Die selbstvergessene WendeWege aus der Kirchenblockade

Die Kirche kommt zu sich, wenn sie sich am Kreuz ausrichtet und wieder dem widmet, was ihr aufgetragen ist: der Mission.

Kreuz
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Es sieht so aus, als sei die Katholische Kirche in Deutschland in einem echten Dilemma gefangen. Zwei Lager stehen sich gegenüber, und zwar in maximaler Distanz. Habermas würde von einem "methodisch geübten Kannitverstan" sprechen. Die Lager sind so radikal im Denken, Handeln und Hoffen verschieden, dass sie nach menschlichem Ermessen im Leben nicht zusammenkommen.

Das eine Lager möchte das Selbstverständnis der Kirche neu begründen, indem es den Bruch mit einer "alten", autoritär-heteronomen Kirche fordert. Erneuerung sei nur möglich durch eine wirkliche Identifikation mit der Moderne und ihrer Emanzipationsgeschichte, einem Ja zur ganzen Freiheit und den Freiheitsrechten des selbstbestimmten Subjekts.

Das andere Lager verweist auf Gott, Schöpfung, Natur, Offenbarung, Schrift und Überlieferung – also auf vorauslaufende Orientierungen, deren Wahr-Nehmung Menschen erst zur Freiheit befreie. Die einen haben ihre eigenen Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten, an denen sich die Kirche orientieren müsse, die anderen verlangen nach basaler Ausrichtung an der Heiligen Schrift, nach Hören auf das Lehramt der Kirche, nach Loyalität mit dem Papst. Beide exkommunizieren den jeweils anderen, der sich ihren Optionen verweigert: Niemals werde ich mit dir gehen, was immer du tust.

In der katholischen Kirche muss man sich derzeit fragen, ob sich nicht in den dunkleren Seelenwinkeln der Protagonisten heimliche Auslöschungswünsche gegenüber der anderen Seite eingenistet haben: Einer muss sterben.

Natürlich ist das kein "echtes Dilemma", wie es die philosophische Logik beschreibt. Es handelt sich zum einen nicht um ein positives Dilemma (a führt zu c; b führt zu c; a oder b führen beide zu c). Mit anderen Worten: Es ist egal, welchem Lager du dich anschließt – beide Wege sind zielführend. Selbstverständlich gibt es keine Egalität voneinander ausschließenden Wahrheiten. Es handelt sich aber auch nicht um ein negatives Dilemma (a führt zu c; b führt zu d; aus nicht-c oder nicht-d folgt nicht-a). Ein negatives Dilemma lässt ausschließlich das Destruktive zu. Das klassische Beispiel: Zwei werden von der Schlange gebissen; aber nur ein Antidot ist vorhanden. Wen lassen wir sterben? In der katholischen Kirche muss man sich derzeit fragen, ob sich nicht in den dunkleren Seelenwinkeln der Protagonisten heimliche Auslöschungswünsche gegenüber der anderen Seite eingenistet haben: Einer muss sterben. Eine Religion der Liebe, die auf strategische Gewalt setzt, auf Siegerspiele hofft, auf Triumphe der Macht, das An-die-Wand-Spielen des Anderen?

Einigen wir uns in der gegenwärtigen Zerreißprobe auf einen anderen Terminus: Wir haben es mit einem praktischen Dilemma zu tun. Das mag nicht weniger schlimm sein. Ein solches Dilemma anerkennt immerhin, dass es Wege der Versöhnung wirklich gäbe - darin besteht ja die Essenz des Christlichen (2 Kor 5,19). Aber Versöhnung vermutet man nur in einem Entweder-Oder. Die Einigung auf A oder B aber erscheint in der Phase gegenwärtiger Totalblockade nicht möglich zu sein, ohne die Zerstörung von A oder B. Die Zerstörung des Anderen aber ist die Zerstörung des Ganzen – nicht nur in der Kirche.

