Von Pontius zu Pilatus
Die Ströme dieser Überlieferung des biblischen Wortes teilen sich in zwei Richtungen: der erste, älteste führt von den altorientalischen Ursprungskirchen des Christentums zur südost- und osteuropäischen Orthodoxie – der zweite, jüngere nimmt seinen Ausgang von Rom und entfaltet sich im Westen, Südwesten und Norden Europas, bei den romanischen, germanischen und westslawischen Völkern. Beide Überlieferungen weisen gemeinsame Züge auf: neben dem Grundvorrat der biblischen Texte sind charakteristisch vor allem die großen Liturgiesprachen: im Osten das Griechische, daneben das Syrische und Ägyptische; später das Altbulgarische (Kirchenslawische); im Westen das Lateinische. Gemeinsam ist auch die Wirkung der östlichen und westlichen Liturgiesprachen auf die Volkssprachen, wenn auch die Akzente im Osten und im Westen unterschiedlich sind: Während im Osten die Liturgie von Anfang an ein breiteres Spektrum kultureller und ethnischer Verschiedenheiten in sich aufnimmt, ist im Westen das Lateinische über Jahrhunderte hin ein Fundament nicht nur der Liturgie, sondern auch der Literatur – erst relativ spät setzen hier die nationalsprachlichen Differenzierungen ein.
Ernst Robert Curtius hat in seinem Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948) diese Zusammenhänge für den Westen, Süden und Norden Europas herausgearbeitet; er hat gezeigt, dass die nationalsprachlichen Literaturen (West-)Europas überall auf den Fundamenten und Gewölben der lateinischen Literatur stehen. Die ergänzende Studie für den Osten Europas und seine zwar differenzierteren, aber im Prinzip vergleichbaren Verhältnisse steht noch aus. Sie müsste heißen: Europäische Literatur und kirchenslawisches Mittelalter. Hätten wir sie, könnte man noch deutlicher sehen als bisher, wie Europa (und die christlich geprägte Welt im Ganzen) auf zwei Traditionen ruht – einer griechischen und einer römischen, einer altorientalisch-orthodoxen und einer westlich-lateinischen (katholisch-protestantischen) Tradition.
Deutsch lernen an der Bibel
Dass unsere Vorfahren Deutsch lernten an der Bibel – diesen Horizont muss man vor Augen haben, wenn man in der deutschen Sprach-, Gesangs- und Literaturgeschichte nach Beispielen sucht für die biblischen Quellen unserer Kultur. Ich beginne mit den Biblischen Citaten, mit denen der Oberlehrer an der Königlich-Preußischen Gewerbeschule zu Berlin, Dr. Georg Büchmann, im Jahr 1864 seine berühmte Sammlung Geflügelte Worte eröffnete. Der Mensch wird nackt geboren wie Adam, er ist keusch wie Joseph, weise wie Salomo, stark wie Simson, ein gewaltiger Nimrod, der wahre Jakob, ein ungläubiger Thomas; er ist ein langer Laban, ein Riese Goliath, ein Enakskind; er lebt wie im Paradiese, dient dem Mammon und hat Mosen und die Propheten, oder er stimmt, arm wie Lazarus oder ein blinder Tobias, Jeremiaden an, sehnt sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens, bekommt eine Hiobspost über die andere und muss Uriasbriefe bestellen, wobei er von Pontius zu Pilatus zu laufen hat. So geht das fort mit den biblischen Namen und Wendungen. Ich zitiere den Schluss: Jedenfalls müssen ihm der Text, die Epistel und die Leviten gelesen werden, damit er den alten Adam ausziehe und er nicht länger wie in Sodom und Gomorrha lebe, in ägyptischer Finsternis und babylonischer Verwirrung. Doch wie dem auch sei, er sehnt sich danach, alt zu werden wie Methusalem, und wenn es mit ihm Matthäi am letzten ist, wird er aufgenommen in Abrahams Schoß.
