Seit Langem begegneten die Orthodoxen den verschiedenen Initiativen Roms zu einer kollegialen Öffnung des Verständnisses des Papstprimats mit Misstrauen. Die orthodoxen Rezeptionsstimmen des Zweiten Vatikanums behielten diese Vorsicht unterschwellig bei. Viel zu schwer wog die dogmatische Last des Ersten Vatikanums, aber auch die Erinnerung an das Rückkehr-Ökumene-Modell der früheren Jahrzehnte. So vermied man bewusst im ersten Teil des offiziellen orthodox-katholischen Dialogs die heißen Themen (Papstprimat, Filioque) und widmete sich der Hermeneutik gemeinsamer theologischer Topoi.
Vielleicht auch deshalb blieb die Einladung von Papst Johannes Paul II. in "Ut unum sint" (1995) orthodoxerseits praktisch unbeantwortet. Nach der Krise im Dialog in den Neunzigerjahren konnte Papst Benedikt XVI. das zerrüttete Misstrauen der Orthodoxen wiedergewinnen und dabei ins Zentrum des Dialogs ein Thema setzen, welches indirekt auch die Frage des Papstamtes tangiert: Communio, Konziliarität und Autorität. Unter Konziliarität ist auch das heutige Stichwort der "Synodalität" zu lesen, unter Autorität die Frage des "Ersten", des "Protos", auf verschiedenen kirchlichen Ebenen.
Das Ravenna-Dokument von 2007 war gewissermaßen ein Durchbruch, der zugleich auch innerorthodoxe Divergenzen in der Abwägung des Verhältnisses zwischen Synodalität und Primat offenbarte, was unter anderem dazu führte, dass das Moskauer Patriarchat diesen Konvergenztext bis heute nicht unterschrieben hat. Die weiteren Dokumente im offiziellen orthodox-katholischen Dialog sind Variationen über dasselbe Thema des gegenseitigen Verhältnisses zwischen Primat und Synodalität. Diese seien, wie es im Dokument von Chieti von 2016 heißt, "miteinander verbundene, komplementäre und untrennbare Wirklichkeiten".
Vom Lernprozess zur ökumenischen Selbstverpflichtung
Doch das Tüfteln um das perfekte Rezept des Zueinander von Primat und Synodalität bleibt ohne große Relevanz, solange es in der jeweiligen Kirche kaum Zeichen dafür gibt, dass dieser Dialogprozess zu einer Selbstreflektion bzw. zu einem Lerneffekt im binnenkirchlichen Bereich führt. Solange die zwei Ekklesiologien in ihrem Selbstdiskurs und in ihrer praktischen (auch kirchenrechtlichen) Umsetzung die Einsichten aus dem Dialog nicht in einen sensiblen Umdenkprozess übersetzen, bleibt der Dialog ein Unternehmen mit eschatologischen Chancen.
Das Studiendokument des Dikasteriums zur Förderung der Einheit der Christen mit dem Titel "Der Bischof von Rom", das am orthodoxen Himmelfahrtstag 2024 öffentlich präsentiert wurde, packt gerade diese Herausforderung an und leitet damit womöglich ein Umdenken im ermüdeten ökumenischen Dialog ein. An sich ist es das Ergebnis von drei Jahren Arbeit, die wiederum jahrzehntelange Dialogarbeit resümiert. Es ist kein revolutionäres Dokument, sondern eine Synthese all der relevanten offiziellen und inoffiziellen Dialoge mit römisch-katholischer Beteiligung, die das Thema des Papstprimates behandelt haben. Doch hinter der Demut, die der Text offenbart, indem er in konzentrischen Kreisen die Ergebnisse dieser ökumenischen Bemühungen synthetisch ordnet, strukturiert und auf den Punkt bringt, liegt mehr: der Mut, einige Vorschläge für eine neue Art der Ausübung des Primats des Papstes im 21. Jahrhundert zu machen.
