Religiöse Indifferenz als HerausforderungWarum Gott so vielen Menschen egal ist und was das für die Kirche bedeutet

Wie soll die Kirche darauf reagieren, dass immer mehr Menschen gar nicht mehr danach fragen, worauf das Evangelium antwortet? Dass sie keinen Phantomschmerz verspüren, wenn von Gott und Transzendenz geschwiegen wird?

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Die Dynamik moderner Gesellschaften bringt es mit sich, dass auch Kirche und Religion rapiden Wandlungen unterliegen. Um die Deutung dieser Transformationsprozesse wird schon länger gerungen. Mehrere Modelle stehen im Raum.

Die Säkularisierungsthese der Sechziger- und Siebzigerjahre ging davon aus, dass mit dem Fortschritt von Wissenschaft und Technik die Religion in modernen Gesellschaften zurückgehe. Dieser Subtraktionserzählung wurde in den Achtziger- und Neunzigerjahren entgegengehalten, dass nicht von einem Verschwinden, sondern von einem Gestaltwandel von Religion gesprochen werden müsse.

Die Individualisierungsthese macht geltend, dass die Erosion der kirchlichen Institution mit dem Aufblühen privatisierter Formen von Religion einhergehen kann, die jenseits der Kirchen oft unsichtbar ihren Ausdruck findet.

Auch die Pluralisierungsthese hebt darauf ab, dass es in modernen Gesellschaften eine Vielfalt von Weltbildern und Lebensformen gibt, die sich abseits der verfassten Religionsgemeinschaften artikulieren und zu einer "Verbuntung" (Paul M. Zulehner) der religiösen Landschaft beitragen. Im Hintergrund steht die Annahme, dass bei allem gesellschaftlichen Wandel Religion ein konstanter Faktor bleibe.

Die Modelle, die von einem Gestaltwandel von Religion im Sinne der Individualisierung oder Pluralisierung ausgehen, verfangen nach neueren Erkenntnissen für die Bundesrepublik Deutschland kaum, da nur 2,5 Prozent der Befragten zwischen verschiedenen Konfessionen gewechselt sind, aber 25 Prozent ihre Religionsgemeinschaft definitiv verlassen haben und nun konfessionslos geworden sind.

Diese Annahme ist durch die jüngste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU 6) erschüttert worden: "Kirchliches Handeln kann auf der Basis empirischer Daten nicht mehr davon ausgehen, dass Religiosität eine anthropologische Konstante ist, die nicht zurückgehen könne" (KMU 6, 37). Die Modelle, die von einem Gestaltwandel von Religion im Sinne der Individualisierung oder Pluralisierung ausgehen, verfangen nach neueren Erkenntnissen für die Bundesrepublik Deutschland kaum, da nur 2,5 Prozent der Befragten zwischen verschiedenen Konfessionen gewechselt sind, aber 25 Prozent ihre Religionsgemeinschaft definitiv verlassen haben und nun konfessionslos geworden sind (KMU 6, 42). Der Zuwachs an Säkularen aber ist eine Herausforderung. Mehr als die Hälfte der Deutschen sind inzwischen weder katholisch noch evangelisch – Tendenz steigend.