Insbesondere die Deutschen haben an der Bibel deutsch gelernt. Die Sprache unserer Vorfahren war zu der Zeit, als sie Christen wurden, noch so ungelenk, so »unbetwungen« (Straßburger Pilatus), dass sie zur Erklärung und Verdeutlichung biblischer Sachverhalte immer wieder auf das Lateinische zurückgreifen mussten. So wechseln in der frühen Geschichte unserer Dichtung althochdeutsche und lateinische Perioden miteinander ab. Der Germanist Andreas Heusler hat diesen immer wiederholten Anlauf auf die Kurzformel gebracht: deutsch = germanisch + christlich.
Es dauert lange, bis die Bibel wirklich ein Teil der deutschen Sprache wird; es dauert lange, bis sich literarische Formen bilden, die mit den lateinischen wetteifern können. Als Brücke der Aneignung dienen zunächst die großen biblisch-liturgischen Überlieferungen: Psalmen, Hymnen und Evangeliendichtungen, die Schritt um Schritt ins Deutsche hineingeholt werden (in anderen Sprachen, anderen Nationen ist es ähnlich); in einigem Abstand entwickeln sich dann eigene volkssprachliche Formen der Predigt, des Kirchenliedes, der geistlichen Spiele; und hinzu kommen die Verse und Erzählungen, die sich im Geflecht des Kirchenjahrs entwickeln – nicht zu vergessen die realistischen Stiltraditionen, die sich in allen Literaturen mit der Ausbreitung des Christentums entwickeln. Denn die christliche Botschaft – erzählt von einfachen Leuten in einfacher Sprache – macht ja all das ernsthaft und damit literaturwürdig, was im antiken Stilkanon höchstens ins komische Fach gehörte: Geschichten von ganz gewöhnlichen Menschen – darunter diejenigen vom Wanderprediger und Wundertäter Jesus.
Psalmensprache
Die dichteste Kontinuität zwischen Überlieferung und neuen Formen, auch zwischen jüdischer und christlicher Überlieferung, herrscht ohne Zweifel in der Psalmensprache. Die Psalmensprache ist so etwas wie die universelle Grammatik religiös inspirierter jüdischer und christlicher Dichtung. Zugleich haben wir hier eine der ältesten Formen der Verbindung von Sprache und Musik vor uns; denn die Psalmen waren ja Lied, Dichtung und Gebet in einem und wurden in mündlicher Tradition auch musikalisch überliefert.
Der Psalter enthält Stücke aus einer Entstehungszeit von fast einem Jahrtausend. Da die Texte von Anfang an ins christliche Gesangsund Gebetsleben einbezogen wurden, umfassen die literarischen Bestände von Gottesdienst und Stundengebet einen Zeitraum von dreitausend Jahren – das ist wohl die umfänglichste Zeitspanne für ein noch in Gebrauch befindliches Textcorpus.
Auch in ihrem Inhalt berühren die Psalmen alle Erfahrungen, Gefühle, Stimmungen von Menschen: von Erhebung, Lob, Dank, Begeisterung, Jubel bis zum Ausdruck der Melancholie, der Klage und Anklage, der Zerknirschung und Verzweiflung, ja manchmal des Aufschreis und der Lästerung. Nimmt man hinzu, dass der Wortschatz alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasst (also keineswegs nur das Feld der gehobenen, hymnischen Sprache), dann wird verständlich, weshalb die Psalmensprache eine so robuste Bestandskraft, eine so unverwüstliche Dauer, aber auch eine so ungewöhnliche Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit entwickelt hat. Auch die Eindeutschungen umspannen ein breites stilistisches Spektrum: vom Pathos bis zum bewusst Alltäglichen, vom Hymnischen bis zum Prosaischen; man denke an Martin Luther, aber auch an neuere Übersetzungen: Martin Buber (1966), Romano Guardini (1949), Arnold Stadler (1999).