Es gibt einen Ausweg

Nehmen wir das Fazit vorweg: Es gibt einen Ausweg aus dem Dilemma der Kirche. Wir, die wir "in unserer Schwachheit keine Ruhe" (2 Kor 7,5) finden, dürfen uns festmachen an zwei theologischen Punkten. Erstens: am Paradoxon des Kreuzes. Zweitens: an der Mission der Kirche. Das Kreuz steht für die weiße Flagge, die wir heben sollten, um unsere Schwachheit einzugestehen, zugleich für die "Kraft Christi" (2 Kor 12,9), in der es Lösungen gibt, ehe wir sie finden. Wie der Blick auf das "Kreuz", so befreit auch der Blick auf "Mission" die Kirche aus ihrem Gefangensein in ihrem gegenwärtigen Dilemma. Als Frère Roger 1989 den Karlspreis empfing, zitierte er Johannes XXIII.: "Wir werden der Geschichte keinen Prozess machen. Wir werden nicht danach suchen, wer recht und wer unrecht gehabt hat. Wir werden nur sagen: versöhnen wir uns."

Solange die Kirche über Kreuz ist, statt im Kreuz zueinanderzufinden, hat sie der Welt nichts zu sagen.

Die Kirche geht aus einem Punkt hervor, an dem alle Gegensätze bereits aufgehoben sind. Der Punkt ist das Kreuz, an dem Einer für alle gestorben ist, weswegen wir uns nicht gegenseitig zugrunde richten und auf ewig alte Rechnungen begleichen müssen. In einem Akt göttlicher Vergesslichkeit (2 Kor 5,19: "... indem er den Menschen ihre Verfehlungen nicht anrechnete") hat Gott die Welt mit sich versöhnt.

Solange die Kirche über Kreuz ist, statt im Kreuz zueinanderzufinden, hat sie der Welt nichts zu sagen. Niemand braucht sie. Ihre Existenzberechtigung besteht ja darin, dass ihr "das Wort von der Versöhnung zur Verkündigung" anvertraut wurde. Eine unversöhnte, nicht einmal mit sich selbst versöhnte Kirche ist eine Contradictio in adjecto. Ein Verstoß gegen das Widerspruchsprinzip. Ein öffentlicher Akt der Selbstauslöschung. In der gegenwärtigen Krise ist es ein eindrucksvolles Zeichen, wenn ein Bischof zu sagen wagt: "Es braucht unter uns Bischöfen Versöhnung. Es braucht unter der kirchlich Handelnden Versöhnung, Versöhnung zwischen den extremen Positionen. Es braucht Versöhnung in und mit der Weltkirche. Es braucht klare Zeichen in Deutschland, aus denen hervorgeht, dass niemand ein Schisma will, niemand die Spaltung von Rom. Es braucht Zeichen, dass wir in unserer Kirche unterschiedliche Kulturen und verschiedene Wege des Glaubens wertschätzen." Einen bemerkenswert vermittelnden Zwischenruf gibt es mittlerweile auch vom Mainzer Bischof Peter Kohlgraf. Allein Versöhnung wird die Kirche wieder bewohnbar machen.

Der Herr ist der Weg der Kirche

Dass wir nicht miteinander können, aber auch nicht ohneeinander, zeigt, dass wir alle nicht am Punkt sind. Wir suchen nach "politischen" Lösungen in einer Polis unter geschlossener Wolkendecke. Die "Stadt des lebendigen Gottes" (Hebr 12,22) ist aber nach oben hin offen; in ihr ist "Friede in Fülle durch die Erkenntnis Gottes und Jesu, unseres Herrn!" (2 Petr 1,2). In Fragment 548 seiner "Pensées" entfaltet Pascal diese Gegebenheit: "Ohne Jesus Christus wissen wir nicht, was unser Leben und unser Tod, was Gott und wir selbst sind."

Jenseits von Jesus wissen wir auch nicht, was die Kirche ist. Wir überschätzen uns als Kirchenreformer, solange wir uns für die Lösung und nicht für das Problem halten. Der Herr ist der Weg der Kirche und ihre einzige Synthese. "Sooft eine kirchliche Gemeinschaft versucht hat, allein aus ihren Problemen herauszukommen und lediglich auf die eigenen Kräfte, die eigenen Methoden und die eigene Intelligenz vertraute, endete das darin, die Übel, die man überwinden wollte, noch zu vermehren und aufrechtzuerhalten" schreibt Papst Franziskus in seinem "Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland".

