Eine spirituelle Datscha
Ein verlorenes schweizer Alpental. Wilde, enge Serpentinenstraßen. Links fällt der Hang ab. Wenn kein Auto fährt, hört man tief unten den gurgelnden Fluss.
Ich hatte von dem Einsiedler gehört, habe mich aber nicht angemeldet. Aber seine Nummer steht im Telefonbuch, denn er übernimmt gelegentlich auch Messfeiern im Tal, wenn der Pfarrer Hilfe braucht. Drei Tage bekomme ich ihn nicht ans Telefon. Plötzlich ist er da: „Pronto.“ Der Klang seiner Stimme ist rheinländisch, freundlich.
Ich steige tags darauf durch den Wald und über eine Wiese steil hinunter, vorbei an einer kleinen Kapelle, finde den Weg nicht gleich und lande an einem locker verriegelten Tor. Dahinter ein langer Weg zwischen Bäumen und Gebüsch. Er führt zu einem verwinkelten Steinhaus, auf mehreren Ebenen gebaut. Der Eindruck: wie eine russische Datscha. Ein nackter Kruzifixcorpus an der grauen Steinwand. Überall Grün, das wuchert. Alles sprießt, nicht nur ringsum, auch in zahlreichen kleinen Töpfchen. Nichts wird weggeworfen, alles wird wiederverwertet. Bunte Bienenkästen übereinander gestapelt. Ich rufe, setze mich auf eine Treppe und warte. Irgendwann kommt er von einer anderen Seite von seinem Arbeitszimmer, das gefüllt ist mit Büchern. Das Häuschen, vor dem ich stehe: unten die Küche, oben ein kleiner Kapellenraum. Er im karierten Arbeitshemd, Arbeitshosen. Ein markanter Kopf mit Hornbrille, kräftiger Händedruck. Ein offenes, rundes, konzentriertes Gesicht.
Seit 1989 ist er schon da. Man könnte ihn jünger schätzen, er ist aber 72. Er bittet mich an einen Tisch auf der Sonnenterasse, über eine steile Steintreppe ohne Geländer erreichbar. Er bietet gesüßten Eistee und selbstgemachtes Gebäck an.
Wie wird man Eremit?
Ist Einsiedertum Flucht? Spirituelles Aussteigertum? Was treibt ihn? Ich erfahre: Er ist kontemplativer Mönch seit 1962, Zisterzienser, man hatte ihn zu Studien der Theologie und Musik nach Rom geschickt. Als ihm dann das Mönchsleben in seiner Abtei fragwürdig wurde – die Urlaubszeit wurde verlängert, es wurden, sehr zu seinem Mißfallen, sogar Fernseher angeschafft – wechselte er 1970 zu den strengeren Trappisten. Vor 22 Jahren kam er dann hierher, in die Einsamkeit. Nein, „Aussteiger“ sei er nicht. Er liebte die Liturgie, das Gebet. Das Klosterleben war zu belastend geworden: Er war Bibliothekar, Organist, Kantor, hatte den Garten zu betreuen – zunächst Obst- und dann auch Gemüsegarten, dazu die Arbeit im Kuhstall und als Imker. Er erinnert sich noch genau: Als ihm das erste Mal der Gedanke an ein Eremitenleben kam, war er selber regelrecht erschrocken. Was mich interessiert: Wieso ging er überhaupt diesen Weg? Was hat ihn am Mönchsleben angezogen?
Mönchische Lebensform
Was unterscheidet den Mönch vom Weltchristen?
Eigentlich geht es um dasselbe: um ein Leben, das an Gott gebunden ist. Die feierliche Liturgie, das Stundengebet, das man als Mönch betet, ist Ausdruck dieser Haltung und die Intensivierung dieser Hingabe. Wir hatten im Kloster das nächtliche Stundengebet, das ich besonders geschätzt habe. Es begann um 4 Uhr morgens, später bei den Trappisten um 2.30 Uhr. Auch das mit dem Atem verbundene Jesusgebet ist mir wichtig geworden, die Aufrechterhaltung dieser Verbindung mit Gott wird da zu einem Habitus, auch bei der Arbeit. Ich finde: In der Lebensform des Mönchtums wird die Einmaligkeit der menschlichen Person besonders deutlich. Der Intimraum der Person ist ja in einem weltlichen Leben durch dauernde Kommunikation, durch ständige Ansprüche von außen auch gefährdet.
Auch im Kloster der strengen Observanz lebt man natürlich ständig mit anderen zusammen, man beschränkt die Kommunikation aber streng auf Wesentliches. Unser Abt hat es einmal so gesagt: „Hier hat jeder das Recht, nicht angesprochen zu werden.“ Ein starkes Innenleben, ein Leben der Meditation braucht den Raum der Stille.
Ist das Eremitenleben die Steigerung dieser Mönchserfahrung?