Nachdichtungen
Aber die Psalmen der hebräischen Bibel sind nicht nur übersetzt worden – sie gaben auch immer wieder den Anstoß zu Nachdichtungen, Paraphrasen und Parodien. Zu den ältesten christlichen Nachdichtungen gehören so bekannte Stücke wie das Magnificat, das Benedictus, das Nunc dimittis des Simeon an Mariä Lichtmeß – sie wurden psalmodisch im Gottesdienst gesungen, ähnlich dem synagogalen Vortrag respondierend: auf einen oder mehrere Verse des Vorsängers antwortete die Gemeinde mit einem Refrain. Abschnitte des Messrituals wurden von Formen der Psalmodie begleitet: Introitus, Graduale, Tractus, Offertorium, Communio.
Ist der Psalter im ganzen Mittelalter in seiner lateinischen Form gegenwärtig (in Osteuropa in seiner griechisch-kirchenslawischen), so tritt er in den Kirchen der Reformation (und später auch in der katholischen Reform) in die modernen Nationalsprachen über. Martin Luther hat allein drei vollständige deutsche Psalter erstellt, der Psalter war ihm, gut augustinisch, eine »kleine Bibel«. Luthers Psalmlieder sind zum Modell des reformatorischen deutschen Kirchenliedes schlechthin geworden – man denke nur an Lieder wie »Aus tiefer Not schrei ich zu dir« – oder an »Ein feste Burg«, das zweite eine christlich-eschatologische Paraphrase auf Psalm 46,2–8.
Aber auch in Frankreich ist der Hugenottenpsalter von Clément Marot und Théodore de Bèze (1533) zum Muster eines die Volkssprache und den Choral neuer Art verbindenden französischen Kirchenliedes geworden, einer Schöpfung, die freilich in der überwiegend katholischlateinischen Umwelt isoliert blieb, während sich die angelsächsischen und skandinavischen Länder mehr dem lutherischen Vorbild anschlossen.
Kunstlose Evangelien
Berühren wir mit den Psalmen Überlieferungen in gebundener Sprache, so bieten die Texte des Neuen Testaments überwiegend schlichte Prosa dar. Auch dieser Sprachimpuls ist formgebend geworden in der Geschichte unserer Kultur.
Als die Evangelien sich in der spätantiken Welt verbreiteten, stießen sie bei den Gebildeten zunächst auf Widerstand. Der Grund: Sie waren einfach, kunstlos. Sie handelten von ganz gewöhnlichen Menschen: Fischern, Zimmerleuten, Zöllnern, Dirnen, Wanderpredigern und Frauen. Das waren alles Menschen, die nach den Gesetzen der antiken Poesie kein Schicksal hatten und daher auch nicht in ernsten Formen (Tragödie, Epos) behandelt werden konnten – allenfalls die Komödie bot sich an.
Als Stilgesetz galt nämlich (und war wirksam bis ins 18. Jahrhundert): Nur die Großen haben Schicksale, nur ihr Leben kann Gegenstand ernsthafter Dichtung sein. Also ein Kaiser, ein König, ein Statthalter, allenfalls ein römischer Hauptmann – aber nicht die kleinen Leute. Doch nun erlebt man in den Evangelien das Erstaunliche, dass diese »Großen« eher am Rande liegen und dass sie dort, wo sie in den Mittelpunkt rücken, eine ziemlich schlechte Figur machen. Den Kleinen dagegen »ist es geoffenbart«, sie werden aller Erfahrungen, Erlebnisse und Wunder gewürdigt, aus denen der Stoff von Dichtung gemacht ist. Also eine Umwertung aller ästhetischen Gesetze – das Kleine wird groß, das Große klein! Es handelte sich auch nicht um Kunstprosa, sondern um Erzählungen einfachster Art. »War das überhaupt Literatur?«, so fragten viele.
