Kontemplation – Schweigendes Beten

Kontemplation im religiösen Sinne ist schweigendes Beten. Doch nicht jede Form des schweigenden Gebets ist im engen Sinne kontemplativ.

Wie der Duft des Parfüms

Der im 12. Jahrhundert lebende Kartäuser Guigo II. unterschied vier Formen des schweigenden Gebets: die geistliche Schriftlesung, die Meditation, das (Herzens-)Gebet und die Kontemplation. Die Feinheiten dieser Unterscheidungen sind nach wie vor noch hilfreich und klärend. Vor diesem Hintergrund erscheint die Aussage, Kontemplation sei ‚ungegenständliche Meditation‘ als ungenau. Es ist weniger die fehlende ‚Gegenständlichkeit‘, durch die sich die Kontemplation von der Meditation unterscheidet, sondern eher die Art und Weise des Vollzugs. Franz von Sales, der zu Beginn der Neuzeit die älteren Quellen zusammenführte und für die kommenden Jahrhunderte prägte, veranschaulicht den Unterschied zwischen Meditation und Kontemplation durch ein eingängiges Bild: „Die Meditation ist vergleichbar mit demjenigen, der nacheinander und je für sich den Duft der Nelke, der Rose, des Rosmarins, des Thymians, des Jasmins und der Orangenblüte einatmet und verkostet. Der Kontemplative gleicht hingegen jenem, der den Duft des Parfüms genießt, das aus all diesen Blumen besteht. In einer einzigen Empfindung nimmt er die eins gewordenen Düfte auf, die der andere gesondert und getrennt wahrgenommen hatte. Ohne Zweifel ist dieser eine Duft, der aus der Mischung all dieser Düfte entstanden ist, süßer und köstlicher als die einzelnen Düfte, aus denen er zusammengesetzt ist.“

Der ruhende Blick

Kontemplieren heißt, beim Wortsinn genommen, achtsames und gesammeltes Schauen. Es geht um den geeinten und ruhenden Blick. Religionsgeschichtlich gesehen richtete sich dieser Blick zunächst buchstäblich nach oben. Kontemplation war ursprünglich Himmelsbetrachtung. Der nächtliche Sternenhimmel wurde als die sichtbare Seite von Gottes Wirklichkeit wahrgenommen, die der Verfügung des Menschen entzogen ist. An dieser Wirklichkeit partizipiert man nicht handelnd, sondern schauend. Wer sich auf sie ausrichtet, sich ihr aussetzt, wird von ihr geprägt. Ein Nachhall dieser Erfahrung findet sich noch in der Moderne: „Warum wirkt der Anblick des Vollmondes so wohltätig, beruhigend und erhebend?,“ fragte im 19. Jahrhundert Arthur Schopenhauer. Und er gibt eine Antwort, die nach wie vor gut nachvollziehbar ist: „Weil der Mond ein Gegenstand der Anschauung, aber nie des Wollens ist: ‚Sterne, die begehrt man nicht. Man freut sich ihrer Pracht.‘“ Damit ist ein wichtiger Aspekt benannt: Kontemplation ist zwecklos und gerade deshalb mit Freude verbunden. Wir erfreuen uns an dem, was in sich selbst gut und schön ist. Über dieser Freude vergessen wir uns selbst, unsere Sorgen und Nöte. Der Anblick des Vollmondes ist nach Schopenhauer wohltätig und beruhigend, weil letzterer erhaben sei und uns deshalb erhaben stimmt. Und er präzisiert mit melancholischem Unterton: Das sei so, weil der Mond „ohne alle Beziehung auf uns, dem irdischen Treiben ewig fremd, dahinzieht, und alles sieht, aber an nichts Anteil nimmt. Bei seinem Anblick schwindet daher der Wille mit seiner steten Not aus dem Bewusstsein, und lässt es als ein rein erkennendes zurück.“ In dieser Idealisierung ‚reiner Erkenntnis‘ zeigt sich die ferne Nähe kontemplativer Erfahrung zur naturwissenschaftlichen Himmelsbetrachtung. Religiös geprägte Kontemplation und wissenschaftliche Forschung haben eine gemeinsame Herkunft. Bei den Pionieren abendländischer Philosophie und Naturwissenschaft, bei Thales von Milet und Pythagoras, schwingt noch beides ineinander. Der kontemplativ-verweilende Blick nach oben lässt Gesetzmäßigkeiten erkennen, die sich einem flüchtigen Blick entziehen. Er erfreut und fasziniert. Und er bewegt dazu, sein Leben nach dieser Prägung zu formen.

