Die Sixtinische Kapelle im Vatikan gehört zu den großen Kunstschätzen der Menschheit. Michelangelo hat einen Bilderkosmos gestaltet, der in den Bann zieht. Die Raffinesse der Komposition und die Schönheit der künstlerischen Ausführungen verzaubern und führen in ein Geheimnis ein, wofür der Bau der Sixtina einen Raum schafft. Sie erzählt in Typologie von Altem und Neuem Testament die Geschichte Gottes mit den Menschen, von der Erschaffung der Welt und der Geschöpfe, über den Sündenfall, den Weg der Erlösung bis hin zur Vollendung durch das jüngste Gericht.
Sicherlich ist das eindrücklichste Gemälde der wiederkommende Christus, wie er Welt und Menschen richtet. Für das ergreifende Fresko übermalte Michelangelo eine Mariendarstellung, die mit der Zusammenstellung der neun großen Deckenfresken korrespondierte. Das zentrale Motiv in der architektonischen Anordnung ist die Erschaffung der Eva, der ursprünglich das Fresko der Maria Immaculata auf der Hauptwand der Sixtina entsprach. Es ist das theologische Spiel von Typus und Antitypus, die geschaffene Eva, die mit dem Sündenfall Gegenbild für die neue Eva Maria ist, durch die Gottes Sohn Fleisch angenommen hat. Eva wird vollkommen und rein dargestellt, sie verweilt in der Anbetung ihres Schöpfers, der sie mit einer deutenden Handbewegung nach oben zu sich emporzieht. Die Nähe zum Schöpfer schenkt Dasein.
Im Schatten des Kreuzes
In diesem Bild darf der Glaubens- oder Kunstpilger durch die Kapelle zum ersten Mal das Angesicht Gottes sehen und die Schönheit des menschlichen Geschaffen-Seins erblicken. Doch deutet sich hier bereits das Drama der Menschheit an. Adam ruht in der Szene der Erschaffung der Eva an einem fruchtlosen, kahlen Baumstumpf mit einem ausladenden Ast. Der verhängnisvolle Griff nach der Frucht des Paradiesbaumes wird zum Sinnbild für die Ursünde des Menschen. Aber der Baum weist bereits auf den Stamm des Kreuzes hin, an dem der Sohn der neuen Eva die Menschheit von der Schuld befreit.
Das Dogma möchte bekräftigen, dass Maria mit ihrer ganzen Person, mit ihrer Freiheit und ihrem Wollen, in das Heilsgeschehen ihres Sohnes Jesus Christus hineingenommen ist.
Das Fest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria – so der volle Titel des Dogmas, das Pius IX. 1854 feierlich verkündete – nimmt die Typologie von der in die Ursünde verstrickten Eva und der reinen neuen Eva auf. Die Kirche feiert und bekennt, so sagt es das Zweite Vatikanische Konzil, dass Maria "vom ersten Augenblick ihrer Empfängnis im Glanz einer einzigartigen Heiligkeit" war (LG 56). Sicherlich wird diese Glaubensaussage über Maria immer im Hinblick auf die Person und Gestalt des Erlösers zu glauben sein, aber es lässt sich das Geheimnis, dass Maria von Anfang an von der Ursünde befreit war, nicht allein daraus ableiten. Damit würde das Fehlen der Ursünde bei Maria vorschnell als eine zeitliche Gegebenheit verstanden werden, die an Maria rein passiv gewirkt wird, aber ihre Person nicht miteinbezieht. Doch das Dogma möchte das Gegenteil bekräftigen, dass Maria mit ihrer ganzen Person, mit ihrer Freiheit und ihrem Wollen, in das Heilsgeschehen ihres Sohnes Jesus Christus hineingenommen ist.
Wider die Ursünde
Das Bild der Erschaffung Evas in der Sixtinischen Kapelle zeigt, dass der Mensch ursprünglich gut geschaffen ist. Christlicher Schöpfungsglaube erliegt nicht der marcionitischen Versuchung, die Welt von Anfang an in Gut und Böse aufzusplittern und die irdische Wirklichkeit einem bösen Schöpfergott zuzusprechen. Der Mensch ist gut, auch wenn es zu einer Verstrickung in die Schuld kommt. Die Ursünde (peccatum originale) ist nicht eine ererbte Wirklichkeit, sondern die Tatsache, dass die menschliche Freiheit in sich und von ihrem Ursprung her nicht immer das sein will, wozu sie bestimmt ist. Das menschliche Leben ist dadurch gezeichnet, dass es nicht nur ein zeitlich-biologisches Kontinuum ist. Der Mensch lebt in einer Wirklichkeit, die ein prinzipielles Fundament hat, das ihn in seinem Mensch-Sein trägt. Aus dieser fundamentalen Bestimmung kann er sich als ein freiheitliches Wesen begreifen. Zur Freiheit des Menschen gehört allerdings die Macht und der Wille zum Bösen.
