Dietrich Bonhoeffer, einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, der im Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime zum Märtyrer wurde, war in jeder Hinsicht eine Ausnahmeexistenz. Am 9. April jährt sich zum 80. Mal sein Todestag. Nur wenige Wochen vor Kriegsende wurde Bonhoeffer im Alter von 39 Jahren auf ausdrücklichen Befehl Hitlers im KZ Flossenbürg hingerichtet, weil seine Verbindung mit dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 aufgedeckt wurde. Wie er selbst gehörten auch sein Bruder Klaus und seine beiden Schwager Hans von Dohnanyi und Rüdiger Schleier dem Widerstand an. Auch sie wurden im April 1945 umgebracht.
Im April 1943 wurde Bonhoeffer verhaftet. Eines seiner Gedichte, die er im Gefängnis schrieb, trägt den Titel "Stationen auf dem Weg zur Freiheit". Man kann diesen Titel auch als Motto verstehen, unter dem Bonhoeffers ganzes Leben stand, wie es der evangelische Theologe Wolfgang Huber in seinem 2019 erschienenen Bonhoeffer-Porträt tut. Vier Stationen sind es, die Bonhoeffer meditiert: Zucht, Tat, Leiden, Tod. Ein Mitgefangener, der britische Geheimdienstoffizier Payne Best, berichtet, Bonhoeffer habe zu ihm unmittelbar vor seinem Abtransport von Schönberg im Bayerischen Wald nach Flossenbürg gesagt: "Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens." In seinem Gedicht "Stationen auf dem Weg zur Freiheit" preist Bonhoeffer den Tod als "höchstes Fest auf dem Wege zur ewigen Freiheit". Die Gedichtstrophe endet mit den Worten: "Sterbend erkennen wir nun im Angesicht Gottes dich selbst" – nämlich die Freiheit.
Vom Theologen zum Christenmenschen
Bonhoeffer selbst verstand seinen Lebensweg als denjenigen vom Theologen zum Christenmenschen. Er zeigte früh ein intellektuelles Interesse an der Theologie und eine außergewöhnliche intellektuelle Begabung, wurde aber nach eigenem Bekunden erst im Laufe seines Lebens zum bewussten Christen.
Geboren am 4. Februar 1906 in Breslau als sechstes von acht Kindern des renommierten Psychiaters Karl Bonhoeffer und ab 1912 aufgewachsen in Berlin, begann Bonhoeffer bereits 1923 ein Theologiestudium in Tübingen, das er ab 1924 in Berlin fortsetzte. Schon mit 21 Jahren wurde Bonhoeffer mit seiner Dissertation Communio sanctorum, einer Arbeit zur Ekklesiologie, promoviert. Und mit nur 24 Jahren habilitierte sich Bonhoeffer mit seiner Arbeit Akt und Sein, die sich mit Problemen der Ontologie und der Transzendentalphilosophie beschäftigt. Sein Weg führte ihn als Vikar nach Barcelona, als Stipendiat an das Union Theological Seminar nach New York und als Auslandspfarrer nach London.
Bonhoeffer war ein lutherischer Theologe, dessen Theologie unter dem Einfluss der dialektischen Theologie Karl Barths stand, aber auch des Neuprotestantismus und der liberalen Theologie eines Adolf von Harnack sowie des Herrnhuter Pietismus. Ökumenisch gesinnt, hat Bonhoeffer sich auch mit dem römischen Katholizismus eingehend beschäftigt. Bonhoeffer gehörte der Bekennenden Kirche an, deren illegales Predigerseminar in Finkenwalde bei Stettin er von 1935 bis 1937 leitete. Die Möglichkeit, im Exil zu leben, die sich im Juni 1939 durch eine erneute Einladung nach New York bot, lehnte er ab. Nach nur drei Wochen reiste er wieder ab und kehrte nach Deutschland zurück, wo er sich der Widerstandsgruppe um Admiral Wilhelm Canaris anschloss.
So konsequent und eindrucksvoll Bonhoeffers Lebensweg auch erscheinen mag, kann man sein Leben doch auch in Bonhoeffers Sinne als ein Fragment sehen. Dabei ist sein Nachlass monumental: 17 Bände umfasst die Edition der Werke, Aufsätze, Vorlesungen, Briefe und Predigten Bonhoeffers. Doch so eindrucksvoll sein Werk auch erscheinen mag, so unfertig ist es doch in manchen seiner Gedankengänge geblieben, was sich an der zum Teil höchst kontroversen Bonhoeffer-Rezeption zeigt. Das betrifft nicht zuletzt die teils enigmatischen Überlegungen Bonhoeffers gegen Ende seines kurzen Lebens zu einem religionslosen Christentum. Auch sein Hauptwerk, an dem er bis zu seiner Gefangennahme gearbeitet hat, nämlich seine Ethik, blieb unvollendet.
