Auch wenn die Vokabel "Einheit" inzwischen als eher altertümlich empfunden werden dürfte, haben verwandte Ausdrücke wie Einmütigkeit, Zusammenhalt und Gemeinschaft im allgemeinen Sprachgebrauch weiterhin einen guten Klang. In Familie und Schule, Stadt und Gesellschaft, Europa und der Staatengemeinschaft wird unter diesen und ähnlichen Etiketten nach Einheit gestrebt, ja sie wird angesichts vermeintlicher oder tatsächlicher Krisen immer öfter und immer lauter beschworen.
In der katholischen Theologie und Kirche hat der Ruf nach Einheit dagegen keinen leichten Stand mehr. Es fehlt auch hierzulande zwar nicht an Mahnungen, die kirchliche Einheit zu wahren oder wiederherzustellen. Diese treffen aber inzwischen oft auf Gleichgültigkeit oder gar Misstrauen, insbesondere wenn sie von hohen Amtsträgern ausgehen. Wer zur Einheit aufruft, wird geargwöhnt, will den Reformdruck im Kessel halten oder sachliche Differenzen spirituell übertünchen.
Auch in der evangelisch-katholischen Ökumene in Deutschland hat sich ein Einheitsüberdruss breitgemacht. Zu routiniert führen viele Funktionsträger das Wort von der Einheit der Christen im Mund, als dass es als Ausdruck eines ernsthaften Wunsches aufgefasst werden könnte. Zu unverständlich ist vielen Kirchenmitgliedern mangels Kenntnis oder Interesse, was die Kirchen in ihrer ökumenischen Programmatik routiniert wiederholen.
Ökumene unter doppeltem Druck
In der akademischen Theologie herrscht ebenfalls Einheitsskepsis. Das kann man ihr angesichts der beschleunigten Dynamik, Komplexität und Pluralität moderner Lebensverhältnisse nicht verdenken. Wer könnte auch in der christlichen Ökumene den Überblick behalten über die sich rasant verändernden Gestalten des globalen Christentums, geschweige denn realistische Wege zu einer auch nur minimal bestimmten Einheit zwischen weit auseinanderliegenden Bekenntnissen, Institutionen und religiös-ethischen Praxisformen aufzeigen, die ihren Ort wiederum in sehr verschiedenen kulturellen, sozialen und ökonomischen Kontexten haben?
Es muss kein müder Relativismus sein, der Theologen dazu führt, die Einheit der Christenheit als Kategorie fahren zu lassen. Man kann der Auffassung sein, dass es in ethischen und politischen Belangen gemeinsamer Standards und Verfahren bedarf, und doch bezweifeln, dass ein hochgradig vielgestaltiges Christentum hierzu einen Beitrag leisten kann.
Es gibt also eine Einheitsskepsis, die aus der Komplexität der Probleme hervorgeht. Sie kann mit Bedauern vorgetragen werden oder mit der Aufforderung einhergehen, die Ausdifferenzierung des Christentums als ein Signum der Moderne zu akzeptieren. Manchen bleibt der Weg, die Einheit der Christenheit geschichtsholistisch zu imaginieren. Das Christentum ist dann die Gesamtheit seiner religiös-kulturellen Formenvielfalt, einer Vielfalt, die gar Gegenstand ästhetischen Delektierens sein kann. Das Kaleidoskop des Christentums funkelt in den buntesten Farben und die Theologin schaut fasziniert hinein.
Es gibt jedoch auch eine Form von Einheitsskepsis in Kirche und Theologie, die mit der Ausblendung von Komplexität einhergeht. Die Einheit der Christenheit ist dann keine Frage, weil andere Formen des Christentums unbekannt sind oder man sich der intellektuellen Herausforderung nicht aussetzen will, dass Menschen, die sich als Christinnen und Christen bezeichnen, darunter sehr Unterschiedliches verstehen und sich nicht von vornherein und von selbst versteht, wer im Recht ist. Statt die "große Einheit" der Christenheit intellektuell und praktisch anzustreben, setzt man auf die "kleine Einheit" partikularer Milieus. Psychologisch ist dies verständlich, in gewissem Maße sogar unvermeidbar. An der Schwelle einer solchen Identitätssicherung lauert jedoch die Borniertheit, die das Ende jeder Wissenschaft, auch der Theologie ist.
So steht das ökumenische Streben nach Einheit doppelt unter Druck. Einerseits stellt die pluralitätsgesättigte Einheitsskepsis es unter den Verdacht einer unzulässigen Komplexitätsreduktion. Wer auf Einheit hofft, hat in dieser Sicht ein mangelndes Gespür für intellektuelle und praktische Widersprüche oder denkt hegemonial. Andererseits stellt die aus Sorge um die Erschütterung des Eigenen enggespannte Vision christlicher Identität das ökumenische Einheitsstreben unter Relativismusverdacht. Wenn die Einheit des Christentums immer und in jeder Hinsicht schon da ist, kann man sich die ökumenische Annäherung nur als Formelkompromiss oder Gefährdung der eigenen Identität vorstellen.
Austausch der Gaben
In der Tat mutet der ökumenische Gedanke Kirche und Theologie etwas zu. Dem traditionellen Selbstverständnis der katholischen Kirche verlangt er die Konzession ab, dass sie die eine Kirche Jesu Christi zwar immer schon verkörpern mag, diese Einheit aber durch das ökumenische Streben nach Einheit wachsen und bereichert werden kann.
