Für einen Christen haben sein Glaube an Gott und seine Moral etwas miteinander zu tun. Kaum umstritten dürfte sein, dies am Inhalt der Moral festzumachen: Über die natürliche Minimalmoral hinaus, die der Christ mit allen Menschen guten Willens teilt, kennt er bestimmte hochethische Weisungen, wie etwa das Gebot der Feindesliebe, oder bestimmte Vollkommenheitsideale, wie etwa ein bestimmtes Armutsideal.
Kontrovers dagegen ist die Annahme, dass der Zusammenhang zwischen Gott und Moral auch die Begründung der Moral betrifft und überhaupt die Frage, wie wir die Moral verstehen sollen. In unseren Breiten ist es, wie Bernard Williams schon vor Jahren schrieb, fast schon zu einem philosophischen Gemeinplatz geworden, "dass sich für einen klar denkenden und redlichen Menschen durch die Existenz Gottes an seiner Moral nichts ändern würde."
Dagegen steht allerdings der klare Befund des Glaubens, dass Gott sich nicht als ein selbstzentrierter Betrachter, sondern eben als ein wollender und handelnder Gott offenbart hat und auch als solcher zu denken ist: Ein allmächtiger, allwissender und allgütiger Gott, der Himmel und Erde erschaffen hat und erhält, der die Schöpfung in seiner Weisheit ordnet und durch seine Vorsehung lenkt, der seinen Willen durch sein Gesetz und in seinem Sohn auf vielfache Weise kundgetan hat – ein solcher, aus seinem wesentlichen Gutsein heraus handelnder Gott kann die Grundlagen der menschlichen Moral nicht unberührt lassen. Die Frage ist nur: Was genau ändert sich am Verständnis der Moral, wenn man an Gott glaubt? Wie sollte man als Christ über die Moral und ihre Grundlagen denken?
Es ist sinnvoll, zwei Ebenen der Begründung zu unterscheiden: Auf einer ersten Ebene stellt sich die Frage, was genau Handlungen oder Normen zu moralisch richtigen oder falschen macht. Eine normative Ethik, die davon ausgeht, dass hierauf eine objektive und universale Antwort möglich ist, benennt in Form eines Prinzips eine ganz bestimmte Eigenschaft, die eine Handlung oder Norm besitzen muss, um moralisch richtig zu sein. Ein Kantianer etwa würde sagen, dass eine Handlung genau dann moralisch richtig ist, wenn sie in einer Maxime beschlossen wird, die die Form eines Gesetzes hat (was durch den Universalisierungstest erkannt wird). Ein Regelutilitarist würde sagen, dass eine Norm genau dann moralisch richtig ist, wenn deren Befolgung den Nutzen für die Gesellschaft maximiert.
Warum soll man das, was man als moralisch erkannt hat, auch tun?
Auf einer zweiten Ebene ist die Frage angesiedelt, warum es überhaupt vernünftig ist, dem als moralisch richtig Erkannten Folge zu leisten. Das moralische Handeln versteht sich für endliche Vernunftwesen, die unter der Bürde der Erbsünde stehen, gerade nicht von selbst: Dies zeigt sich in Situationen moralischer Anfechtung, wo eine mit ziemlicher Sicherheit unbemerkt bleibende moralisch falsche Handlung von großem Vorteil für mich ist (und sich der Amoralist in mir meldet: "Tu’s doch! Es wird niemand merken und es ist Dir nur zum Vorteil", "Regeln sind nur etwas für die Dummen", "Anstand lohnt sich nicht"), oder dort, wo die moralisch richtige Handlung massiv dem Eigeninteresse in die Quere kommt und das eigene Glück gravierend beeinträchtigt, wobei man, wie im Fall des gekreuzigten Gerechten, vielleicht noch unter dem Schein des Ungerechten steht.