Unter den Argumenten der Vertreter antiker Religionen gegen das Christentum wiederholt sich immer wieder der gleiche Vorwurf: Die Evangelien seien kunstlos, poetisch unerheblich, eine Literatur für Illiterate. Das würde uns heute zwar wenig berühren, wir leben ja in einer Atmosphäre, wo das Kunstvolle, Rhetorische eher Verdacht erregt. Aber in der Antike war es anders: Was nicht von großen Figuren handelte und was nicht künstlerisch geformt war, das existierte nicht. Geschichten von Fischern auf dem See, von Predigten und Wundern, von Gastmählern in Hinterhöfen, von Wanderungen und religiösen Streitigkeiten – das war nichts, was sich auch nur von fern den Epen Homers oder den Eklogen Vergils an die Seite stellen konnte.
Bibelrhetorik
Gegen diesen Bannspruch bauen nun die christlichen Theologen eine Gegenstrategie auf. Man pflegt sie abkürzend mit dem Begriff der Bibelrhetorik zu kennzeichnen. Der Gedanke ist ebenso einfach wie bestechend: Erstens gibt es in den Evangelien – noch mehr in den Briefen und der Apostelgeschichte – durchaus rhetorisch geglückte Passagen, man muss sie nur entdecken und würdigen. Und wenn solche Passagen zu fehlen scheinen, muss man fragen: Liegt das nun an den christlichen Autoren oder vielleicht an denen, die sie, befangen von antiken Stilregeln, falsch lesen und interpretieren? Würden sie nämlich unbefangen und unvoreingenommen die biblischen Texte ansehen, so würden sie darin etwas entdecken, was man als eine neue, bisher unbekannte Rhetorik, eben als Bibelrhetorik, bezeichnen könnte: Schlichtheit, Simplizität, Klarheit, Entschiedenheit – ein raffiniert verborgenes Gegenprogramm zu den pompösen Aufdringlichkeiten, den Stilblüten und Versatzstücken der bisherigen Rhetorik.
Von daher konnte die christliche Sprechund Schreibweise als ein neues Programm der Mimesis verstanden werden: Nachahmung der Natur und der Geschichte in der ganzen Breite, ohne Standesschranken und -begrenzungen, in enger Beziehung zu allen Menschen und Schicksalen, den größten wie den einfachsten. Und tatsächlich begann sich ja auch in der Spur der christlichen Verkündigung eine realistische Literatur zu entwickeln – eine dargestellte Wirklichkeit, die von den Evangelien bis zum modernen Roman reicht. Erich Auerbach hat sie in seinem Buch Mimesis (1946) eingehend analysiert.
Wenn aber in den Evangelien selbst der Keim einer neuen (realistischen) Ästhetik steckte, dann war auch der Stoff der biblischen Geschichte literaturwürdig. Dann konnte es Evangelien-Harmonien, Evangelien-Erzählungen, Evangelien-Dichtungen geben – in Prosa und metrischer Sprache, in epischer und dramatischer Form, in den Genres der Tragödie und der Komödie. Und so geschah es auch: Die antike Tragödie lebte weiter in der christlichen Passion. Ostererzählungen und Osterspiele entfalteten komödienhafte Züge. Rund um Weihnachten entwickelten sich idyllische und pastorale Formen wie in der alten Schäfer- und Hirtendichtung. Ein Weltgedicht wie das Dantes konnte sich Commedia nennen – eine Göttliche Komödie, da der gute Ausgang trotz all des Schrecklichen, das wir erleben, gesichert war. Und Miltons Verlorenes Paradies, das den Sturz der Engel und den Sündenfall der Menschen zeigt, wird eingeholt vom Paradise regained, vom wiedergewonnenen Paradies.
Trotz des gekreuzigten Gottes, trotz der Leiden, die seinen Jüngern prophezeit sind, hebt die Auferstehung und die Belohnung der Guten im Jüngsten Gericht die Evangelien ins Licht fröhlicher Zuversicht. Nicht zufällig ist aus dem Mittelalter der Brauch des Risus paschalis, des Osterlachens, bezeugt. Die tragische Spannung antiker – auch germanischer und sonstiger – Mythologien weicht einer komödiantischen Ausgelassenheit. Der Teufel ist am Ende der Verlierer. Der Mensch, der seine Zuversicht auf Gott setzt, gewinnt. Das Evangelium ist eben kein Dysangelion, keine schlechte Nachricht – es ist eine Frohbotschaft. Verzweiflung oder heroisches Sich-Schicken in ein den Menschen übersteigendes Verhängnis haben in ihm keinen Platz.