Jan Loffeld, Praktischer Theologe in Tilburg und Utrecht, geht in seinem lesenswerten Buch "Wenn nichts fehlt, wo Gott fehlt" von der These aus, dass "vielfältige und in sich sehr komplexe Indifferenz- und Säkularisierungsphänomene eine der größten Herausforderungen für das Christentum des 21. Jahrhunderts" sind. Die Ursachen für die anhaltende Säkularisierung sind vielfältig. Der gewachsene Wohlstand und die gestiegene Sicherheit machen Religion als Kontingenzbewältigungspraxis zunehmend überflüssig. Auch hat Religion in funktional ausdifferenzierten Gesellschaften kein Deutungsmonopol mehr, sie ist ein Subsystem neben Politik, Wirtschaft, Kultur oder Bildung. Die fortschreitende Individualisierung der Lebensstile und die Mobilisierung der Berufsanforderungsprofile lockern geschichtlich gewachsene religiöse Bindungen und setzen dem Zusammenhalt der Religionsgemeinschaften zu. Naturwissenschaftliche Theorien und historische Aufklärung fördern überdies ein Weltverstehen, das ohne die Hypothese Gott auskommt. Schließlich haben Globalisierung und Migration den religiösen Pluralismus in der Gesellschaft ansteigen lassen. Andere denken und glauben anders als man selbst, das kann verunsichern – oder in geschlossene Milieus hineintreiben. Die säkulare Option ist jedenfalls weithin Realität geworden. In Deutschland kommen anhaltende Negativschlagzeilen über sexuellen Missbrauch und die systematische Vertuschung der Delikte durch die Kirchenleitung dazu. Karl Gabriel hat soeben auf diesen "Triggerpunkt" der Entwicklung noch einmal hingewiesen und ein Fragezeichen gegenüber der Diagnose eines "säkularisierenden Driftens" (KMU 6, 27) angebracht. Wenn nicht alles täuscht, scheint dieser Triggerpunkt aber bereits nachzulassen, denn die Aufarbeitung des Missbrauchs wird inzwischen mehr oder weniger effizient vorangetrieben. Die Schübe der Säkularisierung aber bleiben. 

Optimierung wird den Wandel nicht aufhalten

Wie aber soll man auf die Herausforderung wachsender religiöser Indifferenz reagieren? Jan Loffeld unterscheidet in seinem Buch zwei Möglichkeiten. Die eine nennt er das Optimierungsparadigma. Die Krise der Kirche wird als Institutionenkrise beschrieben – und die Antwort liegt in Strukturreformen. Die Notwendigkeit, dysfunktionale Strukturen zu überwinden, wird gerade im Nachgang zum Missbrauchsskandal niemand bestreiten, aber dass hier allein der Königsweg für Reformen liegen soll, ist doch fraglich. Eine andere Version des Optimierungsparadigmas ist mit Initiativen der Bekehrung und Neuevangelisierung verbunden. Eine Rückbesinnung auf die geistlichen Ressourcen von Bibel und Liturgie soll dem Christentum neue Vitalität bescheren. Loffeld bezweifelt, dass beide Varianten des Optimierungsparadigmas den gesellschaftlichen Kontext, in dem sie stehen, hinlänglich wahrnehmen. Er warnt mit guten Gründen vor überzogenem Optimierungserwartungen, die oft in Enttäuschungen führen, da sie die gewünschten Ergebnisse nicht bringen. Eine Bereinigung dysfunktionaler Strukturen wird die anhaltende Säkularisierung ebenso wenig aufhalten können wie vermehrte pastorale Anstrengungen.

Eine Weitung des Horizontes nimmt daher das Transformationsparadigma vor, das über die Binnenwahrnehmung von Kirche hinaus soziologische Außen-Faktoren berücksichtigt. Und hier zeigt sich, dass nicht nur kirchlich gebundene Glaubenspraktiken, sondern auch frei flottierende, individuelle Formen von Religion signifikant zurückgehen. Um diese Wiederkehr der Säkularisierung zu wissen, kann entlasten. Denn auch wo gute kirchliche Arbeit geleistet wird, bleibt der Erfolg oft aus. Das liegt nicht an mangelndem Engagement, sondern an gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Der Glaube ist im Zeitalter der säkularen Option eine Möglichkeit unter anderen, die begründungspflichtig ist.

Erfahrungen der Selbsttranszendierung, die man in der Natur, in der Meditation oder eben auch im Medium der Kunst machen kann, reißen vielleicht den Horizont der Immanenz auf, zielen aber nicht automatisch auf das, was im christlichen Sinn "Gott" genannt wird.