Kann mir die Moral auch in solchen Situationen einen kategorischen – das heißt unabhängig von subjektiven Einstellungen (Wünschen, Interessen) motivierenden – Grund liefern, das Ungerechte zu unterlassen beziehungsweise das Gerechte zu tun?
Ohne eine ethische Letztbegründung hängt über der Moral das Damoklesschwert des moralischen Skeptizismus: Demnach stünde hinter der Fassade unbedingt formulierter Normen keine eigene moralische Realität, sondern nichts anderes als knallharte egozentrische Interessen.
Diese Frage erfordert so etwas wie eine ethische Letztbegründung: Ist die Moral, wenn alle sekundären Anreize wegfallen und moralisches Handeln in welcher Richtung auch immer wehtut, tatsächlich eine Kraft sui generis?
Die Antwort auf diese Frage hängt aufs Engste damit zusammen, wie wir überhaupt die Moral verstehen, für wie substanziell wir sie halten. In aller Klarheit hat dies Platon in seiner Politeia gesehen: Hat die Moral eine eigene Substanz oder zehrt sie bloß von sozial eingespielten Sanktionsmechanismen (vgl. 367d)? Platons letzte Antwort auf die Frage, warum es gut ist, gerecht zu sein, auch dann, wenn menschliche wie auch göttliche Sanktionen ausbleiben, fällt mit der Idee des Guten metaphysisch höchst anspruchsvoll aus. Weniger anspruchsvoll geht es wahrscheinlich nicht.
Ohne eine ethische Letztbegründung hängt über der Moral das Damoklesschwert des moralischen Skeptizismus: Demnach stünde hinter der Fassade unbedingt formulierter Normen keine eigene moralische Realität, sondern nichts anderes als knallharte egozentrische Interessen.
So ist für Platons Kallikles die Moral nichts anderes als eine Vereinbarung der vielen Schwachen, um die wenigen Starken in Zaum zu halten. Wie später bei Nietzsche soll der sich göttlich gebende Nomos durch eine "Genealogie der Moral" entzaubert und durch eine "neue Moral" ersetzt werden, in der die "Natur" (verstanden als Naturwüchsigkeit) wieder in ihr angeblich ursprüngliches Recht eingesetzt wird.
Natürlich gibt es auch weniger krude reduktive Deutungen der Moral: So könnte man die Moral als ein auf den wohlverstandenen Interessen beruhenden sozialen Sanktionsmechanismus verstehen, in dem es letztlich nur darauf ankäme, gerecht zu scheinen, um die Prämien für den Gerechten zu erlangen oder den Strafen für den Ungerechten zu entgehen. In bestimmten Situationen wäre es allerdings klug, die Moral zu ignorieren (vgl. Humes "sensible knave").
Dahinter steht die Auffassung, dass die Gerechtigkeit nichts ist, was aufgrund ihrer selbst erstrebenswert ist, sondern höchstens ein "second best" (Bernard Williams) darstellt. Angesichts solcher mehr oder weniger reduktiven Deutungen der Moral kann die Aufgabe der Ethik nicht nur in der Normenbegründung liegen, sondern muss auch die Widerlegung oder zumindest Entkräftung des moralischen Skeptizismus umfassen. Letzteres ist ohne eine plausible Deutung der Realität der Moral nicht zu haben.
Welche Antwort hat die christliche Ethik auf die Frage, wie es hinter den Kulissen der Moral aussieht? Was wäre die aus dem christlichen Glaubensverständnis zu gewinnende und in den philosophischen Diskurs einzubringende Antwort auf die Frage, worin die Objektivität und Kategorizität der menschlichen Moral letztlich fundiert ist?
Verbergen sich hinter der christlichen Moral klerikale Machtinteressen?
Genau hier liegt meiner Auffassung nach der wunde Punkt in der gegenwärtigen Debatte um die christliche Moral, sowohl in der akademischen als auch in der kirchlichen Öffentlichkeit. Diskutiert wird vor allem darüber, welche Normen und Weisungen die christliche Moral beinhaltet oder beinhalten soll und wie diese zu begründen sind.