Die Aneignung des Mythos
Wir erinnern uns an dieser Stelle daran, dass die Christen durch Jahrhunderte als eine Minderheit in mehrheitlich anders verfassten Gesellschaften lebten. Jüdische, griechische, römische und später germanische Einflüsse wirkten vielfältig auf sie ein. »Das Christliche« begegnet uns nur in seltenen Fällen rein und unvermischt – wir treffen es in vielen Mischungen und Brechungen an. Das gilt besonders für die Künste, in denen viele antike Überlieferungen in christlicher Umgebung weiterleben.
Vereinfacht könnte man sagen: Der antike Mythos wird im Christentum philosophischtheologisch überwunden; die Heilsbotschaft, der göttliche Logos als eine durch Zeugen bestätigte Wirklichkeit wird dem gegenübergestellt, was der 2. Timotheusbrief, der Titusbrief und die Apostelgeschichte abwertend die Fabeln – mythoi – der Heiden nennen. Aber gleichzeitig wird der aus dem Zentralbereich des Denkens vertriebene Mythos bildlich, poetisch, ästhetisch und pädagogisch in größter Breite rezipiert – mit intensiven, lang anhaltenden Wechselwirkungen. Die antiken Mythen hatten sich, nach Schließung der Tempel durch die christlichen Kaiser, in die Theater zurückgezogen – diese waren die letzten massenmedialen Formen antiker Religiosität. Das alles gab den Stoff her für langdauernde Aneignungs- und Einschmelzungsprozesse, für eine umfassende Um- und Neudeutung antiker Mythen und Symbole in christlichem Geist – ein Prozess, der schon in der altchristlichen Literatur einsetzt, sich in den Renaissancen des Mittelalters steigert und seinen vorläufigen Abschluss im christlichen Humanismus des 14.–16. Jahrhunderts erreicht.
In dieser Zeit wird ein immenses Bild-, Symbol- und Sagenmaterial in christlichen Kontexten neu gedeutet und geordnet. Vieles Anstößige aus alten Mythen wird durch Allegorese entschärft und dem Verständnis der Gläubigen zugänglich gemacht. In sorgfältig gewahrter rhetorisch-pädagogischer Distanz werden die antiken Götter und Helden neuerlich sichtbar – ein mythologischer Hofstaat rings um den christlichen Gott; das reicht von der Aneignung des Orpheus-Mythos im alten Christentum bis zu dem umfangreichen antiken Personal, das die Commedia Dantes versammelt, von frühen Darstellungen Christi als Steuermann im Lebensschiff nach Homer bis zu den Versuchen von Theologen und Philosophen des 16. Jahrhunderts, heidnische Religionen als gesunkene Abbilder der paradiesischen Urreligion zu deuten. Einfache Symbole werden christlich abgewandelt: der Fisch, der Vogel, die Schlange, der Phönix, der Pelikan; Christus erscheint als Hermes, Helios, Odysseus, als der Immerwache am Kreuz, als der, der im Tod nicht entschläft, als Sol invictus. In Propheten-, Engels- und Heiligengestalten wirken Elemente des Mythos nach: man denke an Jonas, an Michael, an Georg, an Christophorus, an heilige Helden, Drachentöter und Seelenführer.