Schau der ewigen Ordnung

Die biblische Tradition teilt diese Erfahrung. Auch sie sieht im Glanz des Himmels Gottes Herrlichkeit (Ps 19,2). Hier wird eine ewige Ordnung sichtbar, die sich deutlich vom Chaos der menschlichen Geschichte abhebt. Im Raum der Bibel findet diese kontemplative Urerfahrung jedoch eine andere Fortsetzung. Die Geschichte von den Sterndeutern im Matthäusevangelium erzählt von dieser Alternative. Es ist die kontemplative Schau, die die fremden Weisen auf den Weg bringt. Sie allein haben am ewigen Himmel den unscheinbaren Anfang der neuen Wirklichkeit erblickt. Und sie machen sich auf den Weg, diese Wirklichkeit auf Erden zu finden. Ihr Weg führt über Jerusalem, wo sie in ein gefährliches Stimmengewirr hineingeraten. Sie, die so genau zu sehen verstehen, lernen in Jerusalem genau hinzuhören. Was ihnen den Weg weist, ist das verheißungsträchtige Schriftwort. Anders als die Schriftgelehrten, die von der Verheißung nur wissen, aber sich nicht von ihr bewegen lassen, nehmen sich die Sterndeuter das Wort zu Herzen. Sie meditieren es und lassen sich von ihm leiten. So finden sie zum Ziel ihrer Suche. An einem wenig verheißungsvollen Ort entdecken und schauen sie das Verheißungsvolle in unscheinbarer Gestalt. Mit ihren mitgebrachten Präsenten werden sie ganz präsent am Ort, wo Gott sich geheimnisvoll vergegenwärtigt. Hier verwandelt sich ihre Himmelsbetrachtung zur Kontemplation des Himmels auf Erden, zur schweigenden Anbetung vor dem Menschgewordenen. Er geht nun dorthin, wo Gottes neue Wirklichkeit auf Erden sichtbar wurde und wird. In einem bestimmten Sinne ist diese Schau ‚ungegenständlich‘. Jesus selbst verwendet dafür das Bild des Wachens in der Nacht. Der Hausherr oder Bräutigam lässt auf sich warten, seine Ankunft verzögert sich. Die auf ihn Wartenden können ihn nicht sehen und können nichts tun – außer: präsent und aufmerksam zu bleiben, damit sie seine Ankunft nicht verpassen, um da zu sein, wenn ER kommt. Damit sie trotz der Nacht und trotz der ‚Ungegenständlichkeit‘ des Kommenden ausgerichtet bleiben, ist ihnen, wie der Braut im Hohelied, der Name des Kommenden gegeben, in dem sich die Sehnsucht nach ihm verdichten kann.

Ganz Auge und Ohr

Die kontemplative Erfahrung, die sich dadurch eröffnet, entdeckt den Kommenden als Gegenwärtigen. Wer selbst ganz präsent, ganz Ohr und Auge wird, kann gewahr werden, dass Gottes geheimnisvolle Gegenwart bei ihm ankommt und ihn wie einen bergenden Mantel umfängt. Diese Erfahrung entzieht sich dem zergliedernden Nachdenken, dem auf einzelne Blumen und Düfte ausgerichteten Meditieren, das sie vorbereiten kann. Sie ist nicht zu machen, sondern stellt sich geschenkhaft ein. Man kann sich allerdings einüben: durch schweigende Sammlung und Vergegenwärtigung der Gegenwart Gottes, durch die Ausrichtung der Achtsamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick, durch das Gebet des Herzens.

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