Wenn das authentische Lehramt bestimmte moralische Normen definiert, dann nicht im Sinne einer Selbstermächtigung, sondern im Sinne eines Hüters und Auslegers einer empfangenen Wahrheit.
Aus der Art und Weise, wie manche Akteure etwa über die kirchliche Sexualmoral sprechen und schreiben, könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich hinter der Fassade der offiziellen christlichen Moral nichts Anderes verbirgt als die Machtinteressen einer kleinen klerikalistischen Sondergruppe mit einer bestimmten (angemaßten) Definitionsmacht. An deren Stelle seien nun endlich die vermeintlich wahren Interessen aller Menschen zu setzen und die entsprechenden Normen zu revidieren (oder: "weiterzuentwickeln"), damit die Moral endlich dem Menschen dient.
Die Moral ist aber nach christlichem Glaubensverständnis weder ein Artefakt des Lehramts noch einer bestimmten, vermeintlich besser informierten Gruppe des Gottesvolks, sondern gehört zur Substanz des überlieferten Glaubensguts: "fides et mores", so die seit dem Tridentinum gebräuchliche Formel (hierzu jüngst: Anselm W. Müller, Kirchliche Lehre und natürliche Vernunft in Sachen Sex, in: ZTP 145 (2023) 587).
Wenn das authentische Lehramt bestimmte moralische Normen definiert, dann nicht im Sinne einer Selbstermächtigung, sondern im Sinne eines Hüters und Auslegers einer empfangenen Wahrheit. Insofern sich diese Wahrheit mit der natürlichen Moral überschneidet, ist das Lehramt auch eine moralische Institution für die Menschheit: "Der Papst spricht als Vertreter einer gläubigen Gemeinschaft, in welcher in den Jahrhunderten ihres Bestehens Weisheit des Lebens gereift ist; als Vertreter einer Gemeinschaft, die zumindest einen Schatz an moralischer Erkenntnis und Erfahrung in sich verwahrt, der für die ganze Menschheit von Bedeutung ist: Er spricht in diesem Sinn als Vertreter moralischer Vernunft" (Benedikt XVI., Nicht gehaltene Vorlesung für die römische Universität "La Sapienza").
Mitarbeiter an der Weltlenkung
Dass es sich bei der Moral in christlicher Sicht im Letzten um etwas Unverfügbares handelt, kommt in der klassischen Lehre vom "ewigen Gesetz" (lex aeterna) zum Ausdruck, an dem nach Thomas von Aquin das geoffenbarte göttliche Gesetz sowie das natürliche Sittengesetz in unterschiedlicher Weise teilhaben. Man schneidet sich den Weg zu diesem kognitiven Schatz des eigenen Glaubensverständnisses ab, wenn man, etwa aus Angst vor dem Vorwurf eines Offenbarungspositivismus oder aus einem voreilig gesuchten Anschluss an eine (wie auch immer verstandene) Autonomie, die dem Menschen zukommende besondere Teilhabe am ewigen Gesetz, in welcher das natürliche Sittengesetz besteht (STh I-II 91,2), lediglich als göttlich autorisierte Selbstbestimmung deutet.
Thomas wendet sich an mehreren Stellen gegen eine wörtliche Deutung von Röm 2,14: "Denn wenn Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz" – "ipsi sibi sunt lex": Das vernunftbegabte Geschöpf ist nur insofern sich selbst Gesetz, als es an der ordnenden Vernunft eines Regelnden teilhat (vgl. 90,3 ad1). Unter einem Gesetz zu stehen, heißt immer, der Regierung eines anderes unterstellt zu sein, "niemand legt daher, streng gesprochen, seinen eigenen Tätigkeiten ein Gesetz auf" (93,5).