Die Methode ist neu: Der Text pocht nicht auf die üblichen lehramtlichen Zitate, sondern führt die vielen Puzzleteile aus den verschiedenen Dialogkontexten zu einem Gesamtbild zusammen. Dass diese vielen Dialogtexte kaum rezipiert worden waren, wussten wir. Dass die verschiedenen Dialogkommissionen sich kaum gegenseitig inspirierten und rezipierten, war auch bekannt. Dass die inoffiziellen und regionalen Dialoge oft ertragreicher oder visionärer waren, ist ebenfalls kein Geheimnis. Aber: dass das Gesamtbild der vielen einzelnen Puzzleteile doch viel mehr ist als ein heterogenes Sammelsurium – diese wertvolle Einsicht verdanken wir diesem Studiendokument. Der Text verwendet als Quellen fast ausschließlich diese Dialogergebnisse (von der Methode ist das in dieser Stringenz neu) und bietet damit eine neue Basis, die ernst genommen werden muss. Es geht um die Selbstverpflichtung, aus dem bisher gemeinsam Erreichten zu lernen.
Das Besondere dabei: die harten Brocken (zum Beispiel: Erstes Vatikanum) werden nicht mehr nach dem alten hermeneutischen Muster (das Erste Vatikanum soll durch die Brille des Zweiten Vatikanums gelesen werden) einfach gerechtfertigt, sondern es werden Vorschläge zu einer Neuinterpretation, ja sogar zu einer "Reformulierung" dieser Papstdogmen ("rewording of the teachings of Vatican I") gemacht. Das hören Orthodoxe und nicht nur diese gerne. Ob das irgendwann kommen wird, muss sich erst zeigen. Aber die Blockade ist damit etwas aufgeweicht. Diese bestand und besteht darin, dass diese Papstdogmen für die Römisch-Katholische Kirche eben Dogmen sind und für die Orthodoxen – bei aller historischen Kontextualisierung – ein "no go".
Flexible Ekklesiologie?
Eine weitere wichtige Einsicht des Dokuments ist, dass der Dialog über diesen Stolperstein der Ökumene (die Rolle des Primates des Bischofs von Rom) am besten in einer multilateralen ökumenischen Bemühung zu lösen wäre. Fast hat man beim Lesen der verschiedenen Ergebnisse den Eindruck, dass eine innerwestliche Verständigung leichter fallen würde und auf dieser neuen Basis in einem zweiten Schritt auch die ost-westliche Heilung tragfähiger sein könnte. Auf jeden Fall ist es ab diesem Dokument klar, dass die offiziellen Dialoge sich viel stärker gegenseitig rezipieren sollten – um komplementäre Synergieeffekte zu ermöglichen. Das ist auch eines der Ziele des Textes und dieses wird erfolgreich erreicht.
Auch wenn nicht revolutionär an sich, so ist das Studiendokument und umso mehr der Begleittext des Einheitsdikasteriums mit den Vorschlägen zu einer Primatsausübung im 21. Jahrhundert zukunftsweisend und hat deshalb das Potenzial eines Durchbruchs.
Auch wenn nicht revolutionär an sich, so ist das Studiendokument und umso mehr der Begleittext des Einheitsdikasteriums mit den Vorschlägen zu einer Primatsausübung im 21. Jahrhundert zukunftsweisend und hat deshalb das Potenzial eines Durchbruchs. Erstens, weil beide Texte keine fertigen Modelle unterbreiten, sondern Perspektiven beschreiben, die sicherlich für den weiteren Dialog förderlich sein werden. Zweitens, weil sie sich für terminologische Klarstellungen und für weitere Unterscheidungen (wie zwischen Wesen des Primats und historischer Kontingenz) starkmachen, die eine Menge Missverständnisse ausräumen könnten. Drittens, weil sie vorsichtig den theologischen Schwerpunkt auf "die aktuellen Beziehungen" der Kirchen und nicht "auf ihre Lehrunterschiede der Vergangenheit" (§ 10, Towards an exercise of primacy in the 21st Century) setzen. Damit gewinnt die Ekklesiologie eine gewisse Flexibilität und Weite – (nicht nur) für die Orthodoxen ein wichtiger Anstoß. Viertens, weil in den konkreten Vorschlägen in erster Linie Elemente thematisiert werden, die Rom ohne Zutun der anderen Kirchen "ausprobieren" kann (Bischofssynode als deliberatives Organ, mit dem Papst gemeinsam). Fünftens (die Aufzählung könnte noch weitergehen), weil die Kriterien zum Papstverständnis im 1. Jahrtausend – die als "Referenzpunkte und Inspirationsquellen" erkannt werden – dem orthodoxen Verständnis dieser altkirchlichen Primatspraxis entsprechen.