So sehr die katholische Kirche auch beansprucht, die Fülle des christlichen Glaubens stets bewahrt zu haben, so muss sie anerkennen, dass ihr durch die getrennten Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften etwas fehlt, etwas, das es wert ist studiert, verstanden und angeeignet zu werden. Die katholische Kirche kann nicht nur geben, sie kann auch empfangen und sich dadurch zum besseren verändern. Das hatte Johannes Paul II. im Sinn, als er in seiner Ökumene-Enzyklika Ut unum sint von einem "Austausch der Gaben" sprach.
Eine christozentrische Theologie war in der Lage, sowohl den Exklusivismus der katholischen Kirche zu relativieren als auch ein über die liberale Theologie hinausgehendes dogmatisch gehaltvolles Einheitsverständnis vorzuschlagen.
Aber auch, um das andere Ende des theologischen Spektrums in den Blick zu nehmen, der liberalen protestantischen Theologie mutet der Ökumenismus etwas zu. Zu erinnern ist daran, dass die ökumenische Bewegung in der deutschen evangelischen Theologie erst nach dem Ersten Weltkrieg, also nach der ersten Hochphase der liberalen Theologie, in Gang kam und diese in mancher Hinsicht hinter sich lassen wollte. Denn der Ökumenismus strebte nach einer dogmatisch, institutionell oder praktisch bestimmten Form von Einheit, die über die Akzeptanz faktischer Pluralität, aber auch über die prozesshafte Einheit historistischer Geschichtskonzepte hinausging, so wertvoll diese sind. Gemeinsam zu glauben und zu handeln ist doch mehr als das Erfassen und Fortschreiben religiös-kultureller Räume.
In der deutschen Theologiegeschichte ging diese Wende mit einer neuen Konjunktur eines christozentrischen Offenbarungsverständnisses einher. Die durch verschiedene theologische Strömungen betonte Überzeugung, die christliche Theologie habe ihre Mitte in der Offenbarung Gottes in Jesus Christus, konnte auch zu einer gemeinsamen Grundlage für das ökumenische Gespräch werden.
Eine christozentrische Theologie war in der Lage, sowohl den Exklusivismus der katholischen Kirche zu relativieren als auch ein über die liberale Theologie hinausgehendes dogmatisch gehaltvolles Einheitsverständnis vorzuschlagen. Im Vergleich zur liberalen Theologie waren die Verfechter einer theologischen Christozentrik erkenntnistheoretische Optimisten: Da Jesus im Glauben als der Christus erkannt und durch ihn Gott erkannt werden kann, können und sollen Christen sich in dieser gläubigen Erkenntnis vereinen.
Kann Gott in Jesus Christus erkannt werden?
Wie steht es heute um diesen erkenntnistheoretischen Optimismus? Eine metaphysikkritische, hermeneutische, ideologiekritische und pluralitätssensible Theologie tut sich damit schwer. Und doch liegt hier die wissenschaftstheoretische Gretchenfrage nicht nur einer ökumenischen Theologie: Kann Gott in Jesus Christus – bei allen Unschärfen, Abstrichen und Mehrdeutigkeiten – im Glauben erkannt werden?
Die Theologie hat stets angenommen, dass Gott diese Erkenntnis helfend unterfasst, wenn sie von der Lenkung durch den Heiligen Geist oder besonderen Gnadenhilfen spricht. Der erkenntnistheoretische Optimismus des Ökumenismus erwächst also keinem Ideal rein autonomer Erkenntnis, auch wenn er darauf setzt, dass es die Gläubigen selbst sind, die ihre Verbundenheit anstreben und entdecken. Dafür steht vor allem der geistliche Ökumenismus, wie er in Taizé, der Groupe de Dombes und nicht zuletzt durch die alljährlich im Januar begangene "Gebetswoche für die Einheit der Christen", gepflegt wird.
Viele Pioniere der ökumenischen Bewegung waren überzeugt, dass es auf der gemeinsam im Glauben erkannten Grundlage der Christusoffenbarung auch eine Einheit in Sakrament, Amt und Kirche geben könne. Die Geschichte der ökumenischen Bewegung zeigt, dass Schritte in diese Richtung möglich sind. Doch ist die Frage nach der "sichtbaren Einheit" das umstrittenste Feld ökumenischer Einheitsbestrebungen geblieben.
Geist und Amt
Wenn die Gebetswoche zwischen dem 18. Januar (bis zur Liturgiereform der Termin des Festes Kathedra Petri) und dem Fest der Bekehrung des Paulus am 25. Januar gefeiert wird, dann kommt darin typologisch die Hoffnung auf eine Verbindung von Amt und Geist zum Ausdruck. In den Anfängen der Gebetsoktav – sie liegen noch in der Zeit des römischen Antimodernismus – war damit gemeint, dass der Geist die Verlorenen zur Umkehr und zur Wiedereingliederung in die einzig wahre Kirche treibt. Von einer solchen Rückkehrökumene hat sich die katholische Kirche gelöst. Mit einer gewissen Zähigkeit hat sie jedoch daran festgehalten, dass es einer sichtbaren Einheit der Christenheit unter der Autorität von Papst und Bischofskollegium bedarf. Geist und Institution sollen zusammenfinden, nicht in stabiler Gleichförmigkeit, sondern in einer dynamischen Einheit.
Es fällt leicht, dieses Ziel als Anachronismus abzutun, als Traum, der der Übersichtlichkeit längst vergangener Zeiten nachhängt. Und doch ist, um an den Anfang zurückzukehren, die Sehnsucht nach Einheit, verstanden als friedvolle Eintracht im Sozialen und Politischen bis heute nicht versiegt. Die Pioniere der ökumenischen Bewegung haben dies gespürt. Dies ließ sie hoffen, dass es auch für die Einheit der Kirche keine prinzipiellen, sondern nur vorübergehende Hindernisse geben kann.