Gott selbst ist der Promulgierende des natürlichen Sittengesetzes, indem er es dem Geist des Menschen als natürlich erkennbar eingesenkt hat, das heißt, indem er die Inhalte dieses Gesetzes zu solchen macht, die einem verständigen Menschen aus sich selbst heraus einleuchten.
Es greift deshalb zu kurz, das natürliche Sittengesetz als "aktive Teilhabe" am ewigen Gesetz zu interpretieren. Die Würde der natürlichen moralischen Vernunft besteht vielmehr darin, durch das eigene Handeln, das sich an den Prinzipien der rechten natürlichen Vernunft wie auch am geoffenbarten Gesetz orientiert, an der göttlichen Vorsehung mitzuwirken und so zu einem Mitarbeiter der göttlichen Weltlenkung zu werden. Gott selbst ist der Promulgierende des natürlichen Sittengesetzes, indem er es dem Geist des Menschen als natürlich erkennbar eingesenkt hat (90,4 ad1), das heißt, indem er die Inhalte dieses Gesetzes zu solchen macht, die einem verständigen Menschen aus sich selbst heraus einleuchten (94,2). Gott ist auch hier der Regelnde, während der Mensch in einer besonderen Weise der Geregelt-Regelnde ist. Das natürliche Sittengesetz ist nicht das dem Menschen eigene Gesetz, sondern Teilhabe am Gesetz Gottes.
Hier muss man weder einen supernaturalistischen Fehlschluss ("moralisch gut" = "von Gott befohlen") fürchten, noch in motivationaler Hinsicht die Reinheit der moralischen Gesinnung gefährdet sehen. Die Gebote des natürlichen Sittengesetzes leuchten jedem verständigen und nachdenklichen Menschen (mit Rawls gesprochen: jedem "kompetenten Moralbeurteiler") aus sich selbst heraus ein; die Erkenntnis, wozu ich moralisch verpflichtet bin, ist prinzipiell auch ohne die Kenntnis der Offenbarung möglich. Und der entsprechende Beweggrund ist im Idealfall das Gutsein der Tugend selbst: "Nicht immer gehorcht jemand dem Gesetz aus dem vollendeten Gutsein, das der Tugend zugehört, sondern mitunter aus Furcht vor der Strafe, mitunter auch aufgrund bloßer Weisung der Vernunft" (92,1 ad2).
In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zu einem modernen säkularen Moralverständnis. Aber der Blick hinter die Kulissen zeigt dem Christen, dass diese Moral nicht in irgendwelchen Interessen, nicht in irgendwelchen Werten oder platonischen Entitäten, sondern letztlich im liebenden und ordnenden Willen Gottes fundiert ist, an dessen Ausführung mitzuwirken der Mensch durch sein moralisches Handeln eingeladen ist. Genau diese Fundierung lässt den Handelnden auch mit moralischen Anfechtungen umgehen: Nicht, indem Gott als Ersatz-Motivationsgrund einspringt, sondern so, dass der Handelnde die im Gewissen vernommene und geprüfte Handlungsweise für die von Gott vorgesehene halten kann, der letztlich alles zum vollkommen Guten hin lenkt.
Wer den durch sein Gewissen vermittelten Sollensanspruch der Moral vor dem Hintergrund des liebenden und ordnenden Vorsehungshandelns denkt, maßt sich nicht die Rolle eines moralischen Konstrukteurs oder Weltverbessers an, sondern sieht sich selbst als Interpreten und Mitwirkenden, der mit Wohlwollen und Respekt auf die Moral schaut und sie besser verstehen, nicht aber untergraben will. Nicht einer inhaltsleeren, von Metaphysik einerseits und geschaffener Natur andererseits abgekoppelten Autonomie, die von sich aus Grenzen zieht, gebührt aus christlicher Sicht die höchste Ehre, sondern Gott, dessen Willen wir nachdenklich und bescheiden in Liebe zu seinem Gesetz suchen.