Kardinal Christoph Schönborn, geboren 1945, Sudetendeutscher und Nachkriegsvertriebener, war seit 1995 auch mein Erzbischof. Er hat diese Aufgabe in einer keineswegs leichten Zeit angetreten. Sein Vorgänger Kardinal Hans-Hermann Groër war zurückgetreten, die Kirche in Österreich schwer angeschlagen. Schönborn verdient allein dafür hohe Anerkennung, dass er sich dieser Herausforderung mit der ihm eigenen diplomatischen Freundlichkeit und Umsicht gestellt hat. Am 22. Januar 2025 wird er 80 Jahre alt. In Kürze wird er den Hirtenstab an seinen Nachfolger übergeben. Es ist also eine gute Zeit, seine Verdienste zu würdigen.
Ich mache dies mit drei lapidaren Stichworten: politisch, pastoral, mystisch. Damit wähle ich den Weg gleichsam von außen nach innen. Dieser Weg führt uns entlang der großen Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, ausgehend von der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute "Gaudium et spes", über die Dogmatische Konstitution über die Kirche "Lumen gentium" hin zur Dogmatischen Konstitution über die Offenbarung "Dei Verbum", jenem Konzilsdokument, von dem Kardinal Franz König (Wiener Erzbischof von 1956 bis 1985) wiederholt bekundete, dass es das wichtigste sei. Ich riskiere diesen Zugang, wohl wissend, dass für Kardinal Schönborn das Konzil nicht zu einem Aufbruch führte, sondern wie er beim Begräbnis seines Weihbischofs Helmut Krätzl öffentlich sagte, zu einem Abbruch.
Politisch
Jesu Anliegen war es, dass das Reich Gottes, das Reich der Himmel schon jetzt auf die Erde kommt. Das war auch das pastorale Ziel von Kardinal Schönborn als Wiener Erzbischof: dass die Welt, unser Land, der Raum der Erzdiözese ein wenig himmlischer wird. Dem Land, Europa, der Welt sollten Himmelsgeschenke gemacht werden: Das Geschenk, dass es eine tiefe Einheit des Seins gibt. Aristoteles, Bonaventura oder der moderne Holist Ken Wilber drücken dies im Bild der "Kette des Seins", the "chain of being" aus. Dank dieser tiefen Einheit hat alles Geschaffene eine unantastbare Würde; ist die Natur nicht ausbeutbare Umwelt, sondern dem hegerischen Menschen vertraute Mitwelt. Dank der gleichen Würde aller gibt es keine Diskriminierungen mehr. Jene der Heiden wurde auf dem Apostelkonzil behoben. Die Tradition der Diskriminierung der Sklaven hat die Kirche erst nach über 1600 Jahren unter Bartolomé de las Casas überwunden. An der Entdiskriminierung der Frauen arbeiten wir immer noch. Wenn aber im Sein alles eins ist, sind wir alle füreinander verantwortlich. Weil nur ein Gott ist, ist jeder einer von uns, jede eine von uns. Das ist, so unentwegt Papst Franziskus, eine hochpolitische Aussage.
Wie Kardinal König war Christoph Schönborn als dessen eigentlicher Nachfolger kein politisierender, aber ein politischer Bischof. Für ihn ist die "freie Kirche im freien Staat" keine politische Partei, aber sehr wohl politisch parteiisch.
Als polyglotter Kirchenmann war Kardinal Schönborn unbeugsam proeuropäisch.
So bezog er erst kürzlich klare Position in Fragen der Religionsfreiheit, aber auch in Fragen Migration und Flucht, die zu trennen er den Politikern unlängst dringlich empfahl. Als polyglotter Kirchenmann war Kardinal Schönborn unbeugsam proeuropäisch, während Kardinal Groër und Bischof Kurt Krenn, aber leider auch Bischof Reinhold Stecher gegen den EU-Beitritt wetterten. Christoph Schönborn ist ein leidenschaftlicher Anwalt der Freiheit, wie er in seiner Dankesrede für das Ehrendoktorat in Olomouc mit Blick auf die totalitäre Freiheitsverachtung in Osteuropa erkennen ließ. Das ist heute aktueller denn je, weil die Freiheit gerade in der russischen Welt neuerlich geknebelt wird. Auch Rechtspopulisten sind weltweit dabei, die Freiheitsgrade mit freiheitlichen Mitteln zu reduzieren.
Kardinal Schönborns politische Interventionen waren geprägt von der Bergpredigt: Selig, die Frieden stiften. Selig, die keine Gewalt anwenden. Er bedauert, dass von dem vor 2000 Jahren verkündeten Weihnachtsfrieden heute auf Erden wenig zu spüren sei. "Werden die Waffen wenigstens in den Tagen schweigen, in denen die Geburt Jesu, des Friedenskönigs, gefeiert wird?", so lautete die bange Frage des Wiener Erzbischofs in seiner weihnachtlichen Predigt 2024. In der Ukraine, im Nahen Osten, im Sudan, im Kongo und anderen Orten sei das Wort "Friede" zum Fremdwort geworden. "Wann wird dieser Wahnsinn vorbei sein?"