Unter dem Eindruck der Nazidiktatur und des Zweiten Weltkriegs schrieb Bonhoeffer aus dem Gefängnis seinen Eltern, seine Generation empfinde das Unvollendete, Fragmentarische des Lebens wohl besonders stark. "Aber gerade das Fragment kann ja auch wieder auf eine menschlich nicht mehr zu leistende höhere Vollendung hinweisen. Daran muss ich besonders beim Tode so vieler meiner besten ehemaligen Schüler denken. Wenn auch die Gewalt der äußeren Ereignisse unser Leben in Bruchstücke schlägt, wie die Bomben unsere Häuser, so soll doch möglichst noch sichtbar bleiben, wie das Ganze geplant und gedacht war, und mindestens wird immer noch zu erkennen sein, aus welchem Material hier gebaut werden sollte."
Seine Gedanken zur Fragmenthaftigkeit des Lebens hat Bonhoeffer in einem anderen Brief weiter ausgeführt:
"Es gibt schließlich Fragmente, die nur noch auf den Kehrichthaufen gehören (selbst eine anständige 'Hölle' ist noch zu gut für sie), und solche, die bedeutsam sind auf Jahrhunderte hinaus, weil ihre Vollendung nur eine göttliche Sache sein kann, also Fragmente, die Fragmente sein müssen – ich denke z.B. an die Kunst der Fuge [von J.S.Bach]. Wenn unser Leben auch nur ein entfernter Abglanz eines solchen Fragmentes ist, in dem wenigstens eine kurze Zeit lang die sich immer stärker häufenden, verschiedenen Themata zusammenstimmen und in dem der große Kontrapunkt vom Anfang bis zum Ende durchgehalten wird, so daß schließlich nach dem Abbruch – höchstens noch der Choral: 'Vor Deinen Thron tret‘ ich allhier' – intoniert werden kann, dann wollen wir uns auch über unser fragmentarisches Leben nicht beklagen, sondern daran sogar froh werden."
Vereinnahmungsversuche
Zur Wirkungsgeschichte Bonhoeffers gehören unterschiedliche, auch gegensätzliche Versuche, ihn zu vereinnahmen. Sein Schlagwort von der "Kirche für andere" ist im heutigen Mainstream protestantischer Kirchen verankert, verbunden mit der Tendenz, die Botschaft des Evangeliums auf die Dimension der Ethik zu reduzieren, wie es bei Bonhoeffer selbst keineswegs der Fall ist. Allerdings hat Bonhoeffer selbst eine solche moralisierende Lesart seiner Theologie durch exklusive Formulierungen begünstigt. So liest man bei ihm: "Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist." Doch wenn man diese Worte "als Leitformel für die Existenz und das Handeln der Kirche schlechthin versteht, gewinnt sie", wie der evangelische Theologe Wolfgang Huber notiert, "ein problematisches Gefälle." Um Kirche für andere zu sein, muss zunächst einmal Kirche als Gemeinschaft des Glaubens und des Heiligen Geistes sein. Nur als Kirche mit anderen kann sie auch Kirche für andere sein.
Bonhoeffers späte Theologie und seine unfertigen Aussagen in seinen Gefängnisbriefen über ein religionsloses Christentum haben die Gott-ist-tot-Theologie der Sechzigerjahre inspiriert. Eine Theologie nach dem Tode Gottes wird sich freilich bei genauerem Hinsehen nur schwerlich auf Bonhoeffer berufen können, der doch zutiefst davon überzeugt war, dass Gott nicht nur auf aufrichtige Gebete und verantwortungsvolle Taten wartet, sondern auch antwortet, und der gewiss war, dass Gott ihm als Du begegnet. Bonhoeffer rechnete mit Gottes Walten in der Geschichte und im Leben des Einzelnen auf eine paradoxe Weise.
Es wird für Bonhoeffer nur erfahrbar, indem man sich auf zweifache Weise mit dem unpersönlich zu denkenden Schicksal auseinandersetzt. Dem Schicksal – man kann auch sagen der Erfahrung der Kontingenz – müsse man ebenso entschlossen entgegentreten, wie sich ihm zu gegebener Zeit unterwerfen. "Von ‚Führung‘ kann man erst jenseits dieses zwiefachen Vorgangs sprechen, Gott begegnet uns nicht nur als Du, sondern auch 'vermummt' im 'Es'", und Bonhoeffer bewegte die Frage, "wie wir in diesem ‚Es‘ (‚Schicksal‘) das ‚Du‘ finden, oder mit anderen Worten, wie aus dem ‚Schicksal‘ wirklich ‚Führung‘ wird." Das aber, so Bonhoeffer, geschehe in der Dialektik von Widerstand und Ergebung, zwischen denen die Grenze in der eigenen Lebensführung nicht prinzipiell zu bestimmen ist, sondern je nach Situation immer wieder neu gezogen werden muss.