Beide Texte zeigen eine große Sensibilität – zumindest was den orthodoxen Standpunkt betrifft –, vom Anderen grundsätzlich nicht mehr zu fordern, als es in seiner Tradition ansatzweise schon präsent ist oder war. Damit gewinnt die berühmte Aussage Ratzingers, die im Studiendokument auch zitiert wird ("man müsse vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt worden sei"), neue Brisanz.
Natürlich bleiben viele Fragen offen. Natürlich kann und soll auch Kritik diesen Text begleiten. Gerade die Unterscheidung von mehreren "Verantwortungen" des Bischofs von Rom ist nicht nur Teil der Lösung, sondern auch Teil des Problems. Denn wie stehen "patriarchales Amt" und "primatiales Amt" des Papstes parallel zueinander? Kommt es nicht zu einer Überlappung oder gar Nebeneinander von ekklesiologisch und kirchenrechtlich schwer vereinbaren Denkweisen? Und wie soll die "personale" Dimension des päpstlichen Dienstamtes artikuliert werden? Das Dokument wirft viele weitere Fragen auf. Aber gerade, weil es sich um ein Studiendokument handelt, sind Fragen das Beste, das so ein Projekt weiterführen kann. Entscheidend ist, ob die Richtung stimmt. Die Verdienste des Dokuments mit kritischen Detailfragen herunterzuspielen, wäre deshalb fürs Erste kleinkariert.
Eine gute Basis für das Nizäa-Jahr 2025
Das Studiendokument ist die zusammengefasste Antwort auf eine Einladung (des Papstes Johannes Paul II. im Jahre 1995) und wirkt selbst als Einladung. Es ist eine ausgestreckte Hand nicht nur der Orthodoxen Kirche gegenüber, sondern aller christlichen Konfessionen, mit denen Rom im bilateralen Dialog steht. Eine ausgestreckte Hand, par cum pari, die nicht vom lehramtlichen Selbstdiskurs gefärbt ist (wie ähnliche ausgestreckte Hände bislang), sondern vom gemeinsamen Diskurs. Das ist ein markanter Unterschied. Deshalb wird es schwer, auf diese ausgestreckte Hand nicht mit der entsprechenden theologischen Offenheit zu reagieren. Der Text macht mich nicht euphorisch, aber zuversichtlich, denn es liegt darin die Chance eines Umdenkens, die nicht untergraben werden sollte.
Ein weiterer Verdienst des Dokuments ist es, dass es nicht nur eine Synthese der Dialogergebnisse anbietet, sondern unterschwellig auch eine Synthese des Ökumene-Verständnisses der drei letzten Päpste. Damit kann das Dokument innerkatholisch schwer von irgendeinem Lager vereinnahmt werden. Es zeigt einen Lernprozess, zu dem sich die römisch-katholische Kirche selbst verpflichtet hat. Natürlich ist das nur eine momentane Bilanz, ein Stationsbericht, ein reflektiver Zwischenschritt. Aber so etwas fordert auch die anderen Kirchen heraus, in den eigenen Höfen mit der Kehrarbeit weiterzumachen.
Letztendlich geht es nicht um den Primat an sich, sondern um die Glaubwürdigkeit der Christenheit im 21. Jahrhundert. Das Nizäa-Jahr 2025 wird eine Chance sein, synodale Zeichen dieser erneuerbaren, aber nicht selbstverständlichen Glaubwürdigkeit zu setzen. Irgendwann wird es sonst auch für solche Zeichen zu spät sein.