Es ist anders: Nehmen Sie das Chorgebet: Sie können im Mönchschor nicht stehenbleiben an dem, was Sie gerade anspricht im Psalm. Das Gebet läuft im Wechsel weiter. Wenn ich heute in meiner Einsiedelei Psalmen lese, kann ich jederzeit innehalten, wenn mich ein Text berührt. Ich gehe ihm nach und lese erneut, ohne auf die Uhr zu schauen, wann Essenszeit ist oder die Arbeit wartet. Wer beim Beten auf die Uhr schaut, betet nicht. Pfarrer, die heute von Termin zu Termin hetzen, müssen auf die Uhr schauen. Sie tun das sogar während sie Messe halten. Ich habe nie eine Uhr am Arm. Der Rhythmus von Gebet und Arbeit schafft aus sich ein eigenes Zeitempfinden.
Einfaches Leben
Einfacher leben – ist es das, was Sie gesucht haben?
Jedenfalls ein der Schöpfung gemäßeres Leben. Wie viele Leute sind heute krank, weil sie sich mit unnützen Dingen zumüllen, weil sie ständigem Lärm ausgesetzt sind und in einem Rhythmus leben, der ihnen selber nicht entspricht. Unser menschlicher Körper ist hineingeflochten in den kosmischen Zusammenhang. Wir haben verlernt, in dieser Entsprechung zu leben. Wir sind nicht mehr zur Stille und zu innerer Ruhe disponiert. Ein Urlaubsmonat im Jahr bringt einen nicht wieder in diesen Gesamtrhythmus. Sogar im Wald sieht man heute Menschen mit Handys am Kopf. Junge Leute stöpseln ihre Ohren zu und dröhnen sich mit Musik voll. Stunden wertvoller Lebenszeit werden vor dem Fernseher verbracht, unter einer medialen Nebelglocke. Heute, in einer durch solche Technologien bestimmten Zeit, kann man von den Mönchen zumindest dies lernen: Wer innerlich gedeihen und zu sich kommen will, braucht einen Lebensraum, der Stille atmet, um zu sich zu kommen – und schließlich auch zu Gott. Nur Stille führt in die Wahrheit. Dafür muss man auch im Alltag Zeiten aussparen.
Grenzerfahrungen
Stille – wie erleben Sie sie? Welche Konsequenzen hat sie?
Wenn ich morgens aufstehe, höre ich den Wind in den Bäumen rauschen, den Gesang der Vögel, den Bach tief unten. Ansonsten ist es vollkommen ruhig hier. Vielleicht einmal ein Helikopter über dem Tal. In einer solchen Stille, die wenig ablenkt, ist man „auf Gott geworfen“, wie es in einem Psalm heißt. Das bedeutet: Die Ungewissheit der Existenz zu akzeptieren und auf Gott zu vertrauen. Ein Einsieder erlebt ganz konkret, auch ganz hart und existentiell, unsere Abhängigkeit von Gott. „Draußen“ in der Welt erlebt man das nicht so, weil man eingewickelt ist in zeitliche Abläufe. Irgend etwas lenkt da immer ab, stets geht etwas voran, immer passiert etwas Neues. Wozu habe ich Gott nötig? Man ist abgeschirmt von ihm. Aber auch wer glaubt, sich im Leben selber helfen zu können: Immer im Leben kommt irgendwann der Punkt, wo ich mir nicht mehr selber helfen kann und wo auch kein Arzt mehr helfen kann. Viele verzweifeln und viele brauchen sehr lange, bis sie zu dem Punkt zurückfinden, wo sie ihre tiefste Abhängigkeit akzeptieren lernen. Es sind dies Erfahrungen an der Grenze. In unserer Gesellschaft sind sie weitgehend zurückgedrängt, auch verdrängt, überspielt. Das mönchische Leben ist exemplarisch für diese andere Sicht auf den Menschen.
Wie kann man diese permanente Grenzwanderung leben?
Es gibt Hinweise in der alten Mönchsliteratur. Etwa in der Geschichte von Abba Ansenios. Er hört eine Stimme, die sagt: „Fliehe und du wirst gerettet werden!“ Ansenios, ehe er Mönch geworden ist, stand in kaiserlichem Dienst in Konstantinopel. Es sind drei Aspekte, die er nennt: Fliehen, Schweigen, Ruhe. Das kann natürlich heute nicht jeder machen. „Flucht“ klingt zudem negativ. Gemeint ist: Distanz gewinnen von dem Trubel. Im alten östlichen Mönchtum wird Askese übrigens positiv verstanden: Als Weg auf ein Ziel hin, das verwandelt, als Chance zu sich, zum Eigentlichen und zugleich: zu Gott zu kommen. Das ist keine in sich selbst geschlossene Selbstverwirklichung. Der heilige Bernhard sagt einmal: „Um Gott zu finden, musst du zu dir selber kommen. Er ist in dir.”
Kann man ihn denn überhaupt noch erfahrbar machen?
Nur wenn Menschen ihre Abhängigkeit wieder bewusst wird. Wenn sie wieder lernen, etwas Größeres als sie es sind, anzuerkennen. Nichts anderes als solche Anerkennung ist übrigens das Gebet. In der Stille vor Gott konfrontiere ich mich zudem mit meiner Wahrheit: Vor Gott, das heißt: in allem Ernst. Ich mache mir und ihm nichts vor. Beim Gebet muss man sich so annehmen, wie man ist. Wer betet, erfährt etwas über sich: Gott zeigt einem, wie man ist. „Gott kennt sein Geschöpf, und er weiß, was für ein Gebilde wir sind“, so ein Psalmist.