Pastoral
Kardinal Schönborn war weltkirchlich ein verlässlicher Anwalt der Wiener Pastoralkultur. Die Aufarbeitung des Missbrauchs gelang ihm in modellhafter Weise. Die ganze Weltkirche, aber auch alle gesellschaftlichen Einrichtungen und nicht zuletzt die Familien sollten um aller Kinder im Land willen rasch davon lernen.
Kardinal Schönborn vertrat bei der Familiensynode die Einzelfallzulassung jener Geschiedenen, die standesamtlich wieder geheiratet haben: auch dies ist Teil jener Wiener Pastoralkultur, die Helmut Krätzl unter Kardinal König mitentwickelt hatte, was ihn als Nachfolger Königs unter Papst Johannes Paul II. aus dem Rennen warf. Ganz auf der Linie der Erklärung der österreichischen Bischöfe von 1980 hat Kardinal Schönborn Papst Franziskus die theologische Begründung für die Fußnote 253 in "Amoris Laetitia" geliefert. Der Papst hatte ihn daraufhin dankbar mit der Präsentation der frisch erschienenen Enzyklika betraut.
Solche Beispiele zeigen, dass in Fragen der pastoralen Entwicklung Ortskirchen nicht nur Satelliten einer von Rom aus uniformistisch geleiteten Weltkirche sind, sondern auch periphere Orte einer Innovation, die nach und nach die Weltkirche erfassen kann – was jetzt nach der Weltsynode endlich auch so gesehen wird. Das Argument, auch in der Pastoral müsse alles uniformistisch-weltkirchlich entschieden werden, ist damit an eine erfreuliche Grenze geraten.
In neueren Stellungnahmen zeigte sich der Kardinal besorgt über den Rückgang der Kirchenmitglieder. Mich erinnert das an den verstorbenen Vizekanzler und aufrechten Kirchenmann Erhard Busek, der mich zu einem Beitrag für ein Buch mit dem Arbeitstitel angefragt hatte: "Was haben wir nach dem Konzil falsch gemacht?" Bei allen Fehlern, die gemacht wurden und werden, kann zunächst ein Blick auf die pastorale Geschichte unseres Landes ein wenig beruhigen. Die Kirche ist nicht an allen auf den ersten Blick unerfreulichen Entwicklungen selbst schuld; sie kann die historisch unausweichliche Entwicklung lediglich verlangsamen oder beschleunigen, aber letztlich nicht aufhalten. Vor allem aber sollten Kirchen nicht jammernd den Untergang verwalten, sondern mutig den Übergang gestalten.
Die Zeit ist vorbei, in der Bürgermeister, Lehrer, Eltern und Pfarrer im autoritären Einklang auch und gerade in der Erzdiözese Wien den katholischen Glauben garantiert haben. 1770 ließ Kaiserin Maria Theresia die Wirtshäuser am Sonntagvormittag schließen, damit der "gemeine Mann" die Predigt hört und verordnete diesen am Nachmittag darüber hinaus eine "Christenlehre". Hausmeister in Wien sammelten österliche Beichtzettel ab. Katholisch sein war Schicksal, fate, so der renommierte Religionssoziologe Peter L. Berger, der in Wien geboren wurde, vor den Nazis flüchten musste und später in Boston lehrte. Heute leben wir in einer Kultur der Wahl, von choice.
Kardinal Christoph Schönborn hat den längst fälligen Umbau der kirchlichen Sozialgestalt, mutig und lernend zugleich, in Angriff genommen.
Das macht den Umbau der Kirchengestalt unausweichlich. Dieser ist voll im Gang. Die alte Priesterkirche mit Ordinierten, die am 1774 neu errichteten Lehrstuhl für Pastoraltheologie an der Universität Wien als staatliche Religionsdiener ausgebildet wurden, wandelt sich in eine Kirche des Volkes Gottes, die auf der Taufe gründet. Natürlich sind auch in dieser unter den Getauften solche, die ordiniert werden. Sie stellen sicher, dass die gläubigen Gemeinschaften in der Spur des Evangeliums verbleiben, sie gründen Gemeinden und leiten sie, so die Würzburger Synode, welche die Gemeindeleitung ebenso wie das geltende Kirchenrecht als priesterlichen Dienst ansieht. Das bedeutet auch, dass Frauen, die Gemeinden leiten, bereits mit der res des Weihesakraments betraut werden. Der Lebensquell dieser gläubigen Gemeinden ist die (zunächst der ersten Apostelin Maria von Magdala anvertraute) Verkündigung von Tod und Auferstehung von Jesus, dem Christus, die in der Feier der Eucharistie gipfelt.