Christliche und antike Kunst
Die hier vorgetragenen Überlegungen führen zu einem Paradox: Formen des Schönen hat das Christentum erst entwickeln können, als es sich die künstlerischen Überlieferungen seiner heidnischen Umwelt zu eigen machte – sie verändernd, verwandelnd, umdeutend, aber sie doch auch pflegend und fortführend als Erbe der Vergangenheit. Doch der hartnäckige Mythos ließ sich nie gänzlich auflösen im Logos der Offenbarung – er bewirkte, dass das Provozierende, Extreme der christlichen Botschaft immer wieder geglättet und abgeschliffen wurde zu einem oft sehr weltlichen Humanismus. Dann obsiegte das »Verteufelt-Humane«, um mit Goethe zu sprechen, über das, was nicht nur die Weimaraner als »Glaubensqualm« empfanden, als dumpfe Last von »Tod, Kreuz und Gruft«. Umgekehrt: Wenn das Christentum die Leiden der Welt auf sich zog und in Demut und Verzicht »allen alles« zu werden anstrebte – musste es dann nicht notwendig ebenso auf Gestalt und Schönheit verzichten wie der vom Propheten verkündigte Menschensohn?
Man hat aus diesem Dilemma verschiedene Auswege gesucht. Wilhelm von Humboldt hat in seiner Abhandlung Über das Studium des Alterthums (1793) Antike und Moderne, die Griechen und die Neueren als eigene, nicht wechselseitig auflösbare, jedoch sich ergänzende Charaktere gegenübergestellt. Er sprach von einem »nicht zu lösenden Widerstreit«: »Einen sehr anschaulichen und klaren Begriff des Unterschiedes zwischen beiden giebt die Frage: was gelang den Griechen und was den Neueren so vorzugsweise, dass die einen und die andern es niemals erreichten? Und hier ist die Antwort: Bildhauerei und Musik. Zur Plastik der Alten haben die Neueren nie das Mindeste hinzuzusetzen versucht, der einzige Michel Angelo versuchte nur, und vielleicht ohne es zu ahnen, einen neuen Stil, und die schöne Musik [Humboldt meint wohl: die mehrstimmige, auf Harmonik erbaute, von Instrumenten gespielte] – die schöne Musik hat das Althertum nie gekannt.« (W. v. Humboldt, Werke II, 71)
Humboldt weiß auch den Grund dafür: »Da in der Bildhauerei die Gestalt, in der Musik das Gefühl herrscht, so ist der allgemeine Charakter des Antiken das Classische, der des Modernen das Romantische, von welchem beiden jenes von der Brust aus die Welt, dieses von der Welt aus die Brust zur Unendlichkeit zu erweitern versucht. Das Classische lebt in dem Lichte der Anschauung, knüpft das Individuum an die Gattung, die Gattung an das Universum, sucht das Absolute in der Totalität der Welt, und ebnet den Widerstreit, in dem das Einzelne mit ihm steht, in der Idee des Schicksals durch allgemeines Gleichgewicht. Das Romantische verweilt vorzugsweise im Helldunkel des Gefühls, trennt das Individuum von der Gattung, die Gattung vom Universum, ringt nach dem Absoluten in der Tiefe des Ichs, und kennt für den Widerstreit, in dem das Einzelne mit ihm steht, keinen Ausweg, als entweder verzweiflungsvolles Aufgeben aller Ausgleichung, oder vollkommene Lösung, in der Idee der Gnade und Versöhnung durch Wunder. Der höchste symbolische Ausdruck von beiden ist der Mythus und das Christentum.« (ebd., 72)
Humboldt erwägt die Idee einer Vermittlung – so könne die Malerei zwischen der Bildhauerei (in der Form) und der Musik (in der Farbe) vermitteln; doch eine »eigentliche Lösung des Widerspruchs«, eine »Verbindung des antiken und modernen Geschlechts in einem neuen dritten« ist nicht möglich. – Ähnlich sieht es, wenige Jahre später, Schleiermacher in seiner 1806 erschienenen Weihnachtsfeier. Leonhardt, das pietistische Jugend-Ich des Autors, bemerkt angesichts eines für den Katholizismus schwärmenden Mädchens wegwerfend: »Und meinetwegen mag sie lieber katholisch werden mit ihrer Anwendung der Künste auf die Religion, denn ich mag das gar nicht. Ich bin als Christ sehr unkünstlerisch und als Künstler sehr unchristlich. Ich mag die steife Kirche nicht [...] und auch die armen bettelnden erfrorenen Künste nicht, die froh sind ein Unterkommen zu finden. Wenn diese nicht ewig jung, reich und unabhängig für sich leben, sich ihre eigene Welt bildend, wie sie sich die alte Mythologie unstreitig gebildet haben, so verlange ich keinen Teil an ihnen.« Zumindest in seiner Sicht bleibt es daher dabei, dass die (christliche) Religion nirgends anders sein kann als in Worten und dass die Vereinigung des Plastischen und des Musikalischen – man denke an Humboldt! – nur ein Traum bleiben muss.
