Schelling zählt zu den Giganten der nachkantischen Philosophie. Am Ende seines Lebens stand eine erstaunliche Einsicht.

Schon 65 Jahre alt ist Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, als er noch einmal einen Ruf auf eine Professur erhält. Dabei geht es nicht um irgendeinen Allerweltslehrstuhl, sondern um den prestigeträchtigsten des Landes, ja vielleicht ganz Europas: jenes Ordinariat an der Berliner Universität, das nach Johann Gottlieb Fichte auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel innehatte.

Hegel, der als philosophischer Zeitdeuter weit über die Grenzen der akademischen Philosophie hinaus verehrt wurde, war 1831 gestorben. Ein großes Heer von Schülern machte sich im Anschluss daran, Hegels Lehre – um deren rechte Deutung aber sofort heftige Grabenkämpfe entbrannten – in die Welt und in die Wissenschaften zu tragen. Schelling jedoch sollte nicht nach Berlin kommen, um das Erbe Hegels zu verwalten, sondern – ganz im Gegenteil – um es auszulöschen. Das zumindest war der ausdrückliche, brieflich festgehaltene Wunsch des frisch gekrönten Königs Friedrich Wilhelm IV. Der tiefreligiöse Regent träumte von einem christlichen Staat und sah in der geistigen Hinterlassenschaft Hegels nur "die Drachensaat des (...) Pantheismus". Schelling sollte die Wende bringen hin zu einer wahrhaft christlichen Philosophie.

Hegel und Schelling: Spätblüher und Wunderkind

Einst hatte Schelling mit Hegel in der württembergischen Kaderschmiede des Tübinger Stifts studiert. Die ersten Jahre nach ihrem Abschluss verband die beiden noch eine enge Freundschaft, die zunehmende professionelle Konkurrenz führte aber schließlich zur Entfremdung der beiden Schwaben. Während Hegel als "gesättigte, einsammelnde Herbstnatur" (so sein erster Biograf und Schüler Karl Rosenkranz) lange brauchte, um seine denkerische Identität auszubilden und als Universitätsphilosoph zu reüssieren, galt Schelling als Wunderkind. Mit 15 nahm er das Studium der Philosophie und Theologie am Tübinger Stift auf, mit gerade mal 23 wurde er als außerordentlicher Professor nach Jena berufen. Später folgten Stationen in Würzburg, Erlangen sowie zweimal in München. Doch der Spätblüher Hegel übertrumpfte den Überflieger in der öffentlichen Wahrnehmung spätestens mit dem Antritt seiner Professur in Berlin im Jahr 1818. Dank der späten Berufung in die preußische Hauptstadt schien jedoch Schelling das letzte Wort und damit zumindest der rhetorische Sieg gegen seinen einstigen Jugendfreund und späteren Widersacher Hegel zuzufallen.

Diese brisante Mischung aus der Verheißung einer geistig-philosophischen Wende und der besonderen persönlichen Konstellation zweier geistiger Titanen sorgte für ein enormes öffentliches Interesse. Unter den Hörern von Schellings erster Berliner Vorlesung im Wintersemester 1841 befanden sich unter anderem Søren Kierkegaard, Michail Alexandrowitsch Bakunin, Friedrich Engels, Jacob Burckhardt, Leopold von Ranke und Alexander von Humboldt. Das Thema der Vorlesung lautete "Philosophie der Offenbarung" – ein Titel, wie gemacht, um die royalen Erwartungen an einen philosophischen Drachentöter zu erfüllen.

Doch ist der Kern der späten schellingschen Philosophie wirklich treffend beschrieben, wenn man sie als christliche Philosophie mit einem angeblich unchristlichen Pantheismus Hegels kontrastiert? Und wie passt dieses christliche Endstadium der Philosophie Schellings, in dem von einem "unvordenklichen Sein", Gott, Mythos und Offenbarung zu lesen ist, zu seinen früheren Schaffensphasen, die um das Ich, die Natur und – immer wieder – um die Freiheit kreisen?