Seit Menschengedenken ringen Dichter und Denker darum, wie es sein kann, dass Menschen auch das tun, was sie eigentlich nicht wollen. Hier spiegelt sich theologisch gesprochen der Drang, immer wieder gegen den eigenen Ursprung zu rebellieren. Die Ursünde kann als schon immer wirkende Versuchung beschrieben werden, die Rolle des Schöpfers einnehmen und in einer absoluten Selbstbezogenheit leben zu wollen. In der menschlichen Freiheit gibt es das Moment, egozentrisch und losgelöst vom Nächsten und von Gott zu sein. In diesem Sinn ist das peccatum originale als Sünde zu bezeichnen, weil sie die Möglichkeit einer Verweigerung gegenüber der lebensspendenden Gnadenzuwendung Gottes ist. Es ist die prinzipielle Möglichkeit, dass der Mensch zu Gott Nein sagen kann, um sein Glück außerhalb des Bundes mit ihm zu finden. Die Ursünde besteht in der absoluten Verneinung gegenüber der Gnade Gottes.
Der Glaube, dass das Leben Mariens von der Ursünde frei war, ist Zeugnis dafür, dass ein Mensch dem Anspruch Gottes mit seinem Glauben antworten kann.
Fast möchte man im Blick auf die Ursünde fragen, wer dann noch gerettet werden könne (Mt 19,25), wenn es diesen prinzipiellen Hang zur Verweigerung gegenüber Gott gibt. Doch gegen solchen Fatalismus steht die Verheißung Gottes und seiner Zuwendung zu allen Menschen. Für Gott ist alles möglich (Mt 19,26), und mit ihm für den Menschen. Das Leben Mariens, das im Glauben Israels verwurzelt ist und unter der Verheißung Gottes steht, ist Bild für die heilmachende Gnade, die Gott schenkt. Ihr ganzes Leben ist Prophetie der Erwählung und der Berufung durch Gott. Ist die Ursünde das allgemeine Prinzip der Verweigerung und Vereinzelung, so ist die Gnade die Zuwendung Gottes zum Menschen. Der Glaube, dass das Leben Mariens von der Ursünde frei war, ist Zeugnis dafür, dass ein Mensch dem Anspruch Gottes mit seinem Glauben antworten kann. Das Ja-Wort Mariens ist nicht eine Folge eines Zwanges, dem sie untersteht. In voller Freiheit und mit ganzem Wollen stimmt sie ein, dass das Wort Gottes durch sie Fleisch werden kann.
Eine Lebenshaltung der Offenheit des Herzens
Göttliche Gnade und menschliche Freiheit stehen nicht in Konkurrenz, sondern kommen in einem Bestimmungsverhältnis zusammen. Gnade ist keine Notwendigkeit und lässt sich in kein Schema von "wenn-dann" pressen. In der Begegnung der menschlichen Freiheit mit der göttlichen Gnade wird ein Wirklichkeitsraum eröffnet, in dem die menschliche Freiheit nochmals neu zur Wirkung kommen kann und eine neue Größe erlangt. Es steht die Übermacht der Gnade gegen die eigentliche Ohnmacht der Ursünde, ohne dass damit die menschliche Freiheit aufgehoben würde. Maria erfährt im Wort Gottes die Gegenwart der Gnade, auf die sie in ihrer Freiheit reagiert. Ihr Ja-Wort ist nicht nur ein willentlicher Akt, sondern die Übergabe ihres Lebens in die gegebene Gegenwart Gottes. Das Leben Mariens ist und bleibt durch ihr andauerndes Ja-Wort von der Zuwendung Gottes getragen. Nur so kann sie Gottesmutter werden, die den Weg ihres Sohnes bis zum Kreuz geht und als mater dolorosa im Moment des größten Schmerzes bei ihm bleibt.
Das Frei-Sein von der Ursünde ist nicht nur ein zeitliches Moment im Leben Mariens. Es ist die Lebenshaltung und Offenheit ihres Herzens, die sie von der Verstrickung in den ursprünglichen Unheilszusammenhang befreit. Nicht die Konzentration auf das eigene Ich und die selbsterbrachte Leistung ist Prinzip und Fundament in ihrem Leben, sondern die exzentrische Haltung auf das Wort Gottes. Maria ist Gottesmutter in und mit ihrer ganzen Person. Sie vertraut in ihrem Leben darauf, dass ihr die Gegenwart Gottes alles schenkt. Mit dieser Gottesgegenwart in ihrem Leben vollzieht sie die höchstmögliche menschliche Freiheit. Sie ist "voll der Gnade" (Lk 1,28) und lebt mit der Gnade. Auf die radikale Offenheit Mariens und ihr Ja-Wort spricht Gott sein definitives Ja in Jesus Christus (1 Kor 1,20). Das ist die unwiderrufliche Tat Gottes, die nicht ohne menschliche Zustimmung gekommen ist. Gottes Handeln in der Geschichte ist nicht dadurch bestimmt, dass er sich in seiner Allmacht daran bindet, nicht zu handeln. Seine Tat besteht im Wirken seiner Gnade am Menschen und zugleich mit den Menschen. Darum hat die Sünde keine Macht über die Menschen, sondern kann durch den lebenspraktischen Mitvollzug mit der Gnade überwunden werden.