Diese anhaltende Transformation des religiösen Feldes wird von Loffeld im Anschluss an Charles Taylor, Hans Joas, Tomas Halík, Detlef Polack und andere instruktiv beleuchtet. Die Stichworte lauten "Apatheismus" als eine neue Form der Gleichgültigkeit gegenüber der Gottesfrage, "Etwasismus" als neue Form des Verblassens personaler Gottesvorstellungen. Man glaubt nicht an "jemanden", sondern an "etwas", den Kosmos oder eine höhere Macht. Noch weiter gehen die "Nones", die nicht mehr wissen, an was sie glauben sollen. Gewiss kann man einwenden: Aber Spiritualität boomt doch, Meditationskurse haben Zulauf, nur die Kirchen profitieren nicht davon. Aber mit einem weiten Spiritualitätsbegriff verschleiert man sich das Faktum, dass das, was jeweils als spirituell bezeichnet wird, individuell ganz unterschiedlich gefüllt wird. Erfahrungen der Selbsttranszendierung, die man in der Natur, in der Meditation oder eben auch im Medium der Kunst machen kann, reißen vielleicht den Horizont der Immanenz auf, zielen aber nicht automatisch auf das, was im christlichen Sinn "Gott" genannt wird.

Auch die Alternativen verdunsten

Wie aber soll Kirche darauf reagieren, dass immer mehr Menschen gar nicht mehr danach fragen, worauf das Evangelium antwortet? Dass sie keinen Phantomschmerz verspüren, wenn von Gott und Transzendenz geschwiegen wird? Was bedeutet es für die Weitergabe des Glaubens, dass "Leben in Fülle" für viele auch ohne Gott zu funktionieren scheint? Dass nichts zu fehlen scheint, wenn Gott fehlt? Auch alternative Formen von Religion verdunsten, sodass von einer sich ausbreitenden "religionsfreundlichen Gottlosigkeit" (Johann Baptist Metz) längst keine Rede mehr sein kann. "Das Milieu der Alternativen schrumpft mit hoher Geschwindigkeit. Es ist instabiler als das Milieu der Kirchlich-Religiösen und hat inzwischen den Großteil seines früheren Bestands an die Säkularen abgegeben" (KMU 6, 26). Das stellt Diagnosen einer "Wiederkehr der Götter" (Friedrich Wilhelm Graf) infrage. "Der Bevölkerungsanteil der Kirchlich-Religiösen schrumpft, indem ein Abfluss an die Religiös-Distanzierten stattfindet. Von den Religiös-Distanzierten geht ein noch größerer Strom an die Säkularen weiter, wo mittlerweile die Bevölkerungsmehrheit angekommen ist" (KMU 6, 25).

Kirche und akademische Theologie sollten diese Daten für eine realitätsgerechte Selbstvergewisserung nutzen. Jan Loffeld wirbt für eine lernbereite dialogische Haltung. Man könnte auf dieser Linie sagen, dass Theologie und Kirche verstärkt eine "säkulare Musikalität" ausbilden müssen, wenn sie religiös indifferente Zeitgenossen erreichen wollen, und zugleich bewährte Glaubenspraktiken wie das Lesen in der Schrift, das Gebet, die Teilnahme an der Liturgie pflegen sollten. Weder ein bockiger Traditionalismus, der sich in regressiver Absetzung zur säkularen Welt als alleinseligmachende Alternative präsentiert, noch eine chamäleonartige Anpassungsbeflissenheit, die im Namen der Anschlussfähigkeit das eigene Profil abschleift, sind angemessene Antworten auf die Verschiebungen des religiösen Feldes.

Um die orientierende und humanisierende Kraft des Glaubens in einer zunehmend säkularen Gesellschaft zur Geltung zu bringen, braucht es neben kreativen Formen der Traditionsvermittlung Laboratorien, in denen eingeübt werden kann, das Eigene in der Sprache der anderen zum Ausdruck zu bringen und die Perspektive des anderen einzunehmen, ohne das Eigene einzuklammern oder gar preiszugeben. Jan Loffeld empfiehlt hier, in seelsorglichen Situationen die narrative Kompetenz zu stärken und persönliche Glaubenserfahrungen in Form von Erzählungen ins Gespräch zu bringen.

