Die katholische Kirche und mit ihr die katholische Theologie befinden sich in einer tiefen Krise: Sowohl in den Kirchen als auch in den Hörsälen der theologischen Fakultäten herrscht vielfach gähnende Leere; die Kirchengemeinden verkleinern sich Hand in Hand mit der theologischen Studentenschaft – und ich wage kaum, diese Entwicklungen zehn Jahre in die Zukunft weiterzudenken. Zu gesellschaftlichen Debatten steuert die katholische Kirche kaum mehr als säkularethische Gemeinplätze bei. Und die Forschungsergebnisse der Theologie werden außerhalb der Disziplin so gut wie gar nicht akademisch rezipiert. Die Theologie erweckt bisweilen den Eindruck, sie hätte überhaupt kein Proprium mehr und müsse, um zu überleben, bei den Erkenntnissen der Natur- und Geisteswissenschaften andocken. Denen scheint es jedoch herzlich egal zu sein, was die Theologie im universitären Diskurs beizutragen hat.
Nun sind einerseits die zunehmend ans Licht kommenden und kaum zu begreifenden Missbrauchsfälle innerhalb der Kirche sowie die schleppende Aufklärung dieser Gräueltaten ein wesentlicher Faktor des Niedergangs von Kirche und Theologie in den letzten Jahren, andererseits kommt dieser Brandbeschleuniger zu einem Schwelbrand hinzu, der zumindest im globalen Norden schon seit Jahrzehnten glimmt und das kirchliche wie theologische Leben gleichermaßen vernebelt. Dieser Schwelbrand, der sich durch die Substanz dessen zieht, was Kirche und Theologie dereinst für das Leben der Menschen attraktiv gemacht hat, ist nichts anderes als der Verlust der lebensweltlichen Relevanz christlichen Glaubens: Sei es, um einige Beispiele der obersten Ebene zu nennen, die hierarchische Verfassung der Kirche mit dem Papst an der Spitze, sei es die am Weihesakrament hängende ungleiche Behandlung von Frauen und Männern, sei es die heteronormative Sexualmoral – so vieles, was noch vor einigen Generationen prägend für das kirchliche Leben gewesen ist, wirkt für viele Menschen heute nicht nur seltsam aus der Zeit gefallen, sondern rundheraus anstoßerregend.
Bewahren oder reformieren? Das Problem liegt tiefer!
Während einige Katholiken dies zum Anlass nehmen, die Kirche reformieren zu wollen, um ihre Struktur und ihre Verkündigung den sogenannten Zeichen der Zeit anzupassen, betonen andere, dass es geradezu ihre knorrige Natur ist, die der Kirche im Laufe der Zeit ihre Widerstandsfähigkeit verliehen habe und ihr ihre noch verbleibende Attraktivität sichere. Sowohl den einen wie den anderen ist es unbestreitbar ein ernstes existentielles Anliegen – das zeigen alleine die hitzig geführten Debatten – das kirchliche Leben und mit ihr die Theologie an den Universitäten in die Zukunft zu retten.
Das Unbefriedigende an dieser Situation, in der sich die Progressiven und die Konservativen medienwirksam wie These und Antithese gegenüberstehen, scheint mir aber ein zweifaches zu sein: Einerseits ist es ein Streit, der auf beiden Seiten von einer elitären Minderheit auch im Namen derer geführt wird, die gar nicht daran beteiligt sind. Andererseits wird sich – egal wer sich am Ende in Rom durchsetzen wird – am Sturzflug von Kirche und Theologie wohl nichts ändern: Weder mehr Beteiligung der Laien, Frauenordination oder die Segnung homosexueller und polygamer Beziehungen noch ein Verharren im Althergebrachten werden den Niedergang von Kirche und Theologie aufhalten können.
Beide, Progressive wie Konservative, These wie Antithese, verkennen ein Problem, das auf einer tieferen Ebene anzusiedeln ist und diejenigen betrifft, die zwar noch katholisch sozialisiert wurden, denen aber mittlerweile weder daran gelegen ist, dass sich die Kirche reformiert, noch, dass sie es nicht tut: Dieser Gruppe, und sie ist keine kleine, ist es völlig egal geworden, wie es mit Kirche und Theologie weitergeht, weil sie die weltanschaulichen Grundpfeiler der kirchlichen Verkündigung nicht einmal mehr in Ansätzen als für ihr Leben bedeutsam wahrnimmt.