Die Jüdin Maria verbindet Alten und Neuen Bund und zeigt mit ihrem ganzen Leben, dass Anfang und Ende, Schöpfung und Vollendung, von der Gnade Gottes bestimmt und ermöglicht werden.
Michelangelo malt Eva in anbetender Haltung, Maria ist die, die diese Anbetung Gottes ohne den vorauswerfenden Schatten der Ursünde anstimmen kann: "Meine Seele preist die Größe des Herrn und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter…" (Lk 1,47ff.) Das Lied, das das Motiv der Errettung des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten aufnimmt, kann Maria Gott singen, weil sie aus der Verheißung des Volkes Israel lebt, diese in ihrem Leben darstellt und das Heilswirken Jesu in den Horizont des Volkes Israel einzeichnet. Maria, die virgo israelitica, wie Augustinus sie nennt (c. Faustum Mani. 16,21), lebt die Berufung, die Gott seinem Volk von Anfang angeboten hat und immer wieder erneuert. Die Gnade überbietet in Jesus Christus nicht die Tora, sondern findet in ihm ihre Bestimmung, die Tora und Evangelium gleichermaßen umfangen.
Maria spricht ihr freies Ja-Wort nicht allein für die Kirche, sondern ebenso für das Volk Israel. In ihr erscheint das erneuerte Israel (vgl. Jer 31,2-6), das sich Gott als sein Volk bereitet, damit eine Zukunft des Lebens eröffnet wird. Maria ist das Geschöpf Gottes, das der Verheißung treu bleibt und sich die Weisung Gottes in ihr Herz schreiben lässt. Sie trifft die Zusage, dass der Herr nicht mehr an ihre Sünden denkt (vgl. Jer 31,31-34). Das Wirken der Gnade Gottes bewahrt Maria und erwägt alles in ihrem Herzen (vgl. Lk 2,19). Die Verheißung sowie die Ermöglichung, mit der Gnade zu leben und in Freiheit darauf zu antworten, bestimmen das Leben Israels und der Kirche zugleich. Die Jüdin Maria verbindet Alten und Neuen Bund und zeigt mit ihrem ganzen Leben, dass Anfang und Ende, Schöpfung und Vollendung, von der Gnade Gottes bestimmt und ermöglicht werden.
Eschatologischer Ausblick
Michelangelo hat mit seinem Jüngsten Gericht, so könnte ihm vorgehalten werden, die Typologie von der Erschaffung der Eva und der neuen Eva in Maria Immaculata aufgehoben. Allerdings darf das Dogma der unbefleckten Empfängnis Mariens nicht nur schöpfungstheologisch gelesen werden. Es hat ebenso einen eschatologischen Ausblick. Mit der Zuwendung Gottes zu den Menschen in seiner Gnade soll nicht einfach der paradiesische Urzustand wiederhergestellt werden. Das Ja Gottes in Jesus Christus, dem das Ja-Wort des Menschen Maria entspricht, zielt auf eine Vollendung, die durch das Gericht gegeben wird.
Das Dogma der unbefleckten Empfängnis macht deutlich, dass sich Gnade nicht in menschlicher Freiheit auflöst, und dass sich der Glaube an Gottes Verheißung in einer Offenheit für Gott und die Welt erweisen muss.
Das Fest des Gedenkens an das Zusammenspiel von Gnade und Freiheit in Maria wird alljährlich im Advent begangen. Maria hat in Freiheit alles von Gott erhofft und erwartet. Nichts anderes meint eine adventliche Haltung, das Kommen Gottes aus der eschatologischen Zukunft in unsere Gegenwart herein zu erwarten. Gott kommt uns von der Vollendung her entgegen. Darum ist jedem gnadenvollen Handeln ein apokalyptischer Zeitindex eingezeichnet. Die Zeit darf sich nicht selbst genügen, sondern sie muss stets für das Kommen Gottes offengehalten werden. Dies fordert das menschliche Handeln heraus, dass die Opfer der Geschichte sich nicht selbst überlassen werden. Auch sie dürfen jetzt bereits das Ja Gottes zu seiner Schöpfung und seine Gerechtigkeit erfahren.
In Übermalung der Immaculata durch den Parusie-Christus in der Sixtina ist die Deckungsgleichheit der Gegenwart Gottes in seiner Gnade mit dem Richten der Welt durch seine Wahrheit künstlerisch festgehalten. Das Dogma der unbefleckten Empfängnis macht deutlich, dass sich Gnade nicht in menschlicher Freiheit auflöst, und dass sich der Glaube an Gottes Verheißung in einer Offenheit für Gott und die Welt erweisen muss.