrund – umso mehr ist dort von der göttlichen Liebe die Rede.

Diese Verschiebung spiegelt sich auch in der Andachtspraxis wider. Im aktuellen katholischen Gebet- und Gesangbuch "Gotteslob" ist im Andachtsteil unter der Überschrift "Herz Jesu" zu lesen:

"Gott hat ein Herz für die Menschen; er liebt sein Volk wie Eltern ihre Kinder. Dieser liebende Gott hat sich uns in seinem Sohn offenbart. Dafür danken wir und beten: Herr Jesus, Abbild und Wesen des Vaters, bilde unser Herz nach deinem Herzen."

Sätze, wie dieser aus einem Andachtsbuch der Vorkriegszeit, finden sich dort hingegen nicht:

"Siehe, o Jesus, gedemütigt und zerknirschten Herzens liegen wir vor Dir auf den Knien und leisten Dir reumütig Abbitte für unsere Sünden und die Sünden unserer Mitmenschen."

Nun hat, für viele überraschend, Papst Franziskus der Herz-Jesu-Verehrung unter dem Titel "Dilexit nos" ("Er hat uns geliebt") eine ganze Enzyklika gewidmet. Es ist die erste seit dem Lehrschreiben Pius' XII. von 1956. Doch so verblüffend ist es nicht, dass ein Papst aus dem Jesuitenorden das Thema aufgreift: Von Anfang an gehörten die Jesuiten zu den wichtigsten Propagandisten der Devotion. Die Jesuiten befanden sich im 17. und 18. Jahrhundert in heftigen Auseinandersetzungen mit den als häretisch verfolgten Jansenisten. Für die Jansenisten, so der Vorwurf, sei der Mensch der göttlichen Gnade völlig ausgeliefert. Dagegen betonten die Jesuiten die Freiheit des Menschen und die Möglichkeit, beim Erlangen des Seelenheils mit der göttlichen Gnade mitzuwirken. Die Herz-Jesu-Verehrung war Ausdruck dieser Theologie: Ja, Jesus Christus hat am Kreuz alle Sünden der Menschen gesühnt – doch die Herz-Jesu-Verehrung erlaubt es den Frommen, an diesem Erlösungswerk in gewisser Weise zu beteiligen. Die Beter machen dem leidenden Gottessohn "eine Freude" und "trösten" ihn.

Das alles muss für heutige Ohren, wohl auch für die Mehrheit der praktizierenden Katholiken, überaus eigenartig klingen. Theologen haben im 20. Jahrhundert infrage gestellt, ob die traditionelle Interpretation des Todes Jesu als "Sühne" überhaupt angemessen ist. Noch unplausibler muss da die Vorstellung erscheinen, die Gläubigen könnten ihrerseits Akte der Sühne vollziehen. Zumal die Erklärung, solche Akte seien eine Form der menschlichen Mitwirkung an der Erlösung, auch in der Ökumene mit den Protestanten kaum anschlussfähig sein dürfte.

... und zurück!

Und ausgerechnet Papst Franziskus, der "Reformer", ja "Revolutionär", der die Kirche "in die Moderne holen" will, macht den Versuch, diese Form der Frömmigkeit mit einer päpstlichen Enzyklika wiederzubeleben?

Ja, doch.

Die ganze anstößige Theologie, die die Grundlage der Herz-Jesu-Verehrung bildet, wird in der Enzyklika positiv aufgegriffen und ausführlich erörtert.

So spricht der Papst vom "unbändigen Verlangen, Christus zu trösten". Dieses Verlangen gehe vom "Schmerz beim Betrachten dessen, was er für uns erlitten hat" aus und es speise sich "aus der aufrichtigen Erkenntnis unserer Zwänge, Abhängigkeiten, mangelnder Freude am Glauben, unseres eitlen Strebens". Das "Herz Christi", so der Papst wolle angesichts der "Katastrophe, die das Böse hinterlassen hat" auf "unsere Mitwirkung beim Wiederaufbau des Guten und Schönen" angewiesen sein. Diese Mitwirkung könne es "Gottes Macht und Liebe" ermöglichen, "sich in unserem Leben und in der Welt auszubreiten", während "Ablehnung oder Gleichgültigkeit" dies verhindern würden.