Unter den Säkularen nimmt der Anteil derer zu, die Religion als etwas kulturell Fremdes betrachten oder ihr sogar feindlich gegenüberstehen. Akademische Theologie muss sich dieser unbequemen Diskurskonstellation stellen und gegensteuern, indem sie zeigt, dass sie auf der Höhe der wissenschaftlichen Standards kohärent und konsistent argumentieren kann.

Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass unter den Säkularen der Anteil derer zunimmt, die Religion als etwas kulturell Fremdes betrachten oder ihr sogar feindlich gegenüberstehen. "Indifferenz transformiert sich aktuell häufig in Religionsfeindlichkeit", bringt Loffeld diese Entwicklung auf den Punkt. Das ist eine Veränderung, die im Binnenraum von Theologie und Kirche noch zu wenig registriert wird. Akademische Theologie muss sich dieser unbequemen Diskurskonstellation stellen und gegensteuern, indem sie zeigt, dass sie auf der Höhe der wissenschaftlichen Standards kohärent und konsistent argumentieren kann. Besonders der in der Theologie eher vernachlässigte Dialog zwischen Schöpfungsglauben und Naturwissenschaft, Evolutionstheorie und Kosmologie dürfte hier an Relevanz zunehmen.

Im Blick auf die "Gottesbilder" ist schließlich selbst bei Kirchlich-Religiösen zu beobachten, dass die inhaltliche Kontur des Glaubens verblasst, nur ein Drittel der befragten Kirchenmitglieder glauben, "dass Gott sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat" (KMU 6, 33) – eine ernüchternde Diagnose. Die Aussage: "Heiliges wird nicht erwartet, die Nachfrage nach Religion ist gering. Ein religiöser Fokus kann zudem zu einer Distanzierung der Mehrheit der säkularen und distanzierten Kirchenmitglieder führen, weil sie an solche Ausdrucksformen schwer anschließen können" (KMU 6, 66), scheint allerdings fragwürdig. Ein Christentum, das von Christus schweigen würde, um bei den Zeitgenossen besser anzukommen, würde das Eigene preisgeben und sehr leicht zur Dublette ohnehin vorhandener Trends werden. Ein "Christentum ohne Christus" könnte vielmehr ein Anstoß sein, die Katechesemüdigkeit weiter Teile der praktischen Theologie zu hinterfragen. Jan Loffeld spielt am Ende seines Buches die oft vernachlässigte Dimension des Karsamstags ein, also den Tag der Leere an der Schwelle zu Ostern. Eine Spiritualität des Karsamstags lehrt einen illusionslosen Blick auf die Wirklichkeit und hilft, die Abschiede von liebgewordenen Traditionen anzunehmen. Zugleich macht eine solche Spiritualität hellhörig für österliche Neuaufbrüche, die es auch heute gibt. 

Lichtblicke

Im scheinbar undurchdringlichen Nebel der Säkularität gibt es vereinzelte Lichtblicke, die neu und anders auf Gott verweisen. Der irische Philosoph Richard Kearney spricht hier von Formen eines "Ana-Theismus" – also einer Art Wiederkehr Gottes. Könnte es sein, dass es erste Anzeichen dafür gibt, dass die Talsohle der Säkularität bereits durchschritten ist? Die Zunahme an Erwachsenentaufen – vor allem in Frankreich – könnte das nahelegen. Eine flächendeckende Trend-Umkehr aber ist vorerst nicht in Sicht. Daher dürfte es ein guter Rat an die Kirche als kreativer Minderheit sein, die bewährten Praktiken des Glaubens weiter zu pflegen und der vielfältigen Präsenz des kenotischen Gottes aufmerksam auf der Spur zu bleiben. Für das wache zeitdiagnostische Sensorium von Jan Loffeld spricht, dass er neuerdings religiös nachdenkliche Intellektuelle und "katholische Flaneure" (Andreas Main) sichtet, die neu nach dem Sinnkosmos des Glaubens fragen. Für eine Kirche im Zeitalter der säkularen Option dürften solche Stimmen nicht die schlechtesten Bundesgenossen sein.

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