Wenn unter den weltanschaulichen Grundpfeilern der kirchlichen Verkündigung das verstanden wird, was der Sache nach immer darunter verstanden worden ist, nämlich die mit einem objektiven Anspruch auf Wahrheit formulierte kirchlich-theologische Lehre über die fundamentale Grundstruktur des Ganzen der Wirklichkeit, dann kann dieser Problembefund auch wie folgt formuliert werden: Die kirchliche Verkündigung hat aus Sicht vieler Menschen ihre metaphysische Überzeugungskraft verloren, beantwortet keine der großen Fragen nach dem Woher, Wohin und Warum des Lebens mehr in einer Art und Weise, die das Denken, Fühlen und Wollen der Menschen in kollektiver Nähe gleichermaßen anspricht.
Der Kirche ist, aus Sicht dieser Gruppe, die für jede Lebenspraxis notwendige metaphysische Basis weggebrochen: Gott als Schöpfer und Lenker der Welt, als ihr Ursprung und Ziel, die Möglichkeit göttlichen Handelns in der Welt, die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, die Möglichkeit einer substantiellen göttlichen Offenbarung, die Existenz objektiver moralischer Werte, die heilsgeschichtliche Relevanz der je eigenen Lebensführung – alle diese metaphysischen Grundpfeiler der kirchlichen Verkündigung werden von vielen Menschen entweder nicht länger für wahr gehalten oder gleich als objektiv falsch, wenn nicht als sinnlos erachtet, was zur Folge hat, dass sie der Kirche den Rücken kehren.
Nun könnte man vermuten, dass diese Entwicklung darin wurzelt, dass ein Großteil der Menschen eben erkannt hat, dass alles das falsch oder sinnlos ist, was die metaphysischen Grundpfeiler der kirchlich-theologischen Lehre über das Ganze der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihm zum Ausdruck bringen, oder dass er zumindest erkannt hat, dass wir kein metaphysisches Wissen über Woher, Wohin und Warum des Lebens erlangen können und daher über diese Dinge besser schweigen sollten.
Die metaphysische Apostasie in der Kirche
Aber diese Vermutung überzeugt nicht: Zum einen ist jede Weltanschauung metaphysisch, da eine jede von ihnen über unser Erfahrungswissen hinausgeht und die Welt im Lichte bestimmter metaphysischer Axiome und Erfahrungsrahmen präsentiert, zum anderen ist die Frage nach der Wahrheit der metaphysischen Vorbedingungen des kirchlichen Lebens – die Frage nach der Wahrheit der praeambula fidei – philosophisch keineswegs erledigt, sondern virulent wie eh und je.
Es kann niemanden verwundern, dass viele Menschen im kirchlichen Leben keine existentielle Relevanz mehr erblicken, weil sie den Graben zwischen den metaphysischen Verpflichtungen eines sinnvollen liturgischen Lebens einerseits und der theologischen Kassierung dieser Verpflichtungen andererseits nicht länger überbrücken können.
Der eigentliche Grund für die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende metaphysische Apostasie innerhalb der Kirche scheint mir vielmehr in der Theologie sowie ihrem seit Jahrzehnten gestörten Verhältnis zur Metaphysik zu liegen: Nicht nur werden gegenwärtige metaphysische Debatten, die der Sache nach unmittelbar relevant für die zeit- und vernunftgemäße Rechtfertigung der lebensweltlichen Relevanz der kirchlichen Grundpfeiler wären, von vielen Theologen gar nicht erst zur Kenntnis genommen, was ein jeder mit einem Blick in die Bibliographien theologischer Publikationen leicht sehen kann, darüber hinaus scheint man sogar in Eigenregie die metaphysischen Grundlagen des kirchlichen Lebens zu unterminieren:
Wenn Theologen dafür plädieren, man müsse die Welt sehen, als ob Gott nicht existierte; wenn sie argumentieren, über Wesen und Existenz Gottes als letzten Grund und Ursache der Existenz der Welt könne man vernunftbegründet nicht mehr sprechen; wenn Theologen Gott gleich jenseits des Seins verorten; wenn sie die Möglichkeit eines direkten Handeln Gottes in der Welt zurückweisen; wenn sie die Existenz einer immateriellen Seele leugnen, wenn sie überhaupt jede metaphysische Spekulation über die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode verweigern; wenn Theologen argumentieren, Offenbarung sei kein Glaubensgrund, sondern nur historisch-kontingente Deutungskategorie; wenn Kreuzigung, Tod und Auferstehung Jesu Christi als Lücken in der narrativen Identität verstanden werden; wenn die Existenz objektiver moralischer Werte zurückgewiesen wird; wenn Theologen alleine der Begriff einer ewigen Wahrheit als Widerspruch in sich erscheint; wenn sie stattdessen argumentieren, dass überhaupt jede Form von Wirklichkeitserkenntnis jenseits unserer Möglichkeiten liegt; wenn sie also den metaphysischen Gehalt der kirchlichen Grundpfeiler derart entkernen, dass am Ende nur eine leere Hülle übrig bleibt, – dann kann es doch niemanden verwundern, dass viele Menschen im kirchlichen Leben keine existentielle Relevanz mehr erblicken, weil sie den Graben zwischen den metaphysischen Verpflichtungen eines sinnvollen liturgischen Lebens einerseits und der theologischen Kassierung dieser Verpflichtungen andererseits nicht länger überbrücken können.
Nun wäre es verfehlt, davon auszugehen, dass es in der theologischen Forschung jemals eine Zeit großer Einigkeit gegeben hätte, in der nicht unterschiedliche Theorien über die Grundstruktur der Wirklichkeit und die Stellung des Menschen in ihr formuliert worden wären. Und keiner der genannten Ansätze steht ohne Gründe da, die für ihn ins Feld geführt werden könnten. Der Unterschied zu früheren Debatten besteht aber doch darin, dass katholische Theologie einst ganz unbestreitbar am Projekt einer natürlichen, also vernunftgemäßen, Theologie mitgewirkt hat, während dieses Projekt in der gegenwärtigen Theologie von den allermeisten als gescheitert betrachtet und somit die enge Verzahnung von Metaphysik und Theologie als ein Relikt der Vergangenheit verstanden wird, über das man heute nur noch staunen könne.
Das Christentum hat die besseren Argumente
Vor diesem Hintergrund ist es aus der Sicht der meisten Theologen zwar folgerichtig, wenn sie sich dezidiert „post-metaphysisch“, „nach-metaphysisch“ oder „anti-metaphysisch“ verstehen und versuchen, die metaphysischen Grundpfeiler des kirchlichen Lebens einer jeweiligen post-, nach- oder antimetaphysischen Relektüre zu unterziehen – um gewissermaßen zu retten, was aus ihrer Sicht zu retten ist – aber es entbehrt eben leider auch nicht einer gewissen Tragik, da die metaphysischen Grundpfeiler kirchlichen Lebens genau deswegen existentiell und lebensweltlich relevant sind, weil und solange sie metaphysische Grundpfeiler sind, weil und solange sie als vernunftgemäße Annahmen über das Ganze der Wirklichkeit und somit auch als vernunftgemäße Annahmen über das Ganze der Heilsgeschichte ausgewiesen werden. Der Verlust ihrer metaphysischen Bedeutung geht daher notwendigerweise einher mit dem Verlust ihrer existentiellen Bedeutung.
Die Lösung des Problems liegt glücklicherweise zum Greifen nahe: Wenn die Kirche für diejenigen (wieder) attraktiv sein möchte, die momentan nicht (mehr) die Bereitschaft mitbringen, sich überhaupt auf den Gedanken einzulassen, dass sich die metaphysischen Grundpfeiler des kirchlichen Lebens im Wettstreit aller Weltdeutungen nicht auf die hinteren Plätze verwiesen finden, dann sollte sie den metaphysischen Debatten der Gegenwart nicht länger den Rücken kehren, sondern mit ihrer Hilfe zeigen, dass diese metaphysischen Grundpfeiler im Vergleich zu anderen Weltanschauungen tatsächlich die besseren Argumente auf ihrer Seite haben und genau deswegen über lebensweltliche Relevanz verfügen.
Ich danke Holm Tetens für zahlreiche gemeinsame Diskussionen, in denen wir die oben genannten Aspekte erarbeitet haben.