Hegel wird im Laufe seines Denkweges die kantische Selbstbescheidung des Erkennens zurückweisen, an Spinozas radikalem Diesseitsdenken aber festhalten. Sein nie aufgegebener Spinozismus ist es dann auch, der Hegel in Berlin schließlich den Vorwurf des Pantheismus beschert.

In ihrer Jugendzeit im Tübinger Stift haben Schelling und Hegel zwei gemeinsame philosophische Leitsterne: Immanuel Kant und Baruch de Spinoza. Kant ist der Philosoph der Freiheit und zugleich der Denker, der die metaphysischen Erkenntnisansprüche der Vernunft zurechtstutzt: Die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele liegen für ihn außerhalb des menschlichen Erkenntnisvermögens; zwar sei es vernünftig, sie zu postulieren, aber erkennen oder gar beweisen ließen sie sich nicht. Bei Spinoza wiederum entdecken die Stiftler den Gedanken der All-Einheit: Das Absolute – bei Spinoza auch "Substanz", "Gott" oder "Natur" genannt – ist für den niederländischen Juden nichts Jenseitiges, sondern das Weltganze selbst.

Hegel wird im Laufe seines Denkweges die kantische Selbstbescheidung des Erkennens zurückweisen, an Spinozas radikalem Diesseitsdenken aber festhalten. Sein nie aufgegebener Spinozismus ist es dann auch, der Hegel in Berlin schließlich den Vorwurf des Pantheismus beschert. Im Zentrum von Hegels Denken steht "der Begriff". Dieses Singularetantum ist Hegels Ausdruck für den göttlichen Logos, der die Welt und die Geschichte durchwaltet und – konkret, lebendig und wirklich gedacht – auch den Namen "Geist" trägt. Die gesamte Wirklichkeit auf den Begriff zu bringen, das heißt in ihrer Logoshaftigkeit durchsichtig zu machen, ist das große Projekt Hegels. Ein Jenseits des Begriffs kennt er dabei allerdings nicht. Der Geist ist für Hegel letztlich der Geist der Welt.

Das "unvordenkliche Sein"

Anders dagegen Schelling. Die Logoshaftigeit der Welt anerkennend, fragt er nach dem Zustandekommen dieses verblüffenden Umstandes: "Die ganze Welt liegt gleichsam in den Netzen des Verstandes oder der Vernunft gefangen, aber die Frage ist eben, wie sie in diese Netze gekommen sey, da in der Welt offenbar noch etwas anderes und etwas mehr als bloße Vernunft ist, ja sogar etwas über diese Schranken Hinausweisendes." Der Gedanke, dass es etwas gibt, was über das für den Menschen Begreifbare hinausgeht und dabei zugleich alles Begreifbare bedingt, führt den späten Schelling auf das bereits genannte "unvordenkliche Sein". Von diesem göttlichen Sein, das dem menschlichen Begreifen vorausgeht, gibt nur die göttliche Offenbarung Kunde. Die Offenbarung ist kein "begrifflicher Prozeß", der sich vor jeder Erfahrung aus der reinen Vernunft ableiten ließe, sondern "vollkommen frei gesetzt" und erst nach ihrem tatsächlichen Auftreten in der Welt ein Gegenstand der philosophischen Reflexion.

Schelling war überzeugt, dass der vollkommen freie Akt der Schöpfung und das Sich-Offenbaren Gottes in der Welt sich nicht, wie Hegel meinte, aus "dem Begriff" herleiten lassen.

Hegel, so lautet Schellings Kritik, habe Gott diese absolute Freiheit genommen, indem er ihn im Gefolge Spinozas zu eng mit der Welt verquickt habe: Der göttliche Geist gebe sich bei Hegel einem "Prozeß hin, von dem er nicht mehr loskommen kann, gegen den er keine Freiheit hat, in den er gleichsam unrettbar verwickelt ist. Der Gott ist nicht frei von der Welt, sondern mit ihr belastet. So weit ist also diese Lehre Pantheismus (...)." Der zentrale Verweis auf die Freiheit bildet dann auch das Bindeglied zwischen dem frühen und dem späten Schelling. "Der Anfang und das Ende aller Philosophie ist – Freiheit!", schreibt der 20-Jährige in seinem noch ganz vom Idealismus Fichtes inspirierten Werk "Vom Ich als Prinzip der Philosophie" im Jahr 1795. In der Urfassung der "Philosophie der Offenbarung" von 1831/32, also mehr als 35 Jahre später, bekräftigt Schelling dieses Prinzip unter neuer, theistischer Akzentuierung: "Freiheit ist unser und der Gottheit Höchstes."