Wieder offen werden für solche Erfahrung – darauf käme es also an?
Darin läge die Zukunft der Kirche: Sinnsuchern Angebote zu machen, die die Seele nähren! Wer Zukunft haben will, muss hellhörig sein, sensibel, offen. Im Mönchtum kommt diese Offenheit durch Kontemplation, durch inneres Hören. Das geht nicht ohne Stille, nicht ohne die Fähigkeit zum Schweigen. Schweigen heißt nicht: den Mund halten. Benedikt spricht von „taciturnitas“, was eine innere Haltung meint. Heute wird zu viel geredet. Die alten Mönche haben von „durchlöcherten Zisternen“ gesprochen, die man mit Wasser füllen kann, die aber nichts behalten.
Kirche ist heute – gerade in Deutschland – programmiert in Strukturen. Strukturen beruhen auf Zahlen, auf Statistiken, die alle morgen ein Wind wegwehen wird. Sie schaffen weder Glauben noch geistliche Atmosphäre. Und die Seelsorger? Die Pfarrer sind ständig am Reden, dauernd ist Aktion angesagt. Auch in der Messe. Das ist aber nicht der Sinn der Sache. Die Liturgie ist zwar eine Handlung, aber um zur eigentlichen Dimension vorzustoßen braucht es stille Momente.
Allein und in Gemeinschaft
Sie leben allein. Sie feiern oft auch die Messe allein. Wie kommen Sie mit der Einsamkeit zurecht?
Natürlich ist das Leben in der Einsamkeit nicht ganz einfach. Aber wo gibt es das, dass Leben einfach ist? Sicher auch nicht, wenn Sie verheiratet sind! Ich habe diese Lebensform gesucht und bin über die Jahre da hineingewachsen. Arbeit und Gebet füllen die Tage aus. Gewiss gibt es die Momente, wo ich die Einsamkeit auch bedrückend empfinde. Es sind Momente, in denen ich mich mehr als sonst denen nahe fühle, die ungewollt Einsamkeit aushalten müssen. Aber ansonsten bin ich ja nicht wirklich allein. Auch wenn ich bete oder Messe allein feiere, ist ja „mehr“ präsent: die Verstorbenen, die Gemeinschaft der Heiligen, die Engel, in deren Anrufung unser Sanctus einmündet. Und wenn ich die Psalmen lese, fühle ich mich in der Gemeinschaft all der Menschen, die sie schon vor mir gebetet haben. Auch wenn es nicht meine aktuellen Probleme sind, die hier ausgedrückt werden, andere haben sie vielleicht gerade – und ich bin überzeugt: Gott leitet auch mein Gebet dahin, wo es hingehört. Der einsame Weg war für mich auch ein Weg zu einer eigenen Intensität im Gebet.
Wovon alles abhängt
Findet man als Eremit an einem solchen Ort den inneren Frieden leichter?
Damit wird man auch hier niemals fertig. Bei den alten Mönchen gibt es eine Geschichte, die mir immer gefallen hat: Der alte Eremit kam zum Sterben, Mitbrüder besuchten ihn, um nach ihm zu sehen. Und um ihn zu trösten sagten sie, er habe ja jetzt bald sein endgültiges Ziel erreicht. Da erklärte er, der im Sterben lag: „Ich habe noch gar nicht angefangen.“
Nichts hat man für immer. Daher ist die lebendige Bindung an Gott notwendig. Das fehlt der heutigen Kirche, auch den Amtsträgern. Die sind ja großenteils nur „draußen“, nie „drinnen“, bei sich. Die entscheidende Frage ist doch: Wie stehen wir vor Gott? Ganz verbrämt hat der Papst in Erfurt diese Frage Luthers aufgenommen: Wie finden wir einen gnädigen Gott? Für mich die entscheidende Frage an die Kirche heute. Sind wir offen für diese Frage: Wie stehen wir in Wahrheit vor Gott? Davon hängt alles ab! Stellen wir uns die Frage überhaupt noch?
Immer wieder hatte er Tee nachgeschenkt, zwischendurch auch einmal den wackeligen Tisch zurechtzurücken versucht. Die Zeit hatten wir vergessen. Am Ende musste ich fast überhastet aufbrechen. Als ich das Tor am Ende des Wegs wieder zumache, verlasse ich eine ganz andere Welt. Da draußen wird die Umgebung gerade kultiviert. Er konnte, als die Terrassen noch verwildert waren, besser im Abstand leben und ruhiger arbeiten. Es soll künftig mehrere Terrassen mit Obstbäumen geben, dann wird das Ganze einen besseren Sichtschutz haben, er wird noch ungestörter sein.
Seine letzte Frage ist nicht beantwortet. Vielleicht war es auch nur eine rhetorische Frage. Dass für ihn selber alles davon abhängt, daran lässt er keinen Zweifel.