Das Christentum öffnet zwar einen weiten Raum der Innerlichkeit, der erfüllt ist von Gemüt und Schönheit, von heiterer Freude an einer neuen Welt – aber es nimmt zugleich die Plastik und Sinnenhaftigkeit der äußeren Welt zurück. Es findet den unverwechselbaren Ton für ein Gefühl – daher die »großen Akkorde des Gemüts« im Christentum; aber die Gestalt der Welt verschwimmt ins Undeutliche, sie wird fern, fremd, gleichgültig. »Ich weiß nur, dass der Welt Getümmel / Seitdem mir wie ein Traum verweht, / Und ein unnennbar süßer Himmel / Mir ewig im Gemüte steht« – so dichtet Novalis (er wird in Schleiermachers Weihnachtsfeier zitiert).
Schönheit und Herrlichkeit
Heute, nach mehr als zweihundert Jahren, sehen wir diese klassisch-romantische Position in einem anderen Licht. Manches hat sich bestätigt. Aber zahlreiche neue Erfahrungen sind dazugekommen. Während Winckelmann, Goethe – und noch Nietzsche! – hofften, die Formen antiken Lebens in moderner Umgebung zu erneuern, hat die Gegenwart diesen Traum wohl endgültig ausgeträumt: Mit dem Christentum beginnt auch die klassische Überlieferung aus dem Blick der heutigen Generationen zu rücken. Wir sehen die Probleme von Christentum und Künsten nicht mehr in den Perspektiven der klassischen Neugriechen und der Romantiker – wir sehen sie auf dem Hintergrund der politischen wie künstlerischen Erfahrungen unserer eigenen Zeit. Und da ergeben sich Gesichtspunkte, die ich nur flüchtig, in wenigen Strichen, andeuten kann.
Es ist wahr: Das griechische Ideal der Schönheit und Wohlgeratenheit, der Mensch des Agon, der seinen nackten Leib der Sonne darbietet, das alles geht mit dem Christentum dahin – aber nicht deshalb, weil christlich-jüdisches Ressentiment der antiken Sinnlichkeit Gift eingeflößt hat – wie Nietzsche meinte –, sondern weil das Christentum die Menschen gelehrt hat, die ganze Welt (und nicht nur ihre idealische Oberfläche) zu sehen. Fortan gehören zu den Menschen, denen der Ruf des Menschensohnes gilt, auch die Armen, Kranken, Hässlichen, Getretenen und Gefolterten – und kein Christ sollte sich über die deformierten Menschenbilder (und Christusbilder!) der modernen Kunst wundern oder erschrecken. Wenn bei Francis Bacon Menschenfleisch wie an Fleischerhaken hängt, wenn bei Sutherland oder Beuys Menschen hilflos in tödlichen Fallen gefangen sind, wenn Herbert Falken die Verlassenheit Gottes am Kreuz in einem grässlichen Lachen spiegelt – dann ist damit nicht nur unsere Zeit der Genozidien und Verfolgungen, der millionenfachen Kainstat am Nächsten eingefangen; es wird uns auch offenbar, stärker als früher, was der Ruf bedeutet: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Aber auch die moderne Dichtung, mit ihrem gegenständlichen Realismus, mit ihrer vor nichts zurückschreckenden Nah-Sicht, ihren Ödnissen und Panoramen des Schreckens – nimmt sie nicht in vielen Zügen das auf, wovon die biblischen Erzählungen berichten: die Schicksale der vielen, nicht nur der Großen, der Beliebigen, nicht nur der Bekannten – die Entstehung einer Bewegung in der Tiefe der Alltäglichkeit? Ohne das Erwachen dieses neuen Geistes wären Werke wie die Promessi sposi Manzonis, die Romane Gogols und Dostojewskis, die Epen von James Joyce, die Romane Döblins, das Welttheater Claudels wie Becketts wohl kaum denkbar und möglich gewesen.