Entschieden zurückgewiesen werden muss allerdings der Versuch, Bonhoeffer für die Neue Rechte zu vereinnahmen. Schon im Wahlkampf 2016, aus dem Donald Trump als Sieger hervorging, hat Amerikas "Religiöse" Rechte Bonhoeffer zu einem der ihren erklärt und ausgerechnet Trump zum Widerstandskämpfer im Geiste Bonhoeffers gegen den liberalen Zeitgeist gemacht. Den Boden bereitete der amerikanische Autor Eric Metaxas mit einer eigenwilligen Bonhoeffer-Biografie, der von einem "Bonhoeffer-Moment" spricht und damit den Aufstand gegen den liberalen Zeitgeist meint. Dieser Verdrehung all dessen, was Bonhoeffer ausmacht und auszeichnet, wird durch einen Kinofilm Vorschub geleistet, der im März 2025 auch in die deutschen Kinos gekommen ist. Sein Originaltitel: "Bonhoeffer: Pastor, Spy, Assasin". Das amerikanische Filmplakat zeigt den Pazifisten Bonhoeffer mit einer Waffe in der Hand. Hier wird die Vereinnahmung zur glatten Lüge, allerdings wohl weniger durch den Film selbst als durch sein Framing in den USA.
In einem offenen Brief hat sich Bonhoeffers Familie gegen eine derartige Vereinnahmung und Verdrehung der Tatsachen zur Wehr gesetzt.
"Als direkte Nachfahren der sieben Geschwister des Theologen und von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfers Dietrich Bonhoeffer […] können wir aufgrund der Familienüberlieferung bezeugen: Er war ein friedliebender, freiheitlich gesinnter Menschenfreund", heißt es laut den Funke-Zeitungen in dem Brief. Niemals hätte er sich in der Nähe rechtsextremer, gewalttätiger Bewegungen gesehen, die heute versuchten, ihn zu vereinnahmen. "Im Gegenteil, er hätte genau diese Haltungen kritisiert."
Inzwischen haben sich auch einige der Schauspieler, darunter der Bonhoeffer-Darsteller Jonas Dassler, öffentlich von dem Versuch distanziert, den allerdings auch historisch und künstlerisch umstrittenen Film für die Ideen der neuen Rechten zu vereinnahmen. 80 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod entsteht der beklemmende Eindruck, als sollten Bonhoeffers Mörder noch posthum über ihr Opfer triumphieren. Dem gilt es entschieden zu widerstehen – nicht nur durch historische Richtigstellung, sondern auch durch die Bekämpfung rechtsextremen Gedankengutes und seines Geistes der Lüge.
Warten auf Gottes Zeit
Zu den Texten Bonhoeffers, die in einer Zeit der um sich greifenden Gottvergessenheit von ungebrochener Aktualität sind, gehört sein Brief, den er im Mai 1944 seinem Patenkind Rüdiger Bethge anlässlich seines Tauftages geschrieben hat. Darin beschreibt Bonhoeffer, wie die Kirche – nicht zuletzt wegen ihres Versagens im Kirchenkampf – wieder ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen sei.
"Was Versöhnung und Erlösung. was Widergeburt und Heiliger Geist, was Feindesliebe, Kreuz und Auferstehung, was Leben in Christus und Nachfolge Christi heißt, das alles in so schwer und so fern, daß wir es kaum mehr wagen, davon zu sprechen."
Bonhoeffer hoffte freilich auf eine Zeit, "an dem wieder Menschen berufen werden, das Wort Gottes so auszusprechen, dass sich die Welt darunter verändert und erneuert." Vielleicht in einer ganz unreligiöse, aber befreienden und erlösenden Sprache, wie es die Sprache Jesu war. Bis dahin werde es Menschen geben, "die beten und das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten".
Meist ist aus diesem Brief nur die Formel "Beten und Tun des Gerechten" in Erinnerung. Tatsächlich schreibt Bonhoeffer einige Zeilen zuvor, "unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen." Wieder lesen wir Bonhoeffers exklusives "nur". Am Ende aber wandelt sich die zweigliedrige Formel bemerkenswerterweise in eine dreigliedrige, die nun eben auch vom Warten auf Gottes Zeit spricht.
In der heutigen Krise von Theologie und Kirche, die man ohne Übertreibung auch als Gotteskrise (Johann Baptist Metz) bezeichnen kann, besteht für beide die Aufgabe zu warten: zu warten auf den je neuen Einbruch Gottes in die Welt, auf sein Kommen und darauf, dass er auf neue Weise zu uns Menschen spricht, indem die Sprache der biblischen Überlieferung für uns auf neue Weise sprechend und ansprechend wird. Eine solche Theologie der Krise ist keineswegs resignativ, sondern höchst erwartungsvoll.
Angesichts heutiger Erfahrungen des Schweigens Gottes besteht die Aufgabe der Theologie nicht nur darin, die Erinnerung des Glaubens wachzuhalten, dass Gott vormals zu Menschen geredet hat, sondern auch darin, die biblisch bezeugte Verheißung beim Wort zu nehmen, dass Gott kommt und nicht für immer schweigt. Wo mit dieser Möglichkeit nicht mehr ernsthaft gerechnet wird, mutiert Theologie entweder zur reinen Ethik oder zu einem Zweig der Kulturwissenschaft.
Eine wartende Kirche "wartet, indem sie arbeitet", wie Bonhoeffer bereits 1935 geschrieben hat. Wartende Theologie dient der Einübung in ein Christsein, das, wie Bonhoeffer gesagt hat, nicht nur im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen, sondern auch im Warten auf Gottes Zeit besteht.