Paulus, der große geistliche Projektentwickler der Frühen Kirche, geht beherzt über sich, seine Erfolge, sein Scheitern, seinen Status quo hinaus: "Ich vergesse, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir ist." (Phil 3,13) Paulus hat keine Rezepte in petto; er bekennt stattdessen, "bei euch nichts zu wissen außer Jesus Christus, und zwar als den Gekreuzigten." (1 Kor 2,2) In der Kunst eines selbstvergessenen Ausspannens auf den großen Preis jagt Paulus dem Ziel hinterher: "der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus." So vermittelt er zwischen der Größe der Berufung und dem Elend der nie fertigen realen Verhältnisse.

First things first

"Mission" ist für die Kirche das Gleiche, was es für jedes normale Unternehmen ist: die Gründungsintention, ihr "Wozu". Das Wort "Mission" antwortet auf die Frage, wofür das Ganze überhaupt da ist, was ihr Was, Wer und Warum ist. Die Mission der Kirche ist ihre noch nicht erfüllte Aufgabe. Leidenschaft für Mission reißt die Kirche aus ihrer autoreferencialidad, dem Wort von Papst Franziskus, mit dem das praktische Dilemma der Kirche in Deutschland wahrscheinlich am präzisesten beschrieben ist. Ineinander verkeilt, vergessen die Kontrahenten, dass außerhalb des Rings die eigentlichen Kämpfe warten.

Mission ist das Ureigenste der Kirche; sie ist das Instrument, durch das Gott jeden einzelnen Menschen in der Kirche und jenseits ihrer Grenzen erreichen soll. Deshalb ist eine Kirche, die nicht permanent darauf bedacht ist, missionarische Dynamiken zu erzeugen, eine Autofabrik, die keine Autos hervorbringt.

Eine Kirche, die nur für sich da ist, um dann – wenn sie erst einmal sauber aufgestellt ist und schön dasteht –auch noch ein gewisses Interesse am Rest der Welt zu zeigen, ist eine Karikatur. "Christus", heißt es in Lumen Gentium", ist "zum Ursprung des Heils für die ganze Welt bestellt." Für die "ganze Welt", das heißt: für alle Menschen, und eben nicht für die flächendeckende spirituelle Versorgung irgendwelcher Mitglieder. Hans Urs von Balthasar schreibt: Dass Gott "nur ausgewählte Menschen für diese Versöhnung erlesen und sie nur ihnen effektiv zugewandt hätte, ist christlich eine Häresie. Nirgends ist im leisesten davon die Rede, Gott habe (nur) die Kirche erlöst. Das katholische Gotteswerk ist nicht sektiererisch, sondern in seiner Absicht und seinem Umfang katholisch" (Katholisch, Einsiedeln 1975, 30). Und das Zweite Vatikanische Konzil hält in "Ad Gentes" fest: "Die pilgernde Kirche ist ihrem Wesen nach missionarisch" – also eben gerade nicht als freie Kürübung.

Mission ist das Ureigenste der Kirche; sie ist das Instrument, durch das Gott jeden einzelnen Menschen in der Kirche und jenseits ihrer Grenzen erreichen soll. Deshalb ist eine Kirche, die nicht permanent darauf bedacht ist, missionarische Dynamiken zu erzeugen, eine Autofabrik, die keine Autos hervorbringt. Mission ist die einzige Form von Zukunft für die Kirche. Sie ist, sagt Papst Franziskus im "Brief an das pilgernde Volk Gottes in Deutschland", "eine Leidenschaft für Jesus, zugleich aber eine Leidenschaft für sein Volk."

In Deutschland gibt es dafür eine Zielgruppe: 80 Millionen Menschen. Zur katholischen Kirche gehörten 2022 noch 20,9 Millionen Menschen. Von diesen 20,9 Millionen Katholiken nahmen etwa 19,9 Millionen nicht am kirchlichen Leben teil. In den Gottesdiensten fanden sich zuletzt noch etwa 1 Million Menschen. Unter den 1 Million Gottesdienstbesuchern bemerkte man zuletzt fast nur noch ältere Menschen. In einem couragierten Appell des Wiener Studentenseelsorgers George Elsbett war zu lesen: "In Wien liegt der Anteil von praktizierenden jungen Katholiken geschätzt unter einem Prozent. Wenn wir also nicht lernen, das eine Schaf ruhig grasen zu lassen, um die 99 zu suchen, können wir bald zusperren."