Und selbst die immer wieder als Gipfel der Kunst im Christentum gerühmte mehrstimmige Musik – hat sie nicht gerade im 20. Jahrhundert etwas aufgenommen von den Paradoxien der christlichen Botschaft, ihrer Innenspannung, ihrem Nicht-zu-Ende-Kommen, ihrem stetigen Weiterdrängen? Noch ein Romantiker wie Robert Schumann meinte, Dissonanzen seien ein unentbehrlicher Bestandteil der Musik – aber wir verlangten nach ihrer Auflösung. Nun, die Personanzklänge zeitgenössischer Musik, die die funktionale Harmonik abgelöst haben, sind dissonant, erscheinen aber nicht als auflösungsbedürftig. Auch hier verkörpert die in sich stehende Dissonanz (und auch andere Züge wie Monotonie, Wiederholung, Erfindungsaskese, Unabgeschlossenheit) eine neue Dimension des Musikalischen jenseits des melodischen Schönklangs und der harmonischen Beruhigung früherer Zeiten. Warum soll man nicht in ihr ein Zeichen sehen für die Ästhetik der Entäußerung, für die Möglichkeit und Unmöglichkeit der Schönheit im Christentum?
Nur wer für die Juden schreit, darf auch Choral singen
Ist es nun schön, das Christentum? Sind seine Künste schöne Künste? Fügt es sich bruchlos in die Geschichte des Schönen als einer »augenscheinlichen Wahrheit« (Johann Joachim Winckelmann) ein?
Verbinden wir mit Schönheit die Vorstellung des Maßes, der Symmetrie, des harmonisch Ausgeglichenen, so kann das Christentum – und die in ihm entstandene Kunst – diesem Kanon wohl kaum genügen. Die abschließende Form, das selige Ruhen in sich selbst scheint ihm gänzlich fremd zu sein. Immer drängt Kunst in christlichen Zeiten über einmal gefundene Realisierungen hinaus, immer verlässt sie die schöne Endgültigkeit, die glücklich-ausgewogene Proportion. Die Gotik ist nur ein Beispiel. Können wir übersehen, dass durch die Geschichte des Christentums ein Zug der Unruhe geht, ein ständiges Transzendieren, eine Bewegung »plus ultra«?
Der Grund ist klar: Das menschliche Wort zerbricht am göttlichen Wort. Die irdische Schönheit wird aufgehoben in die größere Herrlichkeit hinein. Das Kreuz als ikonographisches Minimum christlicher Kunst durch alle Bilderstürme hindurch erinnert uns nachdrücklich an diesen Sachverhalt. Auf allen Wegen christlicher Kunst begegnen wir mit dem Schönen zugleich dem Protest gegen Schönheit, mit dem Glanz des Gelungenen und Vorbildlichen zugleich dem Ungenügen am vorgeblich Endgültigen und Abgeschlossenen.
Die Schöpfung liegt in Wehen – wie könnten dann Kunst-Schöpfungen beruhigt über den Dingen schweben? Der Mensch an der Straße wird überfallen und geplündert – wie könnte man es vergessen, während man Bilder malt und Musik komponiert? Nur wer für die Juden schreie, dürfe auch Choral singen, meinte Karl Barth im Dritten Reich; er hatte recht. Ein tatabgewandter LITURGISMUS wäre in der Tat nur eine Karikatur des ewigen Festes, das die Liturgie mit irdischen Mitteln im Spiegel und Gleichnis abbilden will.