Kardinal Christoph Schönborn hat den längst fälligen Umbau der kirchlichen Sozialgestalt, mutig und lernend zugleich, in Angriff genommen. Diese Transformation der Kirchengestalt ist voll im Gang. Es ist ein Weg mit offenem Ausgang. Manchmal führte er bislang auch in Sackgassen. Ob es ausreicht, nur im vorgegebenen Rahmen zu reformieren, oder ob nicht der Rahmen selbst reformiert werden müsse, hab ich den Kardinal einmal gefragt. Der Kardinal meinte damals, der Umbau müsse im vorgegebenen Rahmen geschehen. Ob er jetzt, nach der letzten Weltsynode, an welcher er teilnehmen konnte, anders denkt?
Mystisch
Kardinal Schönborn lebt aus einer tiefen Verwurzelung in Gott. Er ist in seinem GeHEIMnis daHEIM, was einen Mystiker ausmacht. Und nur Menschen, die solche Gottverwurzelte sind, werden künftig, so mein Lehrer Karl Rahner, Christen sein, die für Menschenentfesselung stehen. Gottes- und Nächstenliebe sind ebenso untrennbar verbunden wie Mystik und Politik.
Pater Christoph, wie er sich selbst gern nannte, ist ein in diesem Sinn gottverwurzelter Christ. Und dies im Sinn von Augustinus: Er war mit allen Getauften zunächst Christ und diente zudem dem Gottesvolk in Wien. Die mystische Seite Schönborns kommt nicht nur in seinen zahlreichen Büchern, sondern auch in seinen Predigten zum Vorschein. So zitiert er in der letzten Weihnachtspredigt aus dem Anfang des Johannesevangeliums: "Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt": Dieses Wort aus dem Johannesprolog sei Schlüsselwort und Brücke. Schönborn riet zum Blick auf Christi Leben: "Dort, wo Jesus als Mensch hingegangen ist, wie er gelebt hat, das ist die Brücke vom großen universalen Christus hin zu unserem eigenen Leben … Er hat unter uns sein Zelt aufgeschlagen, hat demütig unter uns gewohnt wie ein Pilger … Aus seiner Fülle haben wir Gnade empfangen – ob wir es wissen oder nicht."
Im Bild vom universalen Christus, nach dem auch das grandiose Buch "The Universal Christ" des Franziskanermystikers von New Mexiko, Richard Rohr, benannt ist, wird sichtbar, dass "katholisch" von ökumenisch sensiblen Kardinal Schönborn längst nicht mehr konfessionell, sondern universell verstanden wird. Er folgt dem alten Kolosserhymnus, der die Theologie heute immer mehr prägt: "Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen" (Kol 1,16). Die gesamte Schöpfung, mit innerer Weisheit, einem intelligent design ausgestattet, reift am Ende in diesen universellen Christus hinein. Die treibende Kraft der Evolution ist nicht blinder Zufall, sondern die Kraft der Liebe. Hätte doch Benedikt XVI., mit dem der Kardinal als Redaktor des Katechismus der Katholischen Kirche eng verbunden war, doch noch Teilhard de Chardin rehabilitiert! Es hätte auch den Theologen und Christusmystiker Christoph Schönborn erfreut.
Nach heftigen Turbulenzen hat Kardinal Schönborn der Kirche ihr freundliches Gesicht zurückgegeben.
Ich habe in den letzten Wochen wiederholt Menschen gefragt, was ihnen in den Sinn kommt, wenn sie an Kardinal Christoph Schönborn denken. Dann vernahm ich wohlklingenden Gesang: immer berührend, demütig, bescheiden, freundlich. Nicht hochmütig, sondern sanftmütig; nicht übermütig, manchmal – in politischen wie kirchlichen Belangen – "untermütig", um ein behutsames Wort dafür zu erfinden. Nach heftigen Turbulenzen hat er der Kirche ihr freundliches Gesicht zurückgegeben. Er war und ist ein Kommunikationskünstler – 30 Jahre lang eine Kolumne im Boulevardblatt "Heute" zu verfassen, ist eine Herausforderung. Nobel sei er, so sagten viele meiner Befragten, kein bissiges Wort, ein liebevoller Seelsorger, ohne Ecken und Kanten.
Er griff nie zu harten Worten, schützte jene, die auf dem Weg zur Heiligkeit waren und dabei doch hin und wieder Umwege einschlugen. Es war ihm klar, dass sowohl Ehe als auch Ehelosigkeit heute "Hochrisikolebensformen" sind, die zumeist nur mehr oder weniger gut gelingen. Er sah die kleinen Erfolge und konnte die kleinen Misserfolge übersehen. Er folgte dem weisen Prinzip von Richard Rohr: "It is not necessary to be perfect, but to be connected!" – "Du musst nicht moralisch perfekt, sondern gottverbunden sein!"