Schelling kehrte während seiner Erlanger Zeit (1820–1826) "vollständig zu seinem Glauben aus der Kindheit" zurück, wie es in der Standardbiografie von Xavier Tilliette SJ heißt.

Schelling war überzeugt, dass der vollkommen freie Akt der Schöpfung und das Sich-Offenbaren Gottes in der Welt sich nicht, wie Hegel meinte, aus "dem Begriff" herleiten lassen. So gesehen war die Hoffnung des Königs, durch Schellings Berufung den Pantheismus zu bekämpfen, in der Sache durchaus aufgegangen. Und auch was seinen persönlichen Glauben angeht, war Schelling – zumindest in späteren Jahren – frei von jener unter Philosophen verbreiteten Anwandlung, das Wort Gottes ausschließlich in einem übertragenen Sinne verstehen zu wollen. So kehrte Schelling, der Sohn eines hochgebildeten evangelischen Geistlichen, während seiner Erlanger Zeit (1820–1826) "vollständig zu seinem Glauben aus der Kindheit" zurück, wie es in der Standardbiografie von Xavier Tilliette SJ heißt.

Schellings erstaunliches Bekenntnis

Am Ende seines Lebens schließlich verbanden sich das persönliche Bekenntnis zum Christentum und die philosophischen Überzeugungen Schellings zu einer unzertrennlichen Einheit. So zumindest berichtet es das spektakuläre "philosophische Testament", das uns durch Graf Stephan Djunkovsky, einen katholischen Konvertiten und eigenwilligen russischen Schüler Schellings, überliefert ist. Djunkovsky berichtet, wie er Schelling nach einer Reihe längerer Unterredungen über das Verhältnis seiner Philosophie zum Christenglauben schließlich die Pistole auf die Brust gesetzt und ihm vier präzise formulierte Propositionen zur Beantwortung vorgesetzt habe.

In stark geraffter Form lauten sie: 1) "Glauben Sie (...) an den einigen Gott, welchen die Christen seit 18 Jahrhunderten geglaubt, und welchen die Juden seit Abraham angebetet haben?" 2) "Lassen Sie zu die Unsterblichkeit der Seele (...) – einer Seele, die nicht lebt im Sinne blosser Abstraction (...), sondern in Wirklichkeit (...) – einer Seele, welche in Ewigkeit lebt in der Weise, wie die Christen seit 18 Jahrhunderten geglaubt haben (...)?" 3) "Lassen Sie zu die Göttlichkeit Jesu Christi? Nicht in dem mythischen, gleisnerischen und lächerlichen Sinne, in welchem die Pantheisten sie jedem Menschen beilegen, sondern in dem positiven Sinne der Göttlichkeit desselben Gottes, von dem wir oben gesprochen (...)?" 4) "Lassen Sie zu die Göttlichkeit der heiligen Schrift, d. h. glauben Sie, dass alle und jeder Theil derselben durch Gott eingegeben ist und auf dem Gebiete der Moral und des Dogmas Gesetzeskraft hat?"

Auf alle diese Fragen soll nun Schelling mit "Nec plus nec minus" (nicht mehr und nicht weniger) geantwortet und ausgeführt haben: "Eine vierzigjährige Erfahrung hat mir bis zur Evidenz bewiesen, dass man, um ein guter Philosoph zu sein, ein guter Christ sein muss."

Erstaunlich, dass ein Philosoph der nachkantischen Ära und zumal ein Hauptvertreter des deutschen Idealismus derartiges sagt. Dieses Erstaunen möge im Jahr von Schellings 250. Geburtstag dazu führen, dass sich die Fachleute – nach Kant und Hegel – endlich auch der theologisch-philosophischen Erschließung Schellings als eines christlichen Philosophen widmen.

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