Die Wunden heilen

Sucht man im deutschen Text der Enzyklika nach dem Sühne-Begriff, wird man nur selten fündig; dort wo im italienischen Text der Enzyklika "riparazione" und im Spanischen "reparación" steht, wird im Deutschen der Ausdruck "Wiedergutmachung" verwendet. Der Papst widmet dem Begriff in der Enzyklika ein eigenes Kapitel – und hier ist eine eigene Akzentsetzung erkennbar. Denn Franziskus hebt vor allem die "soziale Bedeutung der Wiedergutmachung gegenüber dem Herzen Christi" hevor. Der Papst greift einen Ausdruck von Johannes Paul II. auf, wenn er schreibt: "Wir sind aufgerufen, gemeinsam mit Christus auf den Trümmern, die wir mit unserer Sünde in dieser Welt hinterlassen, eine neue Zivilisation der Liebe aufzubauen. Dies bedeutet Wiedergutmachung, wie das Herz Christi sie von uns erwartet." Zur Wiedergutmachung brauche es "Taten der geschwisterlichen Liebe":

"Auch wenn es stimmt, dass Wiedergutmachung den Wunsch beinhaltet, das der ungeschaffenen Liebe durch Vergessenheit oder Frevel zugefügte Unrecht gutzumachen, so besteht die angemessenste Form doch darin, dass unsere Liebe dem Herrn eine Gelegenheit bietet, sich auszubreiten, als Ausgleich für jene Male, wo er zurückgewiesen oder abgelehnt wurde. Dies geschieht, wenn wir über die bloße 'Tröstung' Christi hinausgehen (…) und sie zu Taten geschwisterlicher Liebe werden lassen, mit denen wir die Wunden der Kirche und der Welt heilen."

Bemerkenswerterweise wird gerade durch diese Betonung der sozialen Dimension der Sühne die politische Dimension der Herz-Jesu-Verehrung reaktiviert, was sich an zahlreichen Stellen der Enzyklika niederschlägt. Mit drastischen Worten beschreibt der Papst das "entwürdigende System", in dem die Menschen gegenwärtig zu leben gezwungen seien:

"Heute ist alles käuflich und bezahlbar, und es scheint, dass Sinn und Würde von Dingen abhängen, die man durch die Macht des Geldes erwirbt. Wir werden getrieben, nur anzuhäufen, zu konsumieren und uns abzulenken, gefangen in einem entwürdigenden System, das uns nicht erlaubt, über unsere unmittelbaren und armseligen Bedürfnisse hinauszusehen. Die Liebe Christi steht außerhalb dieses abartigen Räderwerks, und er allein kann uns von diesem Fieber befreien, in dem es keinen Platz mehr für eine bedingungslose Liebe gibt. Er ist in der Lage, dieser Erde ein Herz zu verleihen und die Liebe neu zu beleben, wo wir meinen, die Fähigkeit zu lieben sei für immer tot."

Und an einer anderen Stelle heißt es:

"Vor dem Herzen Christi bitte ich den Herrn, noch einmal Erbarmen zu haben mit dieser verwundeten Erde, die er als einer von uns bewohnen wollte. Möge er die Schätze seines Lichts und seiner Liebe ausschütten, damit unsere Welt, die inmitten von Kriegen, sozioökonomischen Ungleichgewichten, Konsumismus und dem menschenfeindlichen Einsatz von Technologie überlebt, das Wichtigste und Nötigste wiederfindet: das Herz."

Ein Aspekt hingegen, der in den traditionellen Äußerungen der Herz-Jesu-Frömmigkeit immer wenigstens unterschwellig eine Rolle gespielt hat, nämlich die Vorstellung, dass die göttliche Liebe angesichts der Zurückweisung auch in Zorn und Strafen umschlagen könnte, weist Papst Franziskus zurück. Dazu dienen ihm Äußerungen der Heiligen Therese von Lisieux, die in der Enzyklika mehrfach prominent zitiert wird. Therese, so der Papst, sei nicht überzeugt gewesen von dem Bemühen mancher Beter, "die sich der Gerechtigkeit Gottes als Opfer anbieten, um die für die Schuldigen bestimmten Strafen abzulenken und auf sich zu ziehen". Das "Beharren auf der göttlichen Gerechtigkeit" könne dazu führen, zu glauben, "seine Barmherzigkeit genüge nicht". Vielmehr komme es im Sinne von Therese darauf an, "der unendlichen Liebe des Herrn zu erlauben, sich ungehindert auszubreiten".

Trotz dieser Zähmung des Gottesbildes bleibt die Enzyklika anstößig. Das Schreiben könnte auf heutige Leser "fremd und zumindest vermittlungsbedürftig" wirken, gab der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, in einer ersten Reaktion auf den Text zu bedenken; in Wirklichkeit gehe es Franziskus darum, deutlich zu machen, dass die "Liebe Christi" die "Quelle der Hoffnung" sei. Aber so harmlos ist die Sache nicht. Auf diesem Lehrschreiben steht nicht nur "Herz-Jesu-Verehrung" drauf. Es ist auch Herz-Jesu-Verehrung drin.

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