Papst Franziskus ist sich der Dramatik der Lage sehr bewusst. In "Evangelii Gaudium" entwirft er einen Aufbruch des Glaubens, der "mit dem grauen Pragmatismus des täglichen Lebens der Kirche bricht, in dem anscheinend alles normal abläuft, aber in Wirklichkeit der Glaube nachlässt und ins Schäbige absinkt." Die deutsche Kirche fordert er auf, den "Primat der Evangelisierung zurückzugewinnen" und "sich dem zu stellen, was in uns und in unseren Gemeinden abgestorben ist, was der Evangelisierung und der Heimsuchung durch den Herrn bedarf. Das aber verlangt Mut, denn, wessen wir bedürfen, ist viel mehr als ein struktureller, organisatorischer oder funktionaler Wandel." First things first! Die Kirche kommt zu sich, wenn sie sich in ihre Mission verliebt und sich darin verliert, "und um das sein zu können, hat sie Struktur" (Hans Urs von Balthasar, Katholisch, 32).

Den Kanal wechseln

Auf der Website einer Unternehmensberatung finden sich "Fünf Prinzipien zur Lösung von Dilemmata", die so weise sind, dass man sie notfalls auch auf der Vollversammlung der deutschen Bischöfe vorstellen könnte. Kurz zusammengefasst besagen sie: 1. Dilemmata sind ein Signal dafür, "dass sich etwas entwickeln möchte, das mit den bisherigen Sichtweisen und unter den aktuellen Gegebenheiten nicht möglich ist." 2. Die Berater empfehlen, daran zu glauben, "dass es etwas gibt, das bisher unvorstellbar ist. ... Bereit sein, eine Lösung jenseits des Dilemmas zu finden." 3. Sie raten, "den Kanal zu wechseln, um Neues zu erfahren: Hören, statt sehen. Neugierig sein, statt wissen. Spüren, statt denken." 4. Sie laden ein zu "innerer Arbeit. Spüren, wie sich im eigenen Inneren ungeahnte Kräfte regen, die endlich wirksam werden wollen." 5. Die Fachleute empfehlen dazu: "Das Neue in die Praxis übersetzen, es erproben und anwenden. Es zu etwas praktisch Sinnvollem machen."

Gott (könnte man nach dieser weltlichen Belehrung vermuten) lässt seiner Kirche Zeit für eine unerhörte, selbstvergessene Wende, eine "Lösung jenseits des Dilemmas". Ihr Name: Mission. Ihr "Go!": das Kreuz. Am Kreuz versöhnt, können wir befreit aufspielen, nach vorn gehen und tun, was zu tun uns aufgetragen ist.

Die Kirche tut gut daran, den Blick auf das vor Jahren Unvorstellbare zu richten, das sich heute schon an vielen Orten entwickelt: Glaubenslose Menschen finden in Alphakursen zu Jesus, Migranten bevölkern unsere leeren Werktagsgottesdienste und lehren uns wieder die Glut der Hingabe, junge Leute singen aus ganzem Herzen und halbe Nächte lang Lobpreis und beten und den eucharistisch gegenwärtigen Herrn an, bei Nightfever, auf Pfingsttreffen und auf Prayerfestivals stehen sie Schlange vor den Beichtstühlen, sie besuchen alte und einsame Menschen im Rahmen der 72-Stunden-Aktion, die biblische Kategorie der Jüngerschaft wird wiederentdeckt, neue Schulen des Glaubens entstehen, immer mehr Menschen suchen geistliche Begleitung, um zu Subjekten ihres Glaubens und missionarischen Jüngern zu werden, Studenten entscheiden sich in Glaubenskursen für Gott ...

Würde die Kirche all diese stillen Wunder wirklich wahrnehmen – und ahnte sie schon, dass darin ihre Zukunft besteht –, sie wüsste, worin die rettende Kühnheit besteht, auf der